Brexit – Wie geht es weiter?

Brexit, was nun? Der Historiker und Demograf Emmanuel Todd äußert sich exklusiv in einem langen  Gespräch im Atlantico (Text auch auf diesem Blog), um in der Tiefe die Bedeutung der britischen Abstimmung zugunsten eines Austritts aus der Europäischen Union zu analysieren. Ich gebe das hier in mehreren Teilen wieder.

Teil 1: „Den Engländern folgen“

Teil 2: „Das Ende des Westens“

Teil 3: „Deutschland im manischen Modus“

Teil 4: „Die französischen Eliten haben einfach nur Angst vor Deutschland“

Krise

Atlantico: In ihrer Ausgabe vom 29. Juni titelte die Tageszeitung Le Monde „Die Anführer des Brexit in der Falle ihres Sieges“. Seit der Abstimmung zugunsten des Brexit scheint sich die Melodie eines Vereinigten Königreiches breit zu machen, das  vom Bedauern ergriffen wurde. Wie interpretieren Sie diesen Eindruck?

Emmanuel Todd : Ich glaube, dass da etwas dran ist. Ich verfolge ziemlich genau, was dort passiert. Die Leute verdächtigen mich oft, parteiisch zu sein, weil ich anglophil bin und an der Universität Cambridge ausgebildet. Ich gebe mit Stolz zu, dass es sogar schlimmer ist. Mein ältester Sohn ist auch in Cambridge gewesen, er war dort besser als ich, und sie haben ihn behalten. Er lebt in London und hat die englische Staatsbürgerschaft angenommen, und ich habe jetzt die Freude, zwei britische Enkelsöhne zu haben. Aber ich würde trotzdem gerne in erster Linie als ein Franzose betrachtet werden, der England besser kennt als Francois Hollande und einen schottischen Akzent erkennen kann. Bei der Gelegenheit sage ich, dass ich manchmal Engländer oder England auf archaische Weise benutze, wenn ich ganz Großbritannien oder das Vereinigte Königreich meine wie der Historiker A.J.P. Taylor.

Es ist klar, dass der Brexit eine kulturelle, politische, soziale und ideologische Krise in Großbritannien eröffnet hat.
Es ist wahr, dass die höheren Klassen und das Establishment massiv für „Remain“ gestimmt haben. Die Kategorien A und B der englischen sozioprofessionellen Nomenklatura, das Äquivalent unserer Manager und höheren intellektuellen Berufe sowie die Unternehmer haben „Remain“ gewählt. Die Stimmen für „Leave“ bekommen die Mehrheit in der unteren Mittelschicht, Kategorie C1, unseren Zwischenkategorien, die 30% der Wähler ausmachen. Der Wahlkreis Cambridge muss zu 72% für „Remain“ gestimmt haben. Das Ergebnis war ein Schock für die Mehrheit der höheren britischen Klassen. Die Klassenunterschiede, die sich durch Akzente ausdrücken, sind sehr viel stärker in England als in Frankreich. Es gibt in dieser verkaterten Zeit in bestimmten Kreisen eine ganz außerordentliche, anti-populistische Wut. Die Labour Party ist in die Krise geraten. Aber es ist auch wahr, und das ist ein großer Unterschied zu Frankreich, dass ein Teil der englischen Elite in der konservativen Partei, also rechts, es geschafft hat, Anführer der volksnahen Opposition zu werden. Das ist extrem interessant, aber da muss ich Wissenschaftler bleiben und zugeben, dass ich nicht alle  Details von dem verstehe, was vor sich geht. Es bleibt aber, dass sie Boris Johnson gefunden haben, einen ganz erstaunlichen Mann, ohne Zweifel Mitglied der höchsten britischen Klassen, sowohl durch seine Abstammung als auch durch sein Studium.

Die Briten haben das, was man braucht: einen Teil der höchsten Elite, der die nationale Wiedergeburt betreibt. Und das mit diesem zusätzlichen Mysterium, dass jetzt die demokratische Debatte im Inneren der konservativen Partei stattfindet und die Linke aus dem Spiel ist. Aber hier haben wir es mit unserer Sozialistischen Partei zu tun, die gegen das Volk und gegen die Nation ausgerichtet ist. Ohne es ganz zu verstehen, muss man empirisch (kaum ein französisches Wort!) anerkennen, dass dieser demokratische und nationale Aufbruch in der rechten Hälfte des politischen Schachbretts stattfindet.
Zu unserem Unglück haben wir in Frankreich nicht das Äquivalent von Boris Johnson oder Michael Gove, aber vielleicht ist rechts ein Platz frei. Es ist jedoch nicht unmöglich, dass niemand es wagt. Links ist nichts, ich glaube überhaupt nicht, dass Mélenchon zu irgendetwas in der Lage sein könnte. Die Linke ist gelähmt durch eine Art von naiver, abstrakter, archaischer Vision des Internationalismus und des Universellen, und ich sage das, obwohl ich selbst Mitte links bin.

Atlantico: Auch wenn der Brexit mit 52% der Stimmen gewinnt, hatte UKIP doch nur 12.6% auf der Tafel stehen bei den letzten Parlamentswahlen von 2015. Das ist eine Feststellung, die man auch in Frankreich treffen kann, und die einen großen Abstand anzeigt zwischen der europäischen Widerspenstigkeit der Wähler und den Ergebnissen der Parteien, die dieses politisch im Angebot haben. Was ist die Bedeutung dieses Paradoxons einer radikalen Mehrheit und der Schwäche ihrer Repräsentanten?

Das Problem ist, dass die Engländer immer ihren Churchill gehabt haben oder ihren Boris Johnson. Nicht UKIP hat gewonnen, es steht in England immer noch nicht zur Debatte, dass Farage die Regierungszügel in die Hand nimmt. Die englische Regierung muss in einem Teil des absolut traditionellen Establishments bleiben. Da haben wir eine regierende Klasse, die es schafft, sich zu erneuern…Ich beneide sie.

Das wahre Drama Frankreichs besteht darin, dass man im Herzen des Establishments diesen Schub der Würde nicht kommen sieht, der eine Minderheit der Eliten antreiben würde, die Interessen der Bevölkerung zu ihrer Aufgabe zu machen. Ich war immer antipopulistisch, ich habe immer für eine Rückkehr der französischen Eliten zur Vernunft gekämpft. Aber warum sind unsere Eliten so uniform resigniert? Wir haben doch unsere Elite-Hochschulen, die eine regelmäßige Versorgung mit arroganten Eliten sicherstellen, ja sogar mit verächtlichen. Ich fürchte, dass diese guten, disziplinierten Schüler Kleinbürger bleiben, die sich vom Volk unterscheiden wollen: die Idee einer edlen Freiheit, die Montesquieu so teuer war, bleibt für sie unerreichbar. Aber es gibt auch die Geschichte und ihre Traumata.

Der fundamentale Unterschied zwischen Frankreich und England ist nicht ihre Beziehung zu Europa, ein abstraktes und überholtes Konzept, sondern in ihrer Beziehung zu Deutschland. Deutschland zu gehorchen, ist nicht das Ding der Engländer; in Frankreich ist das komplizierter.

Bastille

Es gibt eine Lüge, die diese Leute des französischen medial-politischen Establishments pflegen und die man bloßstellen muss. Sie sprechen vom deutsch-französischen Paar, von der deutsch-französischen Freundschaft usw. Aber ich kenne persönlich nur einen einzigen Franzosen, der gegenüber Deutschland freundschaftlich und respektvoll ist, nämlich mich. In dem Buch, das ich schreibe, arbeite ich die Bedeutung der Reformation Luthers für die Massenalphabetisierung Europas heraus. Ich bin empfänglich für die tragische Großartigkeit der deutschen Geschichte. Ich wage es, für mich selbst von einer Empathie gegenüber Deutschland zu sprechen. Aber das wirkliche Gefühl der französischen Eliten gegenüber Deutschland ist die Angst.

Das ist das, was ich das FOG-Syndrom nenne für Franz-Olivier Giesbert[1]. Ich mag FOG gern, er ist witzig und talentiert. Er macht einen auf zynisch. Er macht sich einen Riesenspaß daraus, das bloßzustellen, was die Politiker nicht sagen können, er ist vom Nouvel Observateur (einer „linken“ Wochenzeitung) zum Figaro (DER traditionellen konservativen Tageszeitung) gegangen. Er hat mit mir ein neo-marxistisches Interview in Le Point veröffentlicht, dem Journal der alten Herren von Rechts. Er ist urkomisch bei persönlichen Dingen, manchmal hart. Ein Getue von Ästhetik, alles amüsiert ihn. Ein einziges Mal, in der Closerie des Lilas (ein traditionelles Café in Montparnasse), habe ich erlebt, wie er die Fassung verloren hat. Es ging um Deutschland. Er konnte nur noch seine Angst ausdrücken vor einem Konflikt mit Deutschland. Und da habe ich verstanden: die französischen Eliten haben einfach nur Angst vor Deutschland.
Früher ging in Brüssel ein Witz um: „Was ist Europa? Europa ist die Vereinigung aller Völker, die Angst vor Deutschland habe….und diese Definition schließt Deutschland ein“. Das wahre Problem von heute ist, dass die Deutschen selbst keine Angst vor Deutschland mehr haben, wegen der amerikanischen Fehler und der französischen Feigheit.

Atlantico: Schottland, Nordirland, Wales, London: die Abstimmung führt zu offensichtlichen Brüchen im Inneren des Vereinigten Königreiches. Macht es Ihnen keine Sorgen,  wenn sie sich seine Auflösung vorstellen?

