Erfindung Europas: Ergänzungen

Die Klassifikation der Familiensysteme

Todd klassifiziert Familiensysteme in zwei Dimension nach den Gegensatzpaaren Liberal/Autoritär und Egalitär/Inegalitär:Klassifikation

Zunächst betrachtet er diese Eigenschaften historisch bei Bauernfamilien vom 15. bis 19. Jahrhundert, wo sie folgende Bedeutung hatten:

Autoritär war ein Familiensystem dann, wenn ein junger Bauer nach Heirat und Übernahme eines Hofes immer noch der Autorität seiner Eltern unterworfen blieb. Empirisch messbar hat sich das in der Regel dadurch ausgedrückt, dass die Eltern auf demselben Hof wohnen blieben, den der Sohn übernommen hat. Entsprechende Geschichten um die Hofübernahme, die Unterdrückung der jungen Generation (insbesondere auch der Schwiegertochter!) durch Altbauern, die nicht „abgeben“ wollen, dürften dem einen oder anderen aus dem ländlichen Raum bekannt sein.

Liberal war ein Familiensystem dann, wenn ein junger Bauernsohn in der Regel seiner eigenen Wege ging, das Elternhaus verließ und sich einen eigenen Hof erwarb oder pachtete oder einen anderen Beruf annahm. Wenn er den Hof der Eltern übernahm, zogen diese in der Regel in einen eigenen Haushalt und sich selbst aus der Führung des Hofes zurück. Empirisch messbar (z.B. in Volkszählungen) war die getrennte Haushaltsführung.

Egalitär war ein Familiensystem dann, wenn die Kinder, insbesondere die Söhne, gleichwertig waren. Materiell hat sich das vor allem dadurch ausgedrückt, dass das Erbe der Eltern unter ihnen gleich aufgeteilt wurde. Eine typische Form dafür ist die Realteilung, bei der insbesondere das Land fortlaufend aufgeteilt wurde, so dass die Flurstücke immer kleiner wurden.

Inegalitär war ein Familiensystem dann, wenn die Söhne nicht gleichwertig waren, weil ein einziger praktisch alles geerbt hat, das sogenannte Anerbenrecht.

Karte der Familiensysteme Europas

Diese Karte stammt nicht von E. Todd, sondern ist in einer sehr lesenswerten englischen Einführung in „Invention de l’Europe“ von Graig Willy zu finden:

KarteFamiliensysteme.jpg

Die absolute Kernfamilie (gelb) war in England und anderen Nordseeanrainern sehr verbreitet[1].
Die egalitäre Kernfamilie (blau) war in Nordfrankreich und anderen von den Römern geprägten Gesellschaften verbreitet (Polen und Rumänien werden in dem besprochenen Buch nicht behandelt).
Die Gemeinschaftsfamilie (rot) dominiert in Osteuropa, kommt aber auch in Enklaven in Südeuropa vor.
Die Stammfamilie (dunkelgrün) ist sehr verbreitet, weil sie eine Grundform bäuerlicher Sozialstruktur ist, dominiert aber in Europa nur Irland, Schweden und Länder Mitteleuropas, insbesondere Deutschland. Außerhalb Europas haben auch Japan und Korea ein Stammfamiliensystem.

Zwei Farben auf dieser Karte sind in der 2×2-Matrix noch nicht erfasst:

Unter unvollständiger Stammfamilie fasst Todd Verschiedenes zusammen. Erklärtermaßen gehören dazu Regionen, in denen die Stammfamilie dominiert, aber das Anerbenrecht nicht (mehr) konsequent angewendet wird. Es könnten sich dahinter aber auch Unklarheiten oder Ungenauigkeiten verbergen. Im so kolorierten Rheinland muss man zum Beispiel die Frage stellen, ob hier nicht die Stammfamilie mit egalitären Einflüssen römischen Ursprungs koexistiert, es sich also um eine Übergangszone zwischen blauen und dunkelgrünen Gebieten handelt[2]. Es gibt andererseits in Württemberg große Gebiete, die eindeutig und ausschließlich Realteilung betrieben haben, also definitiv nicht inegalitär geprägt sind. Die fränkischen Ursprünge  als möglichen Zusammenhang zwischen Alt-Württemberg und dem Rheinland (Rheinfranken) blendet Todd weitgehend aus, was ihm auch manche deutsche Kritiker vorwerfen. Man muss im Hinterkopf behalten, dass Todd, wenn er von Deutschland spricht, stark den norddeutschen und preußischen Teil im Kopf hat, beinahe als Antithese zu Nordfrankreich. Die süd- und westdeutschen Traditionen mit ihren vielen kleinteiligen Unterschieden unterschätzt er dabei offensichtlich. Dabei könnten sie in seinem eigenen Denkmodell einen Schlüssel zum Verständnis liefern, warum die Bundesrepublik von 1949 bis 1990 erheblich anders verfasst (beispielsweise: frankophiler) war als das preußisch dominierte Kaiserreich von 1871-1918 und auch das wiedervereinigte Deutschland nach 1990.

