Die Klassifikation der Familiensysteme
Todd klassifiziert Familiensysteme in zwei Dimension nach den Gegensatzpaaren Liberal/Autoritär und Egalitär/Inegalitär:
Zunächst betrachtet er diese Eigenschaften historisch bei Bauernfamilien vom 15. bis 19. Jahrhundert, wo sie folgende Bedeutung hatten:
Autoritär war ein Familiensystem dann, wenn ein junger Bauer nach Heirat und Übernahme eines Hofes immer noch der Autorität seiner Eltern unterworfen blieb. Empirisch messbar hat sich das in der Regel dadurch ausgedrückt, dass die Eltern auf demselben Hof wohnen blieben, den der Sohn übernommen hat. Entsprechende Geschichten um die Hofübernahme, die Unterdrückung der jungen Generation (insbesondere auch der Schwiegertochter!) durch Altbauern, die nicht „abgeben“ wollen, dürften dem einen oder anderen aus dem ländlichen Raum bekannt sein.
Liberal war ein Familiensystem dann, wenn ein junger Bauernsohn in der Regel seiner eigenen Wege ging, das Elternhaus verließ und sich einen eigenen Hof erwarb oder pachtete oder einen anderen Beruf annahm. Wenn er den Hof der Eltern übernahm, zogen diese in der Regel in einen eigenen Haushalt und sich selbst aus der Führung des Hofes zurück. Empirisch messbar (z.B. in Volkszählungen) war die getrennte Haushaltsführung.
Egalitär war ein Familiensystem dann, wenn die Kinder, insbesondere die Söhne, gleichwertig waren. Materiell hat sich das vor allem dadurch ausgedrückt, dass das Erbe der Eltern unter ihnen gleich aufgeteilt wurde. Eine typische Form dafür ist die Realteilung, bei der insbesondere das Land fortlaufend aufgeteilt wurde, so dass die Flurstücke immer kleiner wurden.
Inegalitär war ein Familiensystem dann, wenn die Söhne nicht gleichwertig waren, weil ein einziger praktisch alles geerbt hat, das sogenannte Anerbenrecht.
Karte der Familiensysteme Europas
Diese Karte stammt nicht von E. Todd, sondern ist in einer sehr lesenswerten englischen Einführung in „Invention de l’Europe“ von Graig Willy zu finden:
Die absolute Kernfamilie (gelb) war in England und anderen Nordseeanrainern sehr verbreitet[1].
Die egalitäre Kernfamilie (blau) war in Nordfrankreich und anderen von den Römern geprägten Gesellschaften verbreitet (Polen und Rumänien werden in dem besprochenen Buch nicht behandelt).
Die Gemeinschaftsfamilie (rot) dominiert in Osteuropa, kommt aber auch in Enklaven in Südeuropa vor.
Die Stammfamilie (dunkelgrün) ist sehr verbreitet, weil sie eine Grundform bäuerlicher Sozialstruktur ist, dominiert aber in Europa nur Irland, Schweden und Länder Mitteleuropas, insbesondere Deutschland. Außerhalb Europas haben auch Japan und Korea ein Stammfamiliensystem.