Kommen wir zu dieser Idee von gewichtigen historischen Tendenzen zurück. Die historische Wahrheit ist, dass die Zugehörigkeit des Vereinigten Königreichs zu Europa seinen Zerfallsprozess ausgelöst hat. Überall bringt die Zugehörigkeit zu Europa eine Entstehung von Regionen mit sich und Phänomene territorialer Verzerrung. Die Zugehörigkeit zu Europa hat London von seinem englischen Hinterland entfernt, sie hat die Schotten von London weiter weggebracht. Das Gleiche in Frankreich, in Spanien und in Italien. Also ist natürlich das, was wir heute sehen, das Maximum dieses zentrifugalen Auseinandertreibens des Vereinigten Königreichs. Aber mit Schottland wird es für London genügen, gut einige Entschädigungen auszuhandeln und auf Zeit zu spielen. Den Schotten wird eine neue Realität aufgehen. Schottland hat 5.4 Millionen Einwohner, aber 800000 Personen, die in England leben, sind in Schottland geboren. Die Zerlegungskräfte der Europäischen Union werden erlöschen und vor allem werden die Schotten mit der Realität des neuen Europa konfrontiert sein, das sich ankündigt. Es geht nicht darum, das Vereinigte Königreich zu verlassen um Europa beizutreten. Die Wahl wird lauten: muss man aufhören, London zu gehorchen, um Berlin gehorchen zu gehen? Ich kann mir nur ganz schwer vorstellen, dass die Schotten Berlin wählen werden. Auch Schottland ist eine sehr großartige Nation. Ich empfehle Ihnen das Buch von Arthur Herman Wie die Schotten die moderne Welt erfanden. Also für Schottland würde ich auf Schottisch sagen: „dinna fash yersel“, macht Euch keine Sorgen, vom Französischen „fâcher“. Ich sage nicht, dass es leicht sein wird für die Briten. Es wird Arbeit brauchen, um Tonnen von Problemen zu lösen, mindestens 10 Jahre, um das alles wieder in Ordnung zu bringen, vielleicht sogar eine Generation. Wir haben länger gebraucht, um das aktuelle europäische Desaster zu produzieren. Die wirklich beunruhigendsten Probleme wird es für Irland geben, nicht für Nordirland. Wie Dänemark ist die Republik Irland nur in den Gemeinsamen Markt eingetreten, um dem Vereinigten Königreich zu folgen. Sie wird in eine ökonomisch unhaltbare Situation geraten, wenn die Kontinentaleuropäer eine konfliktbereite Haltung einnehmen (gegen England).

scandinavien

Es wäre auch eine interessante Überlegung anzustellen über das Interesse Skandinaviens, in der europäischen Union zu bleiben, wenn die Briten erst einmal weg sind. Die skandinavischen Mittelklassen sprechen außergewöhnlich gut Englisch, sie sind praktisch zweisprachig. Skandinavien ist durch die Konstruktion Europas in Unordnung geraten. Die Norweger haben sie abgelehnt, die Finnen sind in der Eurozone, die Schweden sind es nicht und der Brüsseler Schwätzereien müde. Die Dänen sind durch ihr liberales Temperament den Engländern dermaßen nahe. Ein Austritt aus Europa durch alle gemeinsam würde erlauben, Skandinavien wiederherzustellen. Man kann sich einen Wiederaufbau des Königreichs von Großbritannien und Irland vorstellen und einen Wiederaufbau von Skandinavien.
So viel zu den 27 Ländern, die in Schwätzereien gefangen sind, deren einziger Gegenstand es ist, die Zentralisierung der Macht in deutscher Hand zu verbergen.

Was mich an der Wahlgeografie des Brexit überrascht hat, ist nicht so sehr die Zustimmung zu „Remain“ in Schottland oder London, die erwartet worden waren, sondern die Aufhebung der Nord-Süd-Spaltung, die England zu zerstören drohte. England hat in den konservativen Regionen des Südens und in den Arbeiterregionen des Nordens homogen für den Brexit gestimmt. Ein wenig, als ob das Referendum begonnen hätte, die britische Gesellschaft wiederzuvereinigen.

Atlantico: Mehrere Verteidiger des Brexit wie Nigel Farage haben ihrerseits ihre Übertreibungen zugegeben, was die durch den Austritt aus der EU gebotenen Möglichkeiten angeht. Besteht nicht die Gefahr, dass die britische Gesellschaft sich bewusst wird, dass der Brexit keine Antworten auf die Probleme geben wird, die man während der Kampagne aufgeworfen hat?

Die Idee, dass der Brexit leicht sein wird, ist absurd. Der Aufbau Europas, der eine Zeit lang sehr positiv war, ist in eine Phase eingetreten, in der er die Gesellschaften durcheinanderbringt mit wachsenden Schwierigkeiten seit einigen Jahrzehnten und inzwischen mit einem Element bürokratischen Irrsinns.
Es wird also viel Arbeit bedeuten. Das ist ein ganz typischer Fall der Art, in denen man die kurze, mittlere und lange Sicht auseinanderhalten muss. Das Vereinigte Königreich wird eine Menge Probleme zu lösen haben, aber unter Berücksichtigung dessen, was ich schon gesagt habe, über die allgemeine Dynamik der Trennung der Nationen, werden wir nach meiner Meinung bald schon keine Zeit mehr haben, uns dafür zu interessieren, wegen der Probleme die Europa erwarten: Neuaufbau jenseits des Ärmelkanals, Zerfall auf dem Kontinent. Das also ist das Programm für die kommenden Jahre. Die Journalisten werden sich nicht langweilen.
In den großen historischen Herausforderungen braucht es immer einen Augenblick, bis die Briten sich in Bewegung setzen, aber dann wissen sie, wo es lang geht. Im Gegensatz dazu können wir uns darauf verlassen, dass die zögerlichen Pro-Europäer sich lächerlich machen werden.
Wenn man bei der Hypothese bleibt, dass der Brexit durchgezogen wird, was das Wahrscheinlichste ist, ist es völlig normal, dass es eine Übergangsphase gibt. Aber was mich eher überrascht hat in den letzten Tagen, ist nicht die Unordnung, sondern die Stärken der nationalen Loyalität und der Schockresistenz, die im britischen Wesen stecken. Die erste, instinktive Darbietung von David Cameron nach dem Brexit war bewundernswert. Er wird die Übergangsperiode sicherstellen, bevor er an seinen Nachfolger übergibt, der den Brexit umsetzen muss. Er setzt einen idealen Kalender in Kraft. Wenn diese Art von Haltung sich in der konservativen Partei und der ganzen Nation bestätigt, kann man Vertrauen haben auf die Fähigkeit des Vereinigten Königreichs diese Herausforderung zu bewältigen. Für die Tories ist es das Dringendste, den Frieden in der Partei herzustellen, bevor man zum Brexit-Abenteuer ausläuft. Man darf sich nicht damit zufriedengeben, den Nachfolgekrieg und den Verrat in der Konservativen Partei zu sehen. Die Weigerung von Johnson, sich um die Führung der Partei zu bewerben, ist das Gegenstück zur Eleganz von Cameron.

Aber plötzlich überwältigt mich mein Französischsein, ich denke wieder an unseren Präsidenten Hollande und habe Lust zu heulen…Frankreich ist auch eine große Nation. Wir haben etwas so viel Besseres verdient!

ENDE

[1] Französischer Schriftsteller und Journalist mit deutschen, schottischen und jüdischen Vorfahren

Kommentare:

  • Ich teile die Bewunderung Todds für die bisher gezeigte Fähigkeit der Engländer, diese Krise zu bewältigen.Cameron ist ganz selbstverständlich abgetreten nach seiner unbestreitbaren Pleite. Inzwischen gibt es wieder eine anscheinend sehr solide  Premierministerin und einen Außenminister Johnson, der eine Rede auf Französisch gehalten hat, um zu sagen, dass das Vereinigte Königreich in Europa und ganz besonders in der Nähe Frankreichs bleiben wird. Todds Prognose, dass der Brexit durchgezogen wird, steht also, und nicht nur die.
  • In Deutschland dagegen huldigt das halbe Land und 80% der Presse weiterhin einer Kanzlerin, der die Überforderung und der Alkoholismus immer stärker ins Gesicht geschrieben stehen. Mögliche Nachfolger hat sie weggebissen, während Cameron viele hinterlassen hat. Sie hat mit einer Sektenführerin mehr gemeinsam als mit einer englischen Premierministerin. Auch Margaret Thatcher wurde übrigens rechtzeitig von ihrer eigenen Partei gestürzt.Die britische Elite hat ein Gespür dafür, wenn das Ende der Fahnenstange erreicht ist, Deutschland nicht.
  • Die Hinweise auf die neue Lage für Irland und Skandinavien sowie die Aufhebung der Nord-Süd-Spaltung Englands sind sehr intelligent gesehen, wesentlich tiefgründiger als das übliche Gerede in Kommentaren. Sein Wissen über die Innere Verfasstheit des Vereinigten Königreichs und Skandinaviens kann man in einem Buch nachlesen, das ich hier auf dem Blog teilweise übersetzt und besprochen habe: Dänemark, Liberale Toleranz, Vorwort zur 2. Auflage 1995, Ergänzungen. Ein Meisterwerk, das im Vergleich mit diesem Interview auch zeigt, wie Todds Analysen sich über Jahrzehnte solide entwickelt haben.Er spielt in einer eigenen Liga.
  • Mit seiner Verachtung für die sozialistische Regierung Hollande ist Todd inzwischen im französischen Mainstream angekommen. Da braut sich etwas zusammen.
  • Seine Analyse der deutschen Dominanz in Europa und der Angst vor Deutschland in Frankreich ist für deutsche Ohren überraschend und gerade deshalb sehr wertvoll.
    Für mich als frankophilen Deutschen ist das jedenfalls ein trauriges Kapitel.Ich habe aber in den letzten Jahren im Alltag niederschwellig zunehmend antifranzösische Töne registriert und umgekehrt in Frankreich bei normalen Leuten auch eher unglückliche Gefühle gegenüber Deutschland. Die Quintessenz ist jedenfalls, dass hinter der erstarrten Fassade der deutsch-französischen Freundschaft gewaltig der Holzwurm am Arbeiten ist. In dieser Situation sind harte, realistische Worte von Todd mehr wert als der Vorwärts-Optimismus  von Ulrike Guérot, der sich hinter EU-Kritik nur versteckt.
  • Es ist richtig, dass die Deutschen inzwischen zu wenig Angst vor Deutschland haben. Angst haben muss man insbesondere vor der gewaltigen Diskrepanz in der Außen- und Selbstwahrnehmung Deutschlands. Die Hälfte der Deutschen glaubt, dass Mutti etwas ganz toll Humanitäres gemacht hat und vom Ausland ganz gemein im Stich gelassen wurde, während das Ausland das als dominantes und irres Verhalten empfunden hat, was die guten Deutschen aber nicht wahrhaben wollen. Die andere Hälfte der Deutschen glaubt, dass das Ausland Deutschland mit dem Euro ausbeutet, während das Ausland wiederum glaubt, dass es mit dem Euro von Deutschland dominiert wird, in Frankreich, in Italien, Griechenland, Portugal und Spanien. Man kann das nicht auflösen, solange man nicht die Interessen der Eliten und des Volkes in jedem Land separat betrachtet. Wer das nur auf der Ebene von Nationen betrachtet geht in die Irre und riskiert lebensgefährliche Konflikte. England steht übrigens in beiden Fragen geschlossen gegen die deutsche Elite, weil der Brexit die Elite und das Volk wiedervereinigen wird, wie Todd sehr schön analysiert hat.
  • Angst haben sollte man auch vor dem deutschen Extremismus in der Einwanderungsfrage. 100% Zustimmung zu Bassam-Tibi! Man darf die Augen nicht vor dem Bürgerkriegspotenzial verschließen, das hier offen zutage tritt. Da sind einerseits die Leute, die keinen einzigen Moslem oder Schwarzen im Land dulden wollen und andererseits die Leute, die die Grenzen komplett für jeden öffnen wollen und die Probleme leugnen. Wenn das schiefgeht, wird eine Mitte, die beides für Wahnsinn hält, verschwunden sein, verstummt oder emigriert. Der deutsche Extremismus ist kein rechtes Phänomen, er existiert auf beiden Seiten und der linke Extremismus hat derzeit die trinkende Mutti auf seiner Seite, mißversteht deshalb die wahren Machtverhältnisse. Tibi hat das kapiert, die meisten Deutschen noch nicht. Aufwachen bitte!