Die endogame Gemeinschaftsfamilie unterscheidet sich von der Gemeinschaftsfamilie dadurch, dass Ehen vorzugsweise im weiteren Verwandtenkreis geschlossen werden. Alle traditionellen europäischen Familiensysteme sind exogam, meiden also Heirat im Verwandtenkreis. Endogamie ist traditionell in den Familiensystemen der islamischen Welt verbreitet, z.B. arabischen und türkischen, aber auch im jüdischen Familiensystem, das aber nach Todd ansonsten ein Stammfamiliensystem ist.

Bedeutung der Familiensysteme

Das Familiensystem ist für Todd ein wissenschaftliches Lebensthema. Er sieht es als etwas wie die Mikrostruktur einer Gesellschaft, die mit unendlich vielen kleinen Prägungen festlegt, was ihre  Bürger als gerecht oder normal empfinden. Wer von klein an erlebt, wie in der Familie einer alles erbt und die anderen leer ausgehen, empfindet das dann auch im Großen als gerecht. Wer eine Gleichverteilung des Erbes verinnerlicht hat, empört sich leicht auch über andere Ungleichheiten zwischen Menschen. Die Unterschiede mögen bei jedem Einzelnen schwach wirken, würden aber in einer Gesellschaft mit ihren vielen ähnlich denkenden Mitgliedern in Summe eine enorme Kraft entfalten, wenn es um die Akzeptanz großer, politischer Entscheidungen gehe.
Die so gebildeten politischen Überzeugungen einer Gesellschaft seien sehr zählebig und überlebten auch eine Änderung der ursprünglich prägenden informellen Erbregeln durch eine gesetzliche Festlegung. Insofern sei es kein Zufall, dass England eine liberale, marktwirtschaftliche politische Ordnung hervorgebracht habe, während es in Italien, Portugal und Frankreich starke und regionale kommunistische Bewegungen gegeben habe, die sich am russischen Vorbild orientierten. Die Sozialdemokratie Deutschlands habe einen ganz anderen Charakter als die Labour Party in England, weil beide in einer inegalitären Gesellschaft entstanden seien, die Sozialdemokratie zusätzlich in einer autoritären, Labour dagegen in einer liberalen, die eine durchorganisierte und staatsgläubige Sozialdemokratie nicht toleriere.

Folgende Tabelle gibt einen sehr groben Überblick über die tendenziellen politischen Orientierungen der vier Haupt-Familiensysteme Europas:

Family-Character.jpg

(übernommen aus der sehr lesenswerten Buchbesprechung von Craig Willy)

[1] Unter anderem auch in Ostfriesland, was möglicherweise erklärt, warum die Ostfriesen in Deutschland als anders oder leicht merkwürdig angesehen werden.
[2] Frage: inwieweit hängt das sprichwörtliche Spannungsverhältnis zwischen Rheinländern und Westfalen mit solchen Unterschieden zusammen?