Zwei Farben auf dieser Karte sind in der 2×2-Matrix noch nicht erfasst:
Unter unvollständiger Stammfamilie fasst Todd Verschiedenes zusammen. Erklärtermaßen gehören dazu Regionen, in denen die Stammfamilie dominiert, aber das Anerbenrecht nicht (mehr) konsequent angewendet wird. Es könnten sich dahinter aber auch Unklarheiten oder Ungenauigkeiten verbergen. Im so kolorierten Rheinland muss man zum Beispiel die Frage stellen, ob hier nicht die Stammfamilie mit egalitären Einflüssen römischen Ursprungs koexistiert, es sich also um eine Übergangszone zwischen blauen und dunkelgrünen Gebieten handelt[2]. Es gibt andererseits in Württemberg große Gebiete, die eindeutig und ausschließlich Realteilung betrieben haben, also definitiv nicht inegalitär geprägt sind. Die fränkischen Ursprünge als möglichen Zusammenhang zwischen Alt-Württemberg und dem Rheinland (Rheinfranken) blendet Todd weitgehend aus, was ihm auch manche deutsche Kritiker vorwerfen. Man muss im Hinterkopf behalten, dass Todd, wenn er von Deutschland spricht, stark den norddeutschen und preußischen Teil im Kopf hat, beinahe als Antithese zu Nordfrankreich. Die süd- und westdeutschen Traditionen mit ihren vielen kleinteiligen Unterschieden unterschätzt er dabei offensichtlich. Dabei könnten sie in seinem eigenen Denkmodell einen Schlüssel zum Verständnis liefern, warum die Bundesrepublik von 1949 bis 1990 erheblich anders verfasst (beispielsweise: frankophiler) war als das preußisch dominierte Kaiserreich von 1871-1918 und auch das wiedervereinigte Deutschland nach 1990.
Die endogame Gemeinschaftsfamilie unterscheidet sich von der Gemeinschaftsfamilie dadurch, dass Ehen vorzugsweise im weiteren Verwandtenkreis geschlossen werden. Alle traditionellen europäischen Familiensysteme sind exogam, meiden also Heirat im Verwandtenkreis. Endogamie ist traditionell in den Familiensystemen der islamischen Welt verbreitet, z.B. arabischen und türkischen, aber auch im jüdischen Familiensystem, das aber nach Todd ansonsten ein Stammfamiliensystem ist.
Bedeutung der Familiensysteme
Das Familiensystem ist für Todd ein wissenschaftliches Lebensthema. Er sieht es als etwas wie die Mikrostruktur einer Gesellschaft, die mit unendlich vielen kleinen Prägungen festlegt, was ihre Bürger als gerecht oder normal empfinden. Wer von klein an erlebt, wie in der Familie einer alles erbt und die anderen leer ausgehen, empfindet das dann auch im Großen als gerecht. Wer eine Gleichverteilung des Erbes verinnerlicht hat, empört sich leicht auch über andere Ungleichheiten zwischen Menschen. Die Unterschiede mögen bei jedem Einzelnen schwach wirken, würden aber in einer Gesellschaft mit ihren vielen ähnlich denkenden Mitgliedern in Summe eine enorme Kraft entfalten, wenn es um die Akzeptanz großer, politischer Entscheidungen gehe.
Die so gebildeten politischen Überzeugungen einer Gesellschaft seien sehr zählebig und überlebten auch eine Änderung der ursprünglich prägenden informellen Erbregeln durch eine gesetzliche Festlegung. Insofern sei es kein Zufall, dass England eine liberale, marktwirtschaftliche politische Ordnung hervorgebracht habe, während es in Italien, Portugal und Frankreich starke und regionale kommunistische Bewegungen gegeben habe, die sich am russischen Vorbild orientierten. Die Sozialdemokratie Deutschlands habe einen ganz anderen Charakter als die Labour Party in England, weil beide in einer inegalitären Gesellschaft entstanden seien, die Sozialdemokratie zusätzlich in einer autoritären, Labour dagegen in einer liberalen, die eine durchorganisierte und staatsgläubige Sozialdemokratie nicht toleriere.
Folgende Tabelle gibt einen sehr groben Überblick über die tendenziellen politischen Orientierungen der vier Haupt-Familiensysteme Europas:
(übernommen aus der sehr lesenswerten Buchbesprechung von Craig Willy)
[1] Unter anderem auch in Ostfriesland, was möglicherweise erklärt, warum die Ostfriesen in Deutschland als anders oder leicht merkwürdig angesehen werden.
[2] Frage: inwieweit hängt das sprichwörtliche Spannungsverhältnis zwischen Rheinländern und Westfalen mit solchen Unterschieden zusammen?
Ein Gedanke zu „Erfindung Europas: Ergänzungen“
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