Hinz sticht Kunz

oder:

Warum Hinz nicht Kunz sein konnte

Der Fall der SPD-Bundestagsabgeordneten Petra Hinz aus Essen, die ihr Abitur und ihr Jurastudium erfunden hat, macht Furore. Die Berichterstattung konzentriert sich auf den individuellen Fall: die fällige Häme, die persönlich-moralische und die psychologische Komponente. Wer in diesem Fall aber nur die einzelne Person betrachtet, beraubt sich einer wichtigen gesellschaftlichen Erkenntnis:

Akademische Bildung ist zunehmend ein zur Ausübung von Macht notwendiges Sakrament geworden. Das ist aus demokratischer Sicht nicht positiv.

Zwei 18 Jahre alte Textauszüge analysieren diese Fragen:

Von der höheren Bildung zu den höheren Menschen
Anti-Populismus und Anti-Nationismus

und kommen zu der Ansicht, dass die Entstehung einer großen akademisch gebildeten Schicht sich seit den 1960er Jahren zu einem entscheidenden Widerstand gegen gleichberechtigte demokratische Mitbestimmung und zum entscheidenden Treiber gesellschaftlicher Ungleichheit entwickelt hat.

Bereits vor dem aktuellen Fall Hinz haben wir in den 18 Jahren seit Erscheinen dieser Texte in Deutschland mehrere Phänomene erlebt, die diese soziologische Analyse glänzend beleuchten und bestätigen:

  • Umstrittene Promotionen von Karl-Theodor zu Guttenberg, Silvana Koch-Mehrin und Margarita Mathiopoulos haben ihre Karrieren schlagartig beendet
  • Die jahrelangen medialen Huldigungen für Kanzlerin Merkel, oft auch auf der Basis ihrer Promotion in Physik, haben ihre (zu) wenig in Frage gestellte Amtsausübung und damit das Versagen im Amt erst möglich gemacht
  • Der Professoren-Kult unter AfD-Anhängern in der frühen Phase dieser Partei und deren plötzlicher Machtverlust hat deutlich gezeigt, dass die meisten Ökonomie-Professoren unter ihren Gründern zwar beim Fachthema Euro durch tragfähige Analysen glänzen, als wirkliche ‚Political Animals‘ aber nicht überzeugen konnten
  • Der in diesem Jahr verstorbene Lothar Späth erinnert daran, dass mit Realschulabschluss und einer Ausbildung einmal sehr gute Karrieren und Ergebnisse als Politiker und Manager möglich waren, heute aber immer weniger
  • Die Brexit-Entscheidung hat viele Berufspolitiker zu freimütigen Aussagen verleitet, dass man das „unwissende“ Volk solche Dinge nicht entscheiden lassen darf.

Die Plagiat-Fälle zeigen sehr schön, dass es bei akademischen Weihen oft eher um Amulett-ähnliche Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht geht als um wirklich produktive geistige Auseinandersetzung mit einem Thema. Im Zusammenhang mit den ESFS/ESM-Abstimmungen haben die real-existierenden Abgeordneten gezeigt, dass sie schlecht informiert sind über einfache Eckpunkte auch weitreichender Beschlüsse. Common Sense und Eigensinn sind dagegen oft bessere Mittel als ein formaler akademischer Abschluss. Und bei diesen Abschlüssen sind auch noch häufig für die Politik praktisch verwendbare Erfahrungen wie sehr gute Fremdsprachen- oder Wirtschaftskenntnisse Nebensache. Juristische Kenntnisse sind aber eine wichtige Ausnahme.

Die nach den Medienberichten sehr machtbewusste, aber mit einem dünnen Erfahrungshorizont jenseits der Politik gerüstete Petra Hinz scheint diese Zusammenhänge richtig erkannt und über lange Zeit als gekonnte Hochstapelei umgesetzt zu haben. Ihre Abschlüsse waren nicht wirklich geeignet, den Mangel an echter beruflicher Erfahrung zu kompensieren, haben aber gereicht. Die Logik ist schlicht:  Ober sticht Unter, Auftrumpfen geht über Inhalte, gute Argumente und gute Kontakte zu den Bürgern. Dabei war gerade die SPD lange Zeit die Partei, in der auch Arbeiter durch langjährige politische Arbeit Karriere machen konnten. Schon in den 1970er Jahren haben dann Arbeiter die SPD verlassen, weil ihnen plötzlich Studienräte erklärt haben, wie linke Politik wirklich geht. Bei der Union war die Entwicklung deshalb weniger krass, weil sie schon immer eher eine Honoratiorenpartei war.

Die Überbewertung akademischer Bildung ist ein Übel unserer Zeit, das antidemokratische Tendenzen stärkt und auch zunehmend schlechte Ergebnisse produziert. Der anti-populistische Furor, der sich gerne am „Stammtisch“ als seinem liebsten Feindbild abarbeitet, dient dazu, die Ansichten von „Hinz und Kunz“ zu entwerten und aus der politischen Debatte zu halten zugunsten von Ideen, die oft merkwürdig aus dem Nebel bzw. vom Himmel kommen. Dabei ließen sich Stammtische durchaus auch als eine Elementarzelle spontaner demokratischer Debatten unter gleichberechtigten Bürgern interpretieren, denen eine legitime Funktion gegen abgehobene „Befindlichkeiten“ selbsternannter Eliten zukommt.

Das große Thema Erpressbarkeit

Es bleibt die Frage, warum so grobe Fälschungen wie im Fall Hinz so lange „unbemerkt“ bleiben. Die Antwort ist verblüffend einfach: Sie werden natürlich bemerkt und von interessierter Seite garantiert auch in Dossiers gesammelt. Diese kommen aber erst zum Einsatz, wenn ein Politiker unter Druck gesetzt oder abgeschossen werden muss. Wer sich mit einer solchen Leiche im Keller bei einer wichtigen Entscheidung querstellt und wirklich „nur nach seinem Gewissen“ entscheidet, ist so schnell weg vom Fenster wie Petra Hinz in diesen Tagen von der politischen Bühne verschwunden ist.
Deshalb wäre es wünschenswert, dass wir Bürger solche Attribute bei unseren Vertretern weniger hoch bewerten als ihre Person, ihre Ansichten, ihre Verwurzelung, ihre Loyalitäten. Gleichzeitig würde es helfen, solche Details etwas kritischer zu überprüfen. Sonst geraten die Volksvertreter sehr schnell unter die Kontrolle der Leute mit den Dossiers. Häufig genug dürften das in- und ausländische Geheimdienste sein.

Nachtrag 14.8.2016:
Die inzwischen gelaufene Kampagne gegen Hinz und ihre mediale Nötigung zum Mandatsverzicht halte ich für ebenso bedenklich wie symptomatisch. Nur der Wähler hat wirklich ein Recht, sich über Hinz aufzuregen. Ihre Partei ist Beihelfer.
Die Aufregung von SPD und anderen Parteien ist allein dem Imageverlust geschuldet, den die Partei und die politische Klasse insgesamt durch diesen Fall erleiden. Dieser Imageverlust entsteht aber nicht durch den Einzelfall und die Person Hinz, sondern durch die merkwürdigen Strukturen und Zwänge, die dahinter sichtbar werden (ebenso wie im Fall Edathy alias Omani). Genau diese Hintergründe werden aber durch maßlose Moralisierung und Personalisierung verdeckt.

Deutschland im manischen Modus

Brexit, was nun? Der Historiker und Demograf Emmanuel Todd äußert sich exklusiv in einem langen  Gespräch im Atlantico (Text auch hier), um in der Tiefe die Bedeutung der britischen Abstimmung zugunsten eines Austritts aus der Europäischen Union zu analysieren. Ich gebe das hier in mehreren Teilen wieder.

Teil 1: „Den Engländern folgen“

Teil 2: „Das Ende des Westens“

Teil 3: „Einwanderung als Chaos heißt das Projekt Deutschlands

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Atlantico: Sie erwähnen das Einwanderungsproblem, das zentral war in der Abstimmung über den Brexit. Ist das kein Zeichen, dass diese Abstimmung (für den Brexit) durch andere Faktoren ermöglicht wurde als die Rückkehr zur politischen Freiheit?

Emmanuel Todd : Laut den Wahlnachfragen war die erste Motivation der Engländer, die Entscheidungsmacht nach London zurückzuholen: das ist ein demokratisches Erfordernis. Die zweite Motivation war tatsächlich die Einwanderungsfrage. Aber das ist nicht dieselbe Einwanderung wie bei uns, es geht um die Polen. Die Regeln der Gemeinschaft geben den Europäern das Recht, sich auf dem Kontinent frei zu bewegen.

Das ist eine Frage, über die wir klar sprechen müssen. In diesem Kontext bin ich besonders froh, dass ich mich letztes Jahr von der französischen politisch-medialen Klasse habe scharf durchbraten lassen, weil ich in meinem BuchWer ist Charlie?“ die Idee verteidigt habe, dass unsere islamischen Landsleute ein Recht auf Frieden haben. Das gibt mir ideologisch freies Feld, um über Einwanderung ausgewogen zu sprechen, ohne dass ich mich wie ein  Anhänger von Le Pen behandeln lassen muss. Ich bin ein vernünftiger Freund von Einwanderung: Einwanderung ist eine gute Sache. Die Assimilation der Eingewanderten ist eine gute Sache. Man muss den Leuten Zeit geben und zugeben, dass es nicht gut ist, den Islam zu verteufeln.
Für die Verteidigung dieser schlicht und einfach humanen Konzeption habe ich die Hälfte meiner Freunde verloren und mich von unserem Premierminister Manuel Vals als schlechten Franzosen behandeln lassen. Aber jetzt kann und muss ich sagen:

Das Recht von der Einwanderung ohne Bremse, das dabei ist sich als europäische Ideologie zu konstituieren, die die Rechte der mobilen Ausländer, polnische oder mittelöstliche, über diejenigen der Landsleute stellt, die also die Bevölkerungen in einen Zustand der Unsicherheit versetzt, ist  ein Anti-Humanismus, der sich hinter guten Gefühlen versteckt.