Erfindung Europas: Europäer und Immigranten

Übersetzung aus dem Buch “L’invention de l’Europe” von E. Todd
Schlusskapitel

Europäer und Immigranten

Das Verschwinden der Makro-Ideologien bedeutet nicht die Auslöschung der fundamentalen Werte von Freiheit und Autorität, von Gleichheit und Ungleichheit. Ursprünglich von den Familienstrukturen getragen strukturieren diese Paare antagonistischer Werte weiterhin zahlreiche soziale Haltungen und organisieren das konkrete Funktionieren der Gesellschaften, nicht nur ihre Träume. Das Verschwinden des Sozialismus zieht nicht das Verschwinden von sozialen Klassen nach sich, das Verschwinden des Nationalismus bedeutet nicht das Verschwinden der Nation. Allein das Verschwinden des Himmelsreiches löst die Gemeinschaft der Gläubigen, die christliche Gruppe, auf. Die Arbeiter- und nationalen Gruppen bestehen weiter als objektive Entitäten, die durch den Beruf und durch die Sprache definiert werden.
Die Untersuchung der industriellen und politischen Transformationen der Jahre 1965-1990 hat die Fortdauer eines autoritären Zuges in bestimmten Gesellschaften zum Vorschein gebracht, der in der Lage ist, den Rückzug der Industrie zu bremsen, das Parteiensystem und die Liebe zum Staat zu stabilisieren, in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz und, was allein die Domäne der Politik angeht, in Italien und Schweden. Die Veränderungen der Jahre 1965-1990 offenbaren in anderen Gesellschaften die Fortdauer eines liberalen Zuges, der als Katalysator sozioprofessionelle oder politische  Entwicklungen besonders schnell macht, in Großbritannien, in Frankreich, in Dänemark, in Spanien, in den Niederlanden. Die Werte von Autorität oder von Freiheit, die die postindustrielle Moderne anführen, werden wahrscheinlich nicht mehr allein von den Familiensystemen getragen. Die Familie spielt eine Rolle, aber man kann vernünftigerweise einer Institution, die so sehr von demografischen Krisen geschüttelt wird, keine übertriebene Fähigkeit zur Transmission zusprechen. Die Schule, die Nachbarschaft und die Unternehmen dienen auch als Mittler. Man kann eine Diffusion der traditionellen Werte in die Gesamtheit des sozialen Körpers postulieren. Die ideale Gesellschaft, die endlich realisiert wurde, ist ebenso sicher durch diese Werte strukturiert wie die erträumte Gesellschaft  der Sozialisten, der Nationalisten oder der Christen.

Zum Abschluss dieses Buches habe ich mich entschieden, das dauerhafte Wirken dieser Werte in einem zentralen Bereich zu beobachten, dem der Einwanderung. Die Begegnung mit dem Fremden, der von draußen kommt, zwingt die vielfältigen europäischen Gesellschaften zu einer Selbstbestimmung. Europa, das demografisch durch seine geringe Fruchtbarkeit niedergedrückt wird, braucht Einwanderer. Die Beibringung von Fremden auf seinen Boden ist eine der Bedingungen für sein Überleben. Alle europäischen Gesellschaften werden in den kommenden Jahren für die Einwanderer eine soziale Eingliederung der einen oder anderen Art definieren, ihren Status in der Gesellschaft definieren müssen. Die Fremden sind meistens Arbeiter. Ihr Alphabetisierungs- und Qualifikationsniveau erlauben im Allgemeinen keine Eingliederung auf einem höheren Niveau der sozialen Struktur. In genau dem Moment, wo die Ideologien verschwinden, die vom Proletariat und von der Nation träumen, stellt das Niederlassen neuer Menschengruppen ganz konkret einige wesentliche Fragen, die die Definition der Klasse und der Nation betreffen. Die Geschichte könnte nicht listiger, boshafter oder perverser sein.

Die von den verschiedenen europäischen Gesellschaften gegebene Antwort ist nicht einheitlich. Sie hängt einmal mehr von den traditionellen Werten von Freiheit oder Autorität, von Gleichheit oder Ungleichheit ab. Die Wahl der drei Großen der Immigration in Europa – Frankreich, Deutschland und Großbritannien –  ist verschieden und diese Verschiedenheit spielt in einem neuen oder sogar künftigen Bereich wieder die unendliche Partie der Unterschiede zwischen europäischen Kulturen durch. Werden die Einwanderer frei und gleich sein? Werden sie eine abgetrennte Kategorie, ein Stand des Ancien Régime sein, das im Herzen der postindustriellen Gesellschaft wiederbelebt wird? Werden sie frei, aber verschieden sein? In der Annäherung an das Jahr 2000 scheinen die postindustriellen Gesellschaften den anthropologischen Zwängen noch nicht entkommen zu sein, die sie aus den Gründerzeiten geerbt haben.
Frankreich bleibt im Jahr 1990 der Erbe Roms. Die Werte von Freiheit und Gleichheit erlegen ihm  weiter das Dogma einer notwendigen Assimilation der eingewanderten Bevölkerungen auf, seien diese europäischen, islamischen, afrikanischen oder asiatischen Ursprungs, selbst wenn die statistischen Daten nicht erlauben, die Macht des assimilierenden Mechanismus zu belegen. Die Anwesenheit eines großzügigen Staatsbürgerschaftsrechts, das automatisch die Französisierung von 95% der in Frankreich geborenen Kinder sicherstellt, beweist alleine noch nicht, dass die Einwandererkinder wirklich freie und gleiche Bürger werden. Um zu assimilieren, reicht es nicht aus, die Gleichheit der Rechte und Pflichten zu dekretieren. Es ist auch notwendig, dass sich französische und eingewanderte Bevölkerungen durch Heirat und die Produktion von Kindern mischen, die nicht in der Lage sind, eine eindeutige und getrennte Herkunft zu definieren. Der Prozess hat höchstwahrscheinlich schon begonnen, aber die französische Verwaltungspraxis, die sich weigert, Individuen gemäß ihrer religiösen oder ethnischen Herkunft zu registrieren, verbietet jede empirische Analyse des Phänomens der Bevölkerungsmischung. Diese administrative Praxis illustriert übrigens aufs Schönste die Kohärenz der Gründungsprinzipien der Republik, die individualistisch und egalitär sind.

Es ist paradoxerweise die Existenz des Front National, die erlaubt hat, 1988 empirisch die Fortdauer der liberalen und egalitären französischen Tradition im Bereich der Assimilation zu verifizieren. Die Infragestellung des Staatsbürgerschaftsrechts, die die extreme Rechte gefordert hat und die die Regierung Chirac für einen Moment akzeptiert hat, wurde von der Bevölkerung verweigert. Das war die wahre Auskunft der Fieberanfälle in den Wahlen von 1988. Der Anstieg des Front National auf 14,5% darf das wesentliche Phänomen dieser Periode nicht verdecken: die Wiederwahl mit 55% der Stimmen eines sozialistischen Kandidaten, der beschuldigt worden war, Einwanderern das Wahlrecht geben zu wollen. Die zeitweilige Ausrichtung der Regierung Chirac auf die Thematik des Front National zum Ausschluss (der Einwanderer) hat nur ein konkretes Ergebnis gehabt: die Niederlage einer Rechten, die sich gegen die nationale Tradition positioniert hatte. Es bleibt abzuwarten, ob diese Tradition standhalten kann gegen ein dauerhaft erhöhtes Niveau von Einwanderung aus der Dritten Welt.

Die Bedrohung durch die extreme Rechte, eine Folge des Zerfalls der Arbeiterklasse, der kommunistischen Partei und der katholischen Kirche, hat also komischerweise zunächst das  traditionelle französische Konzept der Gleichheit der Menschen reaktiviert, das oberflächlich durch die Mode vom „Respekt vor dem Unterschied“ geschwächt worden war, die zwischen 1968 und 1980 aus der angelsächsischen Welt importiert worden war. Die Bewegungen der französischen  Wählerschaft entziehen sich der Kontrolle der kulturellen, politischen oder intellektuellen Eliten, d.h. der bewussten Sphären der Gesellschaft. Der Egalitarismus ist im nationalen Unbewussten angesiedelt. Die Wähler des Front National selbst sind wahrscheinlich verkannte Universalisten, ohne dass die Politiker der Rechten oder der Linken es bemerken. Sie fordern weniger die Vertreibung der eingewanderten Bevölkerungen ins Meer als ihre absolute Anpassung an die Sitten und Gewohnheiten der französischen Mehrheit. Die Unfähigkeit der politischen Eliten einen brutalen assimilatorischen Diskurs der Art „Die Einwanderer werden Franzosen wir alle anderen ein, ob sie es nun wollen oder nicht“ hat die Entstehung des Front National begünstigt. Das elitäre Gerede über das Recht auf den Unterschied erzeugt Inkonsistenz und Angst im Land des universellen Menschen.