In den Menschenrechten, in der Basis der Demokratie selbst, die national sein muss, um funktionieren zu können, gibt es implizit ein Recht auf territoriale Sicherheit, ein Recht auf die Regulierung der Einwanderung. Indem man dieses Recht verneint, organisiert man in Wirklichkeit den Absturz der westlichen Welt in die Barbarei. Es ist verantwortungslos zu behaupten, dass es ausländerfeindlich sei, Einwanderung zu regulieren. Auch da haben die Engländer Recht.

Aber hier befinden wir uns im frontalen Zusammenstoß mit einem strukturell wilhelminischen, abenteuerlichen Deutschland, das den Kontinent destabilisiert.

Die fundamentale Sorge Deutschlands – man muss seine Presse lesen, wir können das dank Google Translate – ist es, Einwanderer in außerordentlichen Mengen anzuziehen, obwohl das Land es bereits nicht geschafft hat, die türkischen Bevölkerungen korrekt zu assimilieren. Das Loch, das sich am Fuß seiner Alterspyramide auftut, ist seine Obsession. Für die Deutschen ist die Personenfreizügigkeit in Europa und darüber hinaus essentiell da unersetzlich für seine Einwanderungspolitik. Es will, ich habe es schon gesagt, die qualifizierten jungen Leute absorbieren, die in der Eurozone der Arbeitslosigkeit ausgeliefert sind. Es will über das hinaus, was anthropologisch vernünftig ist, Bevölkerungen aus dem Mittleren Osten absorbieren, deren Rate an Ehen unter Cousins und Cousinen bei 35% liegt.

Einwanderung als Chaos heißt das Projekt Deutschlands.

Ich würde gerne jedes Missverständnis vermeiden. Ich bin kein Befürworter radikaler Konflikte, ganz im Gegenteil. Für mich ist das Offensichtlichmachen dieser Widersprüche eine Hilfe bei der Bewusstseinsbildung, um zu vermeiden, dass schwere Konflikte heranreifen, damit Franzosen, Briten, Deutsche, Italiener, Spanier und Schweden sich, ohne die anderen zu verlieren, einig werden über

  • die Perspektiven einer vernünftigen Einwanderung
  • die friedliche Koexistenz der Nationen
  • die Verteidigung der Demokratie

Es reicht vor allem nicht aus, im Wesentlichen zu antworten, dass „Europa die Demokratie ist“. Seien wir ehrlich: ohne die Engländer ist Europa schon heute nicht mehr der Ort der Demokratie.

Schauen wir in die 1930er Jahre zurück: Salazar, Franco, Mussolini, Hitler und in Osteuropa, mit Ausnahme der Tschechoslowakei, auch nur Diktaturen. Das Leugnen führt zu einem brutalen Realitätsschock. Wenn die Probleme nicht angegangen werden, wird es natürlich zu einer Rückkehr der Konflikte kommen.

Kommentar:

  • Bravo, Emmanuel Todd, c’est très bien dit!!!
  • Vor einigen Wochen hat sich Todd erstmals öffentlich zu Merkels Einwanderung geäußert. Der Tenor ist derselbe, aber inzwischen hat er die Aussage in einen größeren Kontext eingebettet.

Teil 4: Brexit – wie geht es weiter?

Brexit – Das Ende des Westens

Brexit, was nun? Der Historiker und Demograf Emmanuel Todd äußert sich exklusiv in einem langen  Gespräch im Atlantico (Text auch auf diesem Blog), um in der Tiefe die Bedeutung der britischen Abstimmung zugunsten eines Austritts aus der Europäischen Union zu analysieren. Ich gebe das hier in mehreren Teilen wieder. Zu Teil 1

Teil 2: „Der Brexit ist das Ende der Idee von einem westlichen System. Von nun an sind alle Neuordnungen möglich. Das ist das wirkliche Ende des Kalten Krieges.

Atlantico: Wenn man Sie hört, wenn man Ihrer Logik bis zum Schluss folgt, ist die passende Achse, um Europa zu ändern, nicht mehr das deutsch-französische Paar, sondern das Paar Paris-London?

Emmanuel Todd :

Ja. Es wird ein Europa der Nationen geben. Aber in diesem Europa der Nationen, einem friedlichen, hoffe ich, wird es immer noch Probleme mit dem Gleichgewicht der Mächte geben, und Deutschland wird noch einige Zeit die dominierende wirtschaftliche Macht bleiben. Auf mittlere Sicht lassen die demografische Krise und das Abenteurertum der Deutschen bei der Einwanderung eine schwere politische Krise in diesem Land und auf dem Kontinent vermuten – sagen wir in den kommenden 20 Jahren.

Einer der größten Fehler der französischen Führung ist es, nicht verstanden zu haben, nicht in der Lage gewesen zu sein vorherzusehen, dass der richtige Weg zu einem Gleichgewicht mit Deutschland nicht der Euro war, der uns zerstört, sondern die Achse Paris-London, die auf mittlere Sicht unausweichlich ist und kein Gelegenheitspaar darstellen wird, weil sie in der Logik der Kräfte und der Kulturen liegt.

Es ist eine große Lüge der französischen Eliten, wenn sie so tun, als ob sie England misstrauen. In Wahrheit handelt es sich um das einzige europäische Land, dem wir absolut vertrauen, und deshalb ist es das einzige Land, mit dem wir effizient bei der militärischen Sicherheit zusammenarbeiten können. Das ist keine technische Sache, es zeigt eine extrem starke Vertrauensbeziehung. Machen wir mit der Enthüllung der Wirklichkeit weiter:

  • Es gibt nur einige Zehntausend Franzosen in Berlin, während es Hunderttausende in London gibt, ebenso wie auch Engländer in Frankreich.
  • Es gibt zwei Zwillings-Megastädte in Europa, nämlich London und Paris.
  • Die demografischen Dynamiken der beiden Länder sind dieselben: nahe bei zwei Kindern pro Frau
  • Das Reden über den Gegensatz zwischen dem neoliberalen und inegalitären England und dem Frankreich des Sozialstaats enthält ein Element der Wahrheit, aber wenn man diese beiden Länder beobachtet, sieht man, dass sie sich parallel entwickeln, bei der Unterdrückung der Jungen und den Privilegien für die Alten.

Alle Nationen sind verschieden. Aber der objektive Vergleich muss uns zugeben lassen, dass die wirklich fremde Welt mit ihren so raren Jungen, ihren wegen des demografischen Niedergangs so niedrigen Mieten, ihrer strukturellen Einheit zwischen Links und Rechts, ihrem sozialen Autoritarismus, Deutschland ist und nicht England.

Atlantico: Und wie wird diese Periode des Übergangs zum Europa der Nationalstaaten ablaufen?

Zunächst auf dem Kontinent leider durch eine Beschleunigung und Verschärfung des antidemokratischen Niedergangs. Von nun an werden mit einem liberalen England, das uns verlassen hat, um sich neu zu erfinden, die Kommandos aus Berlin noch brutaler eintreffen. Unmaskiert. Die führenden, ähm, die geführten französischen Klassen können sich darauf gefasst machen, dass sie öffentlich gedemütigt werden. Vergessen wir nicht, dass mit dem Weggang der Briten auch die Vereinigten Staaten definitiv die Kontrolle über Deutschland verlieren. Mit dem Brexit nimmt die deutsche Sphäre offiziell ihre Unabhängigkeit an.

Das Niveau der Kontrolle durch die Amerikaner war durch das strategische deutsche „Nein“ zum Irakkrieg geschwächt worden. Wir haben die amerikanische Machtlosigkeit feststellen können bei der kategorischen Weigerung der Deutschen, den wirtschaftlichen Weisungen der Vereinigten Staaten zu gehorchen, die sie beschworen haben zur Wiederbelebung der Weltwirtschaft beizutragen, indem sie ihre Ausgaben erhöhen.

Der Brexit ist das Ende der Idee von einem westlichen System. Von nun an sind alle Neuordnungen möglich. Das ist das wirkliche Ende des Kalten Krieges. Und Putin zeigt durch seine extrem vorsichtigen Kommentare, dass er das verstanden hat. Die Lage wird in der Tat gefährlich, aber nicht aus den Gründen, die die Euro-Konformisten vorbringen.

Es ist wahr, wir behalten diese Sicherheit, die daher kommt, dass niemand Krieg will, dass unsere Bevölkerungen alt sind und noch für einige Zeit reich. Aber es gibt gewalttätige Elemente der nationalen Selbstbehauptung:

  • Es gibt die Gewalt der Übernahme der wirtschaftlichen Kontrolle über den Kontinent durch Deutschland
  • Es gibt die Gewalt der deutschen Einwanderungspolitik, die logisch seiner austeritären Politik der Zerstörung der Volkswirtschaften in der Eurozone folgt
  • Mit diesem extrem gewalttätigen Traum Deutschlands, für seine eigene Volkswirtschaft die jungen qualifizierten Spanier, Italiener, Portugiesen Griechen und bald auch Franzosen zu gewinnen, die zur Arbeitslosigkeit verurteilt sind
  • Es gibt die Gewalttätigkeit, mit der Deutschland die Vereinigten Staaten zurückgewiesen hat.

Der französische Antiamerikanismus ist ein Witz verglichen mit dem deutschen. Ich glaube, dass die Deutschen den amerikanischen Sieg im Zweiten Weltkrieg als illegitim betrachten, weil sie wissen, dass der wirkliche Sieg, der auf dem Boden, derjenige der Russen war, die 90% der menschlichen Anstrengung gebracht haben. Die amerikanische Politik der Misshandlung Russlands nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks war ein enormer strategischer Fehler. Die Amerikaner haben sich, besoffen von ihrem Erfolg im Kalten Krieg, nicht klargemacht, dass sie Deutschland destabilisieren. Die Amerikaner haben die wahren Sieger über Deutschland gedemütigt, die Russen, was in einem gewissen Sinn darauf hinauslief zu sagen, dass der Zweite Weltkrieg nicht einmal stattgefunden hat. Wo kein Sieger ist, ist auch kein Besiegter. Von da an war Deutschland von seiner Vergangenheit befreit. Die antirussische amerikanische Strategie hat den amerikanischen Griff auf Deutschland zerstört.