Im Land der Ordnung und der Hierarchie, in Deutschland, führt die Anwesenheit von Einwanderern zu sehr verschiedenen Reaktionen. Das Staatsbürgerschaftsrecht wird weder in Frage gestellt noch geändert. Es stellt sicher, dass 95% der Kinder, die in Deutschland mit ausländischen Eltern geboren werden, auch Ausländer bleiben. Um 1989 waren 70% der in Deutschland lebenden Ausländer im Land geboren. Dieses sehr klare rechtliche System erlaubt übrigens zu verifizieren, dass Mischehen in Deutschland sehr selten sind. Die Gesamtheit der juristischen und sozialen Mechanik führt auf deutschem Boden zur Gründung eines Ausländerstandes, ein modernes Analogon der Stände des Ancien Régime, ein unfreiwilliger Nachfolger des Proletarierstandes im wilhelminischen Deutschland. Die Nichtintegration der Türken in Deutschland reproduziert in verschärfter Form die negative Integration des sozialdemokratischen Proletariats der Jahre 1880-1914. Der ethnische und religiöse Unterschied erneuert und steigert um ein Vielfaches eine Tradition der Separation der Arbeiterschaft, denn die Einwanderer sind natürlich mehrheitlich Arbeiter. Wenn sich das Einbürgerungsrecht und die Sitten in Deutschland nicht ändern, wird das Land seine traditionelle Ständestruktur wiederfinden. Die Homogenisierung der deutschen Gesellschaft, die Mischung der Klassen, die im Zweiten Weltkrieg gründlich umgesetzt worden ist[1], wird dann nur einige Jahrzehnte angedauert haben.  Die Repräsentation der Ausländer als Körperschaft auf der lokalen Ebene institutionalisiert den segmentierten und hierarchischen Charakter der deutschen Gesellschaft. Sie bestätigt, dass die Eingewanderten nicht als Individuen existieren. Die negative Integration erstreckt sich auf das religiöse Feld: gegen Ende der 80er Jahre führt das deutsche statistische Jahrbuch, das es gewöhnt war, Katholiken und Protestanten zu unterscheiden, eine neue Kategorie ein, die Moslems.

Deutschland und Frankreich, die an ihre jeweiligen autoritären und inegalitären bzw. liberalen und egalitären Werte gefesselt sind, verhalten sich weiterhin wie zwei gegensätzliche Pole in Europa.

Großbritannien macht seinerseits weiter mit einem Fahren auf Sicht und wird dabei von Konzepten geleitet, die dazwischen liegen. Sein nichtegalitärer Individualismus produziert eine bestimmte Wahrnehmung des Einwanderers. Während es am Anfang sehr offen war, verschließt sich Großbritannien nach und nach der Einwanderung  aus dem Neuen Commonwealth, d.h. aus den ehemaligen nicht-weißen Kolonien. Diese Schließung verhindert nicht die Stabilisierung einer bedeutenden Population mit britischer Staatsangehörigkeit auf britischen Territorium, die aber aus Afrika, von den Antillen, aus Pakistan oder Indien stammt. Wie in Frankreich stimmt die Nationalität bereits nicht mehr mit der ethnischen Herkunft überein. Umso mehr als Großbritannien im Gegensatz zu Deutschland bereitwillig Einbürgerung praktiziert. Aber es scheint so, dass man in Großbritannien mehr als in Frankreich der Entstehung ethnischer Ghettos beiwohnt, einem Rückzug der Gemeinschaften antillischen, muslimischen oder indischen Ursprungs auf sich selbst. Die Mechanik des Respekts vor dem Unterschied produziert unweigerlich diese Effekte. Die Sitten sind objektiv verschieden: die Assimilation erfordert die Zerstörung dieser Unterschiede, eine Anstrengung der Respektlosigkeit. In diesem Stadium der Analyse scheint die britische Praxis auch eine Trennung des deutschen Typs zu finden, weil sie ebenfalls das Prinzip der Gleichheit nicht kennt. Aber die englische Kultur ist zutiefst individualistisch und kann es nicht verhindern, das Individuum jenseits der Rasse, der Ethnie und der Religion wahrzunehmen. Sie erlaubt Anpassungen und individuelle Erfolgsgeschichten, die im autoritären System undenkbar sind. Der reine Individualismus erlaubt eine Häufigkeit von Mischehen, die nicht vernachlässigbar ist[2]. Der englische Liberalismus duldet auch eine große Autonomie der Immigranten. Insgesamt ermutigen diese Charakteristiken eine Selbstorganisation der ethnischen Gemeinschaften und ihre Teilnahme als Gruppe am Spiel der britischen Institutionen. Die islamischen oder farbigen Bevölkerungen wählen Repräsentanten in die  Kommunalräte und selbst ins Parlament. Die Anwesenheit in Großbritannien von Abgeordneten oder Kommunalräten, die aus „ethnischen Minderheiten“ hervorgegangen sind (ein Phänomen, das in Frankreich keine Entsprechung in derselben Größenordnung hat) zeigt gleichzeitig die Offenheit des britischen politischen Systems und die Geschlossenheit des sozialen Systems. Sie legt die Entstehung eines liberal-differenzierenden Modells nahe, das bereits in den USA im Vollausbau wirkt.