Die Franzosen ihrerseits, statt als ein Gegengewicht zu agieren, indem sie mit den Engländern gut Freund waren, haben ihre Zeit damit zugebracht zu sagen, dass Deutschland großartig ist. Ihre freiwillige Unterwürfigkeit hat dazu beigetragen, Deutschland zu renationalisieren.

Atlantico: Für Jean Claude Juncker, „ist der Brexit keine freundschaftliche Scheidung“ und für Francois Hollande „muss das Vereinigte Königreich in allen Bereichen, einschließlich der Personenfreizügigkeit, den Preis bezahlen, wenn es im gemeinsamen Markt bleiben will“, wobei er darauf hinweist, dass die Situation „eine Erfahrung und Lektion wert sein könnte“. Wie interpretieren Sie eine solche Position, die man als „harte Linie“ gegenüber dem Vereinigten Königreich bezeichnen könnte?

Wir haben keine Führungsschicht mehr, wir haben, ich sagte es schon, geführte Schichten. Was Hollande und Juncker sagen, interessiert mich nicht mehr. Was Sie hier zur Sprache bringen, ist eine gespielte Komödie, die so tut, als ob Europa (französische Schreibweise) noch existierte. Was existiert ist „Europa“ (deutsche Schreibweise), also ein deutsches Europa.

Die einzige wichtige Sache, die nach meiner Meinung seit dem Ergebnis des Referendums passiert ist, ist dass wir gesehen haben, wie der Reihe nach die Außenminister, Hollande und Renzi nach Berlin geeilt sind, um ihre Anweisungen abzuholen. Das ist entlarvend. Die Härte von Hollande wird keinerlei praktische Wirkung haben. Deutschland wird entscheiden.

Lassen Sie uns trotzdem festhalten, dass unser Präsident, nein, unser Repräsentant in Berlin einen Verrat mehr an unserem nationalen Interesse begangen hat: Frankreich hat 10% Arbeitslosigkeit, es hat ein Handelsdefizit mit allen europäischen Ländern außer dem Vereinigten Königreich, wo seine finanziellen und industriellen  Investitionen beträchtlich sind, und er will uns in einen Konflikt stürzen. Im Fall eines wirtschaftlichen Konflikts mit dem Vereinigten Königreich hat Frankreich wegen der Intensität unserer Bindungen mit unserer Schwester auf der anderen Seite des Ärmelkanals am meisten zu verlieren. Es gibt überhaupt kein Bewusstsein für die nationalen Interessen in dieser Geschichte.

Zu versuchen, sich mit England anzulegen wäre ebenso unvernünftig wie es war, Russland in die Knie zwingen zu wollen. Großbritannien ist eine Insel, aber es ist nicht isoliert. Die Anglosphäre sind die USA, Australien, Kanada, Neuseeland und UK, deren Gesamtbevölkerung schon größer ist als diejenige Europas zwischen Brest und Warschau. Auch davon ist das Königreich ein Teil.

Deutschland ist also das, was mich interessiert. Was wird es tun?

Deutschland ist ein Land, das in zwei psycho-politischen Moden funktionieren kann:

  1. In einem vernünftigen Modus, den ich den Bismarck’schen Modus nenne, wo man versucht, gut Freund mit möglichst vielen Leuten zu sein, um den Griff auf seinen Herrschaftsbereich sicherzustellen. Bismarck war gut Freund mit Großbritannien, mit Russland, mit Österreich-Ungarn und mit Italien, um Frankreich zu isolieren, das 1870 geschlagen worden war und den Verlust von Elsaß-Lothringen schlecht verdaute. Sein Ziel war die Stabilisierung des wiedervereinigten Deutschen Reiches.
  2. Und dann gibt es den wilhelminischen Modus, wo man den Ball nicht flach hält und versucht, sich möglichst viele Feinde zu machen, um alles Erreichte zu verlieren: Wilhelm hat sich mit Russland zerstritten und mit Großbritannien und damit für Frankreich ein System von Allianzen geschaffen.

Also: einen manischen deutschen Modus und einen ruhigen deutschen Modus. Merkel ist eher im ruhigen Modus, bis auf da, wo sie zur Einwanderung aufgerufen und angefangen hat, den Kontinent zu destabilisieren. Mit dem Ruf an die syrischen, irakischen und afghanischen Flüchtlinge ist sie in den manischen Modus gewechselt, den wilhelminischen.

Der Bismarck’sche, der ruhige und vernünftige Modus wäre es, wenn Deutschland den Brexit akzeptieren würde, ohne ein Theater zu machen, und davon profitieren, um seine Kontrolle des Kontinents zu vollenden. Es ist das freihändlerischste Land der Welt in einem Europa, das alle Zollschranken niedergerissen hat. Warum sich mit einem Handelskrieg herumschlagen?

Die Situation ist exakt das Gegenteil von dem, was uns die anglophoben Europäisten erzählen, also sprechen wir das Wort aus: die Neo-Pétainisten. Sie berauschen sich an der Idee, dass der Weggang des Vereinigten Königreichs die Rolle Frankreichs als Gegenüber von Deutschland stärkt. Das ist offensichtlich falsch. Die schreckliche Wahrheit ist, dass es in Europa ein Gleichgewicht der Mächte gab, mit den Deutschen, der dominierenden Macht, und dann den Engländern und den Franzosen. Das ganze Spiel der Deutschen war es, Franzosen und Engländer gegeneinander auszuspielen, um das Gleichgewicht zu erhalten, das ihre Macht zur globalen Kontrolle sicherstellte. Nun sind sie von der englischen Macht befreit, die in politischen Dingen liberal ist und eine Bremse sein musste für alle autoritären Bestrebungen, die schon jetzt stark sind in Deutschland und auf dem Kontinent. Jetzt werden die Franzosen nicht mehr von den Engländern geschützt, sie finden sich in einem völlig ungleichgewichtigen Tête-a-Tête mit Deutschland wieder und wir werden von der freiwilligen Unterwürfigkeit in eine immer weniger freiwillige Unterwürfigkeit hinübergleiten.

Die Anweisungen aus Berlin könnten immer weniger höflich werden, umso mehr als Deutschland mangels einer Strategie eine Taktik hat: es scheint die Engländer sofort durch die Italiener ersetzt zu haben, um Frankreich zu schwächen. Es nimmt Renzi ins Spiel, um erneut eine interne Konkurrenz zu erzeugen, die Frankreich wieder schwächt.

Ich bin auf lange Sicht optimistisch. Ich habe keinerlei Zweifel am Modell der Neuentstehung der Nationen und glaube, dass diese Probleme letztendlich in eine friedliche Rückkehr zu einem Europa der Nationen münden. Wegen der Altersstruktur unserer Bevölkerungen, weil die erste Macht des Kontinents, Deutschland, kaum eine Armee hat und keine Kernwaffen besitzt, weil die Europäer friedliche und zivilisierte Leute bleiben. Krieg ist unvorstellbar. Aber in der Übergangsphase wird die Position Frankreichs sehr hart sein. Wir werden unseren Status als Herzchen Deutschlands verlieren, als wunderliches Kind, dem man alle Defizite erlaubt. Auf dem Weg zu 15% Arbeitslosigkeit?

Die Briten gehen, weil sie die Brüsseler Bürokratie nicht mögen, natürlich, aber vor allem weil sie die Freiheit im Leib haben. Sie nehmen die Eurozone nicht nur als eine wirtschaftliche Katastrophe wahr, als eine Zone der Austerität und der Stagnation – wie die ganze Welt übrigens – sondern auch als den Ort eines autoritären und antidemokratischen Niedergangs. Und natürlich kündigt uns der Rückzug Englands aus dem zentraleuropäischen Raum in einer ersten Zeit eine Akzentuierung des autoritären Niedergangs dieses „Europa“ (deutsche Schreibweise auch im Original) an.

Für einen Geopolitiker erscheint eine Konfiguration mit zwei großen freien Nationen am äußersten Rand des Kontinents, Russland und dem Vereinigten Königreich, mit einem Frankreich, das Deutschland folgt, mit einem Italien am Rande des Türmens und Amerikanern, die es nicht eilig haben einzugreifen wie eine friedliche, wirtschaftliche und ein wenig senile Parodie Europas im Jahr 1941.

Kommentare:

  • Eine interessante, ungeschminkte Perspektive, die man kennen sollte, aber nicht unbedingt teilen muss. Da stecken auch viele persönliche Vorlieben Todds drin. An einigen Stellen urteilt er mir zu hart über Deutschland, das auch in einem Dilemma steckt (siehe unten).
  • Vor ungefähr 20 Jahren bin ich mit einem französischen Studienfreund den ‚Pennine Way‚ durch Nordengland gegangen. pennine_way_bWir hatten schon einige Fernwanderwege in Frankreich zusammen gemacht und jetzt erstmals zusammen nach England übergesetzt. Dabei haben wir uns wie immer über Gott und die Welt unterhalten. Sehr interessant, wie verschieden Leute denken können. Er war ein glühender Bewunderer der Angelsachsen inklusive Reagans und Thatchers. Ich hatte für Thatcher und Reagan nichts übrig, mochte aber die Engländer schon damals durchaus gern, ihre Sitten, ihr Bier, ihren Cider, Fish & Chips und Lamb Stew. Vor dem Start der Tour haben wir in Leeds fettigen Fish & Chips gegessen und zum Nachtisch ein Mars Bar Fritters. Die Landschaft war traumhaft und die Wirtshäuser am Weg waren urgemütlich, vor allem nach 30 Kilometer durchs Hinterland, einem Lamb Stew und zwei Pint Cider: penninewayVon dieser Tour habe ich den tiefen Eindruck mitgenommen, dass sehr viele Franzosen mehr Vorbehalte gegen England haben mögen als gegen Deutschland, aber gerade ihre intelligentesten und besten Landsleute das durch eine große Begeisterung für England wieder wettmachen (siehe Emmanuel Todd, der zudem nie als ein Anhänger von Reagan und Thatcher aufgefallen ist).
  • Kurz: ich halte es für absurd, wenn Deutschland sich mit Frankreich zusammentut, um England zu strafen und vom europäischen Kontinent fernzuhalten. Das wird auf Dauer nicht halten. Es wird niemand etwas davon haben außer böses Blut. Die Engländer werden sich nicht fern und nicht unten halten lassen. Die Franzosen werden das auf Dauer nicht wollen, selbst wenn sie es anzetteln sollten, weil es eine starke und intelligente (siehe Todd) Opposition dagegen gibt, die irgendwann wieder mitreden wird. Deutschland könnte am Schluss der Dumme sein und sollte deshalb gar nicht erst mitmachen. Außerdem widerstrebt es mir sehr, ein Land für eine demokratische und nachvollziehbare Entscheidung zu schikanieren.
  • Das Verhältnis vieler normaler Franzosen zu Deutschland hat sich in den letzten 10 Jahren verschlechtert, weil ihnen der Euro zunehmend schadet. Sie rechnen das Deutschland negativ an, obwohl der Euro kein deutsches Projekt war (dazu bald mehr in einem Text von Todd), weil er aber inzwischen auch durch deutsche Fehler vollends an die Wand gefahren wurde. Dazu kommt die Großspurigkeit der deutschen Öffentlichkeit, Medien und mancher Politiker. Man spürt das in Frankreich.
  • Ich sage es ungern: Merkel hat Recht, wenn sie vor übereilten und gegen England gerichteten Reaktionen warnt. Die SPD ist mit Schulz und Gabriel mal wieder selbstgerecht auf dem Holzweg.
  • Deutschlands Lage nach dem Brexit ist schlecht. Todd hat Recht: wir haben keine Strategie, weil es keine gute gibt. Der Brexit ist Mist und der Euro das große Problem, das Deutschland, Frankreich und Italien zusammenkettet, England ausschließt und vertrieben und das Dreieck zerstört hat, in dem alle 3 am besten leben konnten, ohne dass einer der Underdog war. Glückliche Zeiten: perdu.
  • England und Frankreich werden in absehbarer Zeit wegen ihrer Demografie auch wirtschaftlich stärker sein als Deutschland, militärisch sind sie es beide schon heute deutlich. Deutschland hätte jedes Interesse der Welt, beide Länder fair und respektvoll zu behandeln (ebenso wie jedes andere Nachbarland). Seine aktuelle Rolle als Scheinriese in der Eurozone und auf dem Kontinent macht das aber nicht leicht, sondern schwer.
  • Der Brexit ist ein Dilemma für Deutschland. Der Umgang mit dem Brexit-Referendum, die Ansprache an die englische Öffentlichkeit waren nicht gut genug. Merkel hat es zuletzt tatsächlich gesehen, aber nicht genug tun können. Ihre Fehler in der Europolitik von 2011/12 und in der Flüchtlingspolitik von 2015 haben den Engländern den Rest gegeben und Deutschland in diese missliche Lage gebracht.
  • Bei aller Wut über ihre Fehler muss man sagen: es ist zu viel für eine Person.  Nicht Merkel ist die Hauptschuldige, sondern die vielen, die ihr jahrelang blind vertraut haben, weil es so bequem war, die extremen Probleme nicht zu sehen. Es ist eine Idee von Todd, dass in hierarchischen Gesellschaften die Frauen (oder Männer) an der Spitze grundsätzlich überfordert werden. Das sieht man sehr schön an David Cameron: er hatte eine leichtere Aufgabe, hat sie verbockt, und konnte doch lässig abtreten. England wird zu kämpfen haben mit dem Brexit, kann ihn aber langfristig zu einem Erfolg machen. Deutschland steht aus vielen Gründen langfristig schlechter da, und die Deutschen sind auch noch so blöd, Cameron (und Johnson) ihre Lässigkeit vorzuwerfen, die daher kommt, dass sie für nichts allein verantwortlich sind, sondern nur Primus inter Pares.
  • Bei reiner Vernunft wäre es das Beste, das Chaos nach dem Brexit zu nutzen, um auch den Euro noch zivilisiert und fair zu verlassen und gleich zu einem Europa der Nationen mit eigener Währung vorzurücken. Die normalen Franzosen und Deutschen würden vielleicht letztlich aufatmen, Intellektuelle wie Todd würden Deutschland dafür lieben. Was aber würden die (Ex-)Besitzer von Geldvermögen in ganz Europa dazu sagen und was das französische Pro-Euro-Establishment?
  • Todd hat natürlich Recht mit den autoritären Tendenzen in Deutschland. Merkels Flüchtlingspolitik war gegenüber der eigenen Bevölkerung autoritär bis auf die Knochen (siehe Teil 3). Justizminister Maas ist ein autoritärer Zensur-Hansel, der sich eine Stasi-Seilschaft als Schergen hält. Schäuble ist ein autoritärer Sado-Monetarist, der die Eurozone mit der Peitsche sinnlos peinigt. Der unsägliche Martin Schulz entblödet sich nicht, die neu gewählte britische Regierungschefin für ihre Personalentscheidungen zu kritisieren. Was bilden sich diese Leute eigentlich ein? Sie halten sich für ganz tolle liberale Europäer und machen gleichzeitig einen Kasernenhof aus Deutschland und dem Kontinent. Das wird ins Auge gehen.

Teil 3: Merkels Deutschland im manischen Modus

Teil 4: Brexit – wie geht es weiter?

Brexit – den Engländern folgen

Brexit, was nun? Der Historiker und Demograf Emmanuel Todd äußert sich exklusiv in einem langen  Gespräch im Atlantico (Text auch auf diesem Blog), um in der Tiefe die Bedeutung der britischen Abstimmung zugunsten eines Austritts aus der Europäischen Union zu analysieren. Ich gebe das hier in mehreren Teilen wieder.

Teil 1: „Die 4. Etappe, nach dem Erwachen von Deutschland, von Russland und des Vereinigten Königreichs, muss das Erwachen Frankreichs sein. Den Engländern zu folgen, entspricht unserer revolutionären Tradition.“

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Atlantico: Am 23. Juni hat sich das Vereinigte Königreich entschieden, aus der Europäischen Union auszutreten. Emmanuel Todd, man kann sich vorstellen, dass Sie sehr zufrieden sind mit diesem Ergebnis.

Emmanuel Todd : Das ist offensichtlich, aber nicht wirklich das Problem. Ich interessiere mich als Historiker der französischen Schule von Fernand Braudel und meines Lehrers Emmanuel Le Roy-Ladurie für das, was auf lange Sicht passiert. Ich versuche, mich der Kurzfristigkeit der Aufregung der Politiker zu entziehen.

Der Brexit gehört zu einem globalen Phänomen, über das ich arbeite und das alle am weitesten entwickelten Gesellschaften betrifft, einschließlich Amerika, Kanada, Australien, Japan: die Divergenz. Die Demografen wissen, dass die Fruchtbarkeiten sehr verschieden sind, dass manche Bevölkerungen sich reproduzieren, dass andere das nicht schaffen. Die Arbeiten von Atkinson und von Piketty zeigen, dass die Geschwindigkeit und das Ausmaß des Anstiegs der Ungleichheiten verschieden sind.

Die Anthropologie der Familienstrukturen erlaubt es, den Ursprung dieser Unterschiede und dieser allgemeinen Divergenz zu verstehen. Was gerade im Zusammenhang mit der Globalisierung passiert, ist nicht nur, dass die nationalen Kulturen Widerstand leisten, sondern dass der Stress und die Leiden der Globalisierung die Gesellschaften dazu bingen, sich nicht mehr zu öffnen und zu konvergieren, sondern im Gegenteil in sich selbst, in ihren Traditionen und anthropologischen Fundamenten die Kraft zu finden, sich anzupassen und neu aufzubauen. Das ist das, was ich beobachte, und zwar über den europäischen Kontext hinaus.

Japan ist in einer Periode der Rückbesinnung auf sich selbst. Die Leute träumen von der Edo-Zeit, in der sich das Land auf autonome Weise entwickelte, ohne dass Europa etwas davon wusste.

Es sind Kräfte derselben Ordnung, die es erlaubt haben, Kandidaten wie Bernie Sanders oder Donald Trump in den Vereinigten Staaten hervorzubringen, die einen Ausstieg aus dem „Washingtoner Konsens“ und aus dem Globalisierungsdiskurs verlangen mit einem Traum der Neugründung der amerikanischen Nation.

In Europa ist das noch interessanter, weil wir ein System von alten Nationen sind. Europa hat diesen Prozess als Erstes gestartet, weil Deutschland zuerst ausgestiegen ist. Die Problematik der Rückkehr der Nation ist Deutschland 1990 durch seine Wiedervereinigung aufgezwungen worden. Das war seine Pflicht, es musste seinen östlichen Teil wieder aufbauen. Es hat eine Art Vorsprung gehabt, der es seit ungefähr 2010 beinahe durch Zufall in seine Vormachtstellung auf dem europäischen Kontinent gebracht hat. Das zweite Land in Europa, das sich nach vielen Wirren auf ein nationales Ideal rückbesonnen hat, ist Russland. Das sowjetische Imperium hat sich aufgelöst, Russland hat zwischen 1990 und 2000 eine Periode furchtbarer Leiden durchlebt, aber die Machtübernahme von Putin hat schließlich diese Rückkehr Russlands zu einem nationalen Ideal verkörpert, Rückbesinnung auf eine neo-gaullistische Idee von Unabhängigkeit. Es hat die Russen 15 Jahre gekostet, um in eine ökonomische, technologische und militärische  Situation zu kommen, in der sie keine Angst mehr vor den Vereinigten Staaten haben müssen. Das ist, was man schrittweise in Georgien, auf der Krim und dann in Syrien feststellen konnte. Man kommt zu einer Situation, in der die westlichen Armeen, die Syrien überfliegen wollen, Russland um Erlaubnis fragen müssen.

Dieses Referendum über den Brexit ist in dieser Logik der Schritt 3:
Die Neuentstehung des Vereinigten Königreichs als Nation.

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Atlantico: Und was wäre die Besonderheit des Vereinigten Königreichs in dieser Dynamik der Rückkehr zur Nation?

Sie sind nicht die ersten, aber das ist wahrscheinlich die wichtigste Etappe, weil es eines der zwei Länder ist, die die Globalisierung angeführt haben.
Mit Margaret Thatcher hatten sie ein Jahr Vorsprung vor den Vereinigten Staaten bei der neoliberalen Revolution. Sie gehören zu den Ländern, die als erste diese Logik angetrieben haben. Eine anglo-amerikanische Rückkehr zum nationalen Ideal ist wichtiger als das deutsche Heraustreten oder die russische Stabilisierung. Seit dem 17. Jahrhundert wird die ökonomische und politische Geschichte der Welt von der anglo-amerikanischen Welt angetrieben.
Die englische Nation hat zwei kombinierte und widersprüchliche Besonderheiten: Es handelt sich zunächst um die individualistischste und offenste Kultur Europas: das ist das Land, das die politische Freiheit erfunden hat. Dann ist es paradoxerweise auch eine nationale Identität auf ethnischer Basis, die praktisch ebenso solide ist wie die japanische. Wie die Japaner wissen die Engländer, wer sie sind.

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Atlantico: Wenn man ihrem Gedankengang der Rückkehr zur Nation folgt, welches Land ist dann das nächste nach Deutschland, Russland und nun dem Vereinigten Königreich?

Um zu akzeptieren, was ich Ihnen sagen werde, muss man sich von den Gemeinplätzen über England lösen, diese merkwürdigen Engländer, die zweistöckige Busse haben, die links fahren, die Humor haben, eine respektierte Königin, etc. Alles das ist wahr. Aber man muss die Engländer vor allem als Anführer unserer Modernität sehen, in der langen Sicht nach Braudel.
Die industrielle Revolution ist aus England und Schottland gekommen und hat Europa ökonomisch umgestaltet. Die französischen, deutschen, russischen und anderen industriellen Revolutionen sind nur Folgen davon. Aber noch vor der wirtschaftlichen Transformation haben die Engländer unsere liberale und demokratische Moderne erfunden. Der wirkliche Ausgangspunkt war 1688, das, was die Engländer die „Glorious Revolution“ nennen, durch die die parlamentarische Monarchie etabliert worden ist. Wenn sie die „englischen Briefe“ von Voltaire von 1734 lesen, werden Sie seine Bewunderung für die englische Modernität sehen, mit sehr komischen Sachen über die Quaker oder die Abwesenheit eines Sexuallebens bei Newton. 1789 ist es der objektive Traum der französischen Revolutionäre England einzuholen, das Modell der politischen Modernisierung.  Das ist das Modell von Daron Acemoglu und James Robinson in ihrem Bestseller Why Nations Fail, das ich umso lieber akzeptiere, als sie sehr viel Sympathie für Frankreich haben. Sie unterstreichen, dass das, was die französische Revolution gebracht hat, für den ganzen Kontinent von größter Wichtigkeit war, dass unsere Revolution das Ideal der Volksbeteiligung allgemein verbreitet hat. Jedenfalls hat England  die repräsentative Regierung erfunden.
In diesem Kontext ist es nicht unlogisch festzustellen, dass das erste Referendum, das wirklich Konsequenzen für die Europäische Union haben wird, das historische Referendum, im Vereinigten Königreich stattgefunden hat. Ein Referendum ist eine ungewöhnliche Prozedur in England. Aber der Gegenstand dieses Referendums war, das ist ganz klar, dass die erste Motivation der Brexit-Wähler nach den Nachwahlumfragen noch vor der Einwanderung die Wiederherstellung der Parlamentssouveränität war. Denn bis zum Brexit war das englische Parlament nicht mehr souverän, obwohl das absolute Prinzip der politischen Philosophie für die Engländer die Parlamentssouveränität ist.

Ich schließe: logisch betrachtet muss die 4. Etappe nach dem Erwachen Deutschlands, Russlands und des Vereinigten Königreichs das Erwachen Frankreichs sein. Den Engländern zu folgen, entspricht unserer revolutionären Tradition.

Kommentar zu Teil 1:

  • Dass die Parlamentssouveränität ein wichtiger Brexit-Treiber war, ist korrekt. Auf diesen Beitrag hatte ich bereits an anderer Stelle verwiesen.
  • Den Rest von Teil 1 lasse ich einfach mal so stehen. Es ist immer Geschmackssache, wie man die Zukunft aus den großen Linien der Vergangenheit ableitet. Was Todd sieht, ist in der Realität nur eine Möglichkeit, aber eine Sichtweise, die in Frankreichs Opposition, auch bei rechten und linken Souveränisten und Gaullisten viel Unterstützung hat. Die regierenden Sozialisten sind geistig und politisch tot und haben für die Zukunft wenig Bedeutung. Frankreich ist ein Land, das auf Dauer die Unzufriedenheit seiner Bürger und ernsthaften Kritiker (anders als Deutschland) nicht unterdrücken und sich selbst deshalb neu erfinden wird, ohne viel Rücksicht auf das zu nehmen, was ein Hollande heute zusagt.
    Die deutschen Medien täuschen uns über diese Aussicht dadurch, dass sie diese Ideen allein im Front National ansiedeln und wahlweise dämonisieren oder lächerlich machen. Wer sich auf die deutschen Medien verlässt, ist aber verlassen.

Teil 2: Das Ende des Westens

Teil 3: Merkels Deutschland im manischen Modus

Teil 4: Brexit – wie geht es weiter?

 

 

Anti-Populismus und Anti-Nationismus

Der letzte Auszug aus Emmanuel Todds „L’illusion économique“ von 1998 (Deutscher Titel: „Die neoliberale Illusion„) stellte die These auf, dass Demokratie und Nation durch die Entstehung einer höher gebildeten Schicht in allen entwickelten Gesellschaften mehr oder weniger stark unter Druck geraten seien. Die neue Ungleichheit sei nicht Folge der  Globalisierung und des Neoliberalismus, sondern der Ausbreitung neuer Bildungsunterschiede. Die neue soziologische Ungleichheit sei ihrerseits der Motor der  Globalisierung und dessen, was wir gemeinhin „Neoliberalismus“ nennen.
In diesem  Auszug geht es jetzt um die Techniken und Argumente, mit denen die höher gebildeten Schichten das Volk entmündigen und entmachten wollen:

Der Anti-Populismus in Frankreich

Der Mai 1968 stellt einen Wendepunkt dar. Die Ereignisse setzten ein letztes Mal die Solidarität der Arbeiterschaft und der linken kulturellen Elite in Szene. Die revoltierenden Studenten proklamieren lautstark ihre Solidarität mit der Welt der Fabriken. Das Unterbewusstsein der linken Bewegung ist jedoch bereits inegalitär…. Als die Agitation einmal abgeklungen ist, beinhalten die nachfolgenden linken Bewegungen eine starke antipopuläre Komponente. 20 Jahre vor Maastricht, mehr als 10 Jahre vor der Entstehung des Front National, beginnt die Anklage gegen das französische Volk, seine Neudefinition als intellektuell und moralisch ungenügend durch Eliten, die sich für links halten…
Die Verteufelung des Volkes ist der Entstehung des Populismus um 15 Jahre vorangegangen. Um genau zu sein, hat sie diese Entstehung provoziert…

Das Unterbewusstsein ist inegalitär und leitet sich von der neuen kulturellen Schichtenbildung ab. Es drückt sich auf brutale Art durch die Verachtung der populären Haltungen aus, wenn sich ganz präzise politische Anlässe bieten. Die Anhänger des Neins zum Maastricht-Vertrag werden mit unkultivierten Wesen in Verbindung gebracht, manchmal mit Analphabeten. Das Volk „versteht nicht“ die „Notwendigkeit“ der Währungsunion, noch die von Reformen für mehr Flexibilität, die einer Senkung der Gehälter, die einer Infragestellung der Sozialversicherung oder der Umgehung des Rentensystems durch Pensionsfonds. Die Verblendung der Eliten sticht hier ins Auge, weil es ja offensichtlich ist, dass das einfache Volk im Gegenteil die Spielchen mächtig gut versteht, die man mit ihm spielen will.

Eine allgemeine Tendenz der Presse, das Ausmaß von Problemen mit Analphabetismus zu überschätzen, verrät die neue soziokulturelle Situation. Eine Überschrift der Tageszeitung „Le Monde“ vom 3. Mai 1996 … ist charakteristisch: „26% der Schulkinder können am Ende der Regelschulzeit nicht lesen oder rechnen.“ Eine solche Darstellung suggeriert die Existenz eines guten Viertels von Analphabeten in der französischen Bevölkerung. Die Betrachtung der Detailergebnisse im Artikel selbst zeigt, dass nur 9% der Schüler die Basiskompetenzen beim Lesen nicht beherrschen und dass 23,5% Schwierigkeiten beim Rechnen haben. Die logisch absurde Vereinigung der beiden Kategorien führt zu Definition einer großen kulturell zurückgebliebenen Klasse, eines illegitimen Volkes. Rein anekdotisch kann man gar nicht anders als vom mathematisch fehlerhaften Titel des Artikels ableiten, dass sein Autor zu den 23,5% der Franzosen gehört, die Schwierigkeiten mit dem Rechnen haben. Aber das beharrliche Bestehen der Presse auf diesem Fehler zeigt das inegalitäre kulturelle Vorurteil. Am 27. September 1997 zögert die Wochenzeitung „Le Point“ nicht zu behaupten, dass 40% der Kinder nicht lesen können. Der bereits radikale Pessimismus der „Monde“ wird weit überschritten, aber auf Kosten jeder soziologischen Glaubwürdigkeit. Bei diesem Niveau von Analphabetismus, das für bestimmte Länder der Dritten Welt typisch ist, müssten wir ständig von Passanten angesprochen werden, damit wir ihnen helfen, einen Straßennamen zu entziffern, ihre Kreditkarte zu benutzen oder eine Telefonnummer zu tippen.
Mit der Denunziation des „Populismus“ durch die „Eliten“, zwanghaft in der ersten Hälfte der 90er Jahre, streift das inegalitäre Unterbewusste am Auftauchen ins Bewusstsein vorbei. Der Populismus ist eine der französischen politischen Kultur völlig fremde Kategorie. Er ist unvorstellbar im Land von 1789, 1830, 1848, 1871 und 1936. Was denunziert wird, ist also ganz einfach das Volk und sein Recht sich auszudrücken durch Wahl, Streik oder eine Demonstration.…

In den kultivierten Klassen führt die Kombination eines egalitären Unbewussten und eines inegalitären Unterbewussten dazu, dass sie sich mit den Immigranten solidarisch fühlen und losgelöst von den Arbeitern mit älteren französischen Wurzeln… Das Paris derjenigen mit einem Hochschulabschluss … hat sich entflammt für die Verteidigung der Rechte der Immigranten, nachdem es bewegt wurde durch die Probleme der illegalen Einwanderer ohne Papiere, aber es gelingt ihm immer noch nicht, sich für das Volk in den Provinzen zu interessieren, das gefoltert wird von einer Europa- und Wirtschaftspolitik, die nicht aufhört, die Arbeitslosigkeit steigen zu lassen.