Die Entstehung einer spezifischen Repräsentation der ethnischen Minderheiten in Großbritannien erinnert seltsam an die Entwicklung einer spezifischen Repräsentation der Arbeiterschaft zu Anfang des (20.) Jahrhunderts. Die ersten Gewählten von Labour im House of Commons waren häufig Arbeiter, getreue Abbilder ihrer Gemeinschaften. Die geschlossenen Gemeinschaften der Bergarbeiter lieferten der Arbeiterbewegung besonders solide Stützpunkte. War die englische Arbeiterklasse vielleicht am Ende von fast 200 Jahren Industrialisierung eine eigene ethnische Gruppe geworden? Die antillischen oder pakistanischen Gemeinschaften scheinen an dem Punkt zu sein, dass sie diese Geschichte im Zusammenhang mit Wahlen wiederholen, die gleichzeitig auf Unterschieden bestehend und individualistisch ist.

Einer der Gemeinplätze der aktuellen soziologischen Literatur ist es, über die Fähigkeiten der verschiedenen Einwanderergruppen zu spekulieren, sich zu integrieren[3]. Man unterstreicht, dass die Einwanderer bis zu einem bestimmten Datum europäischen Ursprungs und christlich waren und dass die Existenz eines gemeinsamen kulturellen Hintergrundes den autochthonen und eingewanderten Bevölkerungen den Prozess der Integration erleichterte. Man unterstreicht auch, dass die Einwanderung aus der dritten Welt spezifische Probleme verursacht, weil sie Völker in Kontakt versetzt, die verschiedene familiäre und religiöse Traditionen mitbringen, manchmal gegensätzliche. Durch ganz Europa hindurch fokussiert sich die Aufmerksamkeit auf die eingewanderten islamischen Gruppen, die in Großbritannien, Frankreich und Deutschland stark vertreten sind. Die schwarzen Bevölkerungen in Großbritannien und Frankreich beunruhigen weniger, weil ihre Kultur schon bei der Abreise teilweise europäisch war. Die Bewohner der Antillen sprechen Englisch oder Französisch. Die familiären Gewohnheiten der afrikanischen und antillischen Bevölkerungen gewähren übrigens den Frauen eine sehr große Autonomie und passen sich sehr gut den französischen und britischen Sitten an. Die islamische Kultur erscheint den Europäern im Gegenzug essentiell antifeministisch: sie zieht alle Besorgnisse, alle Ablehnungen auf sich. Man kann einen gewissen Widerstand der islamischen Bevölkerungen gegen die Assimilation nicht leugnen, weil der familiäre Unterschied durch die Existenz eines alten und kohärenten religiösen Systems gestärkt wird.  Aber man muss auch feststellen, dass überall im Europa der Jahre 1985-1990 die Frauen islamischer Abstammung nach und nach ihre Fruchtbarkeit an die der umgebenden europäischen Bevölkerungen anpassen. Die algerischen Frauen haben immer weniger Kinder in Frankreich. Die türkischen Geburtenraten in Deutschland gehen zurück. Die Frauen pakistanischen Ursprungs entwickeln sich in Großbritannien  in Richtung der familiären und sexuellen Gewohnheiten des europäischen Typs. Kein Indikator bringt klarer ans Licht, dass der Widerstand der islamischen Bevölkerungen gegen die Assimilation zu einem erheblichen Teil ein Mythos ist. Die Wahrheit ist ganz einfach, dass keine Kultur, die aus der dritten Welt hervorgegangen ist, mehr als eine Generation der Auswalzung durch die postindustrielle europäische Kultur widerstehen kann, die übergriffig und dominierend ist. Der Widerstand kann nur ein letztes Ehrengefecht sein. Die islamische Religion selbst ist mehr als  bedroht. Sie hätte vielleicht in  einer gläubigen und verfolgenden christlichen Welt überleben können. Im gleichmäßig dechristianisierten, agnostischen Europa der Jahre 1990-2000, sind die Überlebenschancen des Islam ungefähr Null. Während wir uns dem Jahr 2000 nähern erscheinen Türken, Araber und Pakistani ganz und gar geeignet für die Assimilation. Das wirkliche Problem, da wo es existiert, befindet sich nicht auf der Seite der eingewanderten Bevölkerungen, sondern auf der Seite der aufnehmenden Bevölkerungen, von denen einige entsprechend ihrer Tradition fähig erscheinen zu assimilieren, während sich andere durch gegenteilige Traditionen daran machen auszugrenzen. Die britischen, französischen und deutschen Reaktionen zur islamischen Assimilation sind verschieden, wie es ein oder zwei Jahrhunderte zuvor die Reaktionen zur Assimilation der Juden waren – gefordert von Frankreich, akzeptiert von Großbritannien und verweigert von Deutschland. Die Juden stellen in Europa nicht mehr die Idee der Andersartigkeit dar. Auf der Ebene eines Planeten, der durch die Beschleunigung der Kommunikation und des Austauschs vereint wird, erscheint das Judentum nur noch als eine Komponente der jüdisch-christlichen Tradition unter anderen. Während wir uns dem Jahr 2000 nähern, ist es der Islam, der im kollektiven Unbewussten der diversen Nationen Europas die Idee des Unterschieds verkörpert. Ironischerweise ist der islamische Unterschied dabei, in einem Europa, das seine Einheit sucht, die Fortdauer fundamentaler Unterschiede zwischen europäischen Kulturen offen zu legen. Wenn das Kind des Algeriers französisch wird, wenn das Kind des Türken ein Türke bleibt, der in Deutschland lebt, wenn das Kind des Pakistaners ein besonderer Typ eines britischen Bürgers wird: wer wird dann im Jahr 2000 Europäer sein? Die Anwesenheit von Immigranten reaktiviert in Europa den Konflikt zwischen französischen, deutschen und britischen Konzeptionen der Staatsbürgerschaft. Für einen Kontinent, der versucht, eine gemeinsame Bürgerschaft zu definieren, ist das ein kapitales Problem. Von der Fähigkeit der europäischen Völker, diese tausendjährigen, eher anthropologischen als politischen Unterschiede zu überwinden, hängt die Form Europas ab, vielleicht sogar seine reelle Existenz.

Wird Europa universalistisch sein? Wird es Respekt vor dem Unterschied haben? Wird es ethnozentrisch sein? Die Europäer werden sich nicht definieren können, ohne sich über die Definition des Anderen einig zu werden.

[1] Zur Homogenisierung der deutschen Gesellschaft durch den Nationalsozialismus und den Krieg siehe die Zusammenfassung von David Schönbaum Die braune Revolution

[2] Für einige Zahlen siehe D. Coleman „Ethnic intermarriage in Britain“ Population Trends, 40, S.4-9. Ehen zwischen Antillischen und „Weißen“ sind häufiger als zwischen Pakistanis und „Weißen“. Ähnliche Studien gibt es für Frankreich nicht. Genaugenommen bringt die Existenz selbst von Untersuchungen in Großbritannien, die die Individuen nach der Ethnie klassifizieren, das Fortbestehen eines differenzierenden Modells zum Ausdruck, selbst wenn das Resultat der Untersuchung zeigt, dass Großbritannien sehr weit vom deutschen Trennungsmodell entfernt ist.

[3] Eine rituelle Übung, der ich in La Nouvelle France geopfert habe, wo man eine Beschreibung des arabischen Familiensystems vom endogamen Typs findet (S. 233). Die Studien zur islamischen Besonderheit übertreiben im Allgemeinen das Gewicht des religiösen Faktors und unterschätzen die Bedeutung der Endogamie als Widerstandsfaktor gegen die Assimilation.