Die Ablehnung der Immigranten durch die Arbeiter, die Liebe der höheren linken Kader ausschließlich für die Immigranten sind die beiden komplementären Gesichter der gleichen Tendenz der französischen Gesellschaft zur Perversion des egalitären Sentiments.

Die Fragmentierung der Nationen als endogenes Phänomen: der Anti-Nationismus

Wir können jetzt den wirklichen Sinn der Angriffe verstehen, deren Objekt die Nation ist, von Seiten der Ökonomen, die ihre Überwindung feiern, wie von Seiten der Ideologen, die ihre intrinsische Barbarei stigmatisieren. Die offensichtliche Auflösung der Nation ist ein endogenes Phänomen, das aus der Aufspaltung der kulturellen Sphären resultiert. Ihre Entstehung war eine Wirkung der egalitären Homogenisierung, ihre Infragestellung eine Folge der kulturellen Aufspaltung. Man sieht, wie der Anti-Nationismus eine Ungleichheitsmaschine ist. Denn die Nation, die die Reichen und die Armen in ein Netz aus Solidaritäten einschließt, ist für die Privilegierten in allen Augenblicken eine Unannehmlichkeit. Sie ist die Voraussetzung von Institutionen wie der Sozialversicherung, die in der Praxis ein System der nationalen Umverteilung ist, unverständlich ohne die Hypothese einer Gemeinschaft von solidarischen und gleich(wertig)en Individuen. Der Anti-Nationismus ist für die höheren Klassen, die sich von ihren Verpflichtungen befreien wollen, funktional, wirksam und diskret. Er ist geeignet, den der (französischen) Gesellschaft innewohnenden Egalitarismus zu delegitimieren, indem er ein ganz und gar ehrenwertes Projekt aktiviert, das den Nationalismus überwindet und mit ihm die Phänomene von Aggressivität zwischen Völkern…
Die endogene Dynamik der Fragmentierung der Nationen drückt sich aus durch die wirtschaftliche Öffnung und führt zu dem sichtbaren und bewussten Phänomen, das die Globalisierung ist….

Vom demografischen, anthropologischen Standpunkt oder vielleicht sogar vom gesunden Menschenverstand aus, sind das Volk und die Nation essentiell ein und dieselbe Sache. Ich würde sagen, dass die Infragestellung Frankreichs durch die französischen Eliten das Erscheinen des National-Populismus provoziert hat.

Ein Widerspruch für alle Nationen:
die Koexistenz von Gleichheit und Ungleichheit


Die Homogenisierung durch die Massenalphabetisierung ist eine Errungenschaft, die in keiner Weise durch das ungleiche Fortschreiten der höheren Bildung in Frage gestellt wurde. Die verschiedenen entwickelten Nationen der Welt sind heute auf der Ebene der Primärbildung homogener als jemals zuvor in ihrer Geschichte…
Das ist das fundamentale Paradoxon der entwickelten Gesellschaften: die Überlagerung einer unangetasteten nationalen Homogenität und einer neuen Schichtenbildung, die mit der Entwicklung der sekundären und höheren Bildung in Zusammenhang steht. Die privilegierten Klassen versuchen, den Widerspruch so zu drehen, dass sie sich einen Anstieg des Analphabetismus in den unteren Klassen einreden. Aber die soziologische Wahrheit ist, dass die entwickelte Welt mit dem Widerspruch seiner primären nationalen Homogenität und kulturellen Schichtenbildung darüber leben muss. Deshalb ist das Verschwinden der Nation eine Illusion, auch wenn der Anti-Nationismus sehr wohl eine Doktrin unserer Zeit ist. Er ist eine tragische Illusion, deren Macht zu einer wirtschaftlichen Inkohärenz der entwickelten Welt geführt hat durch die desaströsen Experimente, die der komplett freie Welthandel und die Währungskonstruktion Europas darstellen.

Kommentar:

  • Die für die Argumentation zentrale Beobachtung Todds zur Übertreibung und Instrumentalisierung des Analphabetismus durch die Medien kann ich aus persönlicher Erfahrung bestens bestätigen: jahrelang habe ich solche Hiobsbotschaften ebenfalls in den Zeitungen gelesen und wirklich geglaubt, dass die Schulbildung der Kinder generell den Bach runtergeht. Als dann meine ältesten Kinder in der Grundschule waren und ich mir die Arbeitsblätter und Lernkonzepte mal genauer angesehen habe, hat es mich wie der Blitz getroffen: das war (in einer ganz normalen Grundschule genau zwischen einem eher einfachen und einem bürgerlichen Stadtteil Münchens) in Darstellung und Niveau um Klassen besser als alles, was wir in der guten alten, heilen Zeit der 70er Jahre in der Grundschule eines Schwarzwald-Dorfes gemacht hatten. Und auch heute noch ist die Grundschule genauso gut, wie ich täglich an meiner jüngeren Tochter sehe. Todd hat Recht: das Volk wird nicht dümmer, solange es nicht zu sehr auf das selbstgefällige Gewäsch von Medienleuten hört.
  • Fast jeder kennt derzeit die Kommentare in Medien, dass es ein Fehler gewesen sei, das britische Volk über den Brexit abstimmen zu lassen. Die gleiche Art von Geringschätzung gerade in als „links“ geltenden Medien für die demokratische Praxis der bewährten Schweizer Volksabstimmungen ist mir schon zuvor deutlich aufgefallen. Solche Ressentiments haben keine empirische Grundlage: das schweizerische politische System produziert seit 150 Jahren bessere Ergebnisse als das deutsche. Sie gründen in einem inegalitären, antidemokratischen Unterbewusstsein, mit dem „höhere“ Menschen (alias: moderne Priester) sich einreden, dass sie das Volk zu seinem Besten bevormunden sollten. Und wichtig ist, dass diese Tendenzen nicht neu sind, sondern für wachere, intelligentere Beobachter (als ich es bin) schon sehr lange erkennbar sind und zum Beispiel in diesem Buch schon vor 18 Jahren detailliert beschrieben wurden.
  • Mir ist das von Todd beschriebene Phänomen einer völlig verzerrten Elitensicht erstmalig 2002/2003 in der Debatte um den 2. Irakkrieg extrem stark aufgefallen: alle öffentlichen Argumente für den Krieg standen erkennbar auf wackligen Beinen und haben sich bald als Unsinn erwiesen. Trotzdem war „dumm und unwissend“ damals immer nur das oppositionelle Volk, das sich besonders zahlreich und wütend in England versammelt hat. „Verantwortungslos und populistisch“ waren diejenigen Politiker und Journalisten, die aus dem Elitenkonsens ausgeschert sind, nicht diejenigen, die ihn mit falschen Behauptungen und offenen Drohungen erzwingen wollten. Todds Analyse bringt es auf den Punkt: es handelt sich um einen mit Argumenten nicht widerlegbaren Anspruch einer selbsternannten „Elite“, auch gegen das Volk zu regieren und „Populisten“ deshalb als besonders gefährliche Gegner zu bekämpfen.
  • Todd führt den französischen Anti-Populismus allein auf die 68er Bewegung zurück und bestätigt damit eine Ansicht, die in der deutschen Rechten ebenfalls sehr verbreitet ist.Es wäre aber absurd zu behaupten, dass er der Rechten nachläuft, denn er polemisiert schon seit Jahrzehnten gegen den Elitenkonsens, insbesondere den linken. Andererseits hindert ihn das nicht daran, sich für die soziale Frage und gleichzeitig für die Assimilation von muslimischen Einwanderern stark zu machen. Im dritten Schritt lehnt er dann wieder Masseneinwanderung scharf ab. Ein bewundernswerter Freigeist und sozialliberaler Patriot!
    In Deutschland gibt es auch einen sehr alten Anti-Populismus, der früher gerne gegen links aktiviert worden ist. Aber den 68er Anti-Populismus gibt es hierzulande sicherlich auch. Dieser verbündet sich gerne mit dem alten Anti-Populismus und geißelt dann „die Querfront“.

Höhere Bildung, höhere Menschen

Der vorangegangene Text aus Emmanuel Todds „L’illusion économique“ von 1998 (Deutscher Titel: „Die neoliberale Illusion) behauptete im letzten Satz:
Genau eine kulturelle Entwicklung, eine notwendige Folge des Alphabetisierungsprozesses, hat die Idee der Ungleichheit begünstigt und diese doppelte Verneinung (von Nation und Demokratie) ermöglicht.
Diese Entwicklung wird in diesem Kapitel beschrieben:

Von der höheren Bildung zu den höheren Menschen

Wenn die Alphabetisierung der Massen einmal realisiert ist, bleiben die Gesellschaften nicht stehen in einem stabilen Zustand der allgemeinen primären Bildung. Die Menschheit geht ihren Marsch nach vorne weiter durch die Verbreitung der Sekundärbildung und der Hochschulausbildung. Aber die Entstehung einer postprimären Bildung, die quantitativ bedeutend ist, bricht die Homogenität des sozialen Körpers. So bricht ein neuer soziokultureller Zyklus an: Die Entstehung einer massiven Gruppe, die durch höhere Studien definiert wird, seien sie abgeschlossen oder nicht, ist eines der entscheidenden Phänomene der Nachkriegszeit, die versteckte Kraft, die auf die meisten der wesentlichen ökonomischen und politischen Veränderungen drückt. Diese Entwicklung wurde zunächst als ein positives Phänomen wahrgenommen, als eine der unzähligen und zuträglichen Erscheinungsformen des Fortschritts. Die Entwicklung der Universitäten und der Anzahl von Studenten war eine neue Jugend der Welt, die sehr schnell in der gesamten westlichen Sphäre in mächtige Bewegungen des Protests mündet: gegen den Krieg in Vietnam, den sexuellen Konformismus und den Autoritarismus der Vergangenheit. Aber diese Studenten, die sich mit der Zeit in Erwachsene reifen Alters verwandeln, haben schließlich durch Zusammenballung zusätzlicher Schichten eine wahrhafte soziokulturelle Schichtstufe gebildet, die intellektuelle Kompetenzen, moralische Gewohnheiten und spezifische politische Werte trägt, von denen wir sehen werden, dass sie heute weit davon entfernt sind, die Idee vom Fortschritt zu begünstigen.

Die glückliche Überraschung der Jahre 1500-1900 wird gewesen sein, dass die Schrift, die zu Beginn das magische Instrument der Priester gewesen war, tatsächlich für alle zugänglich war. Die schmerzhafte Offenbarung der Jahre 1950-1990 wird gewesen sein, dass die Sekundär- oder  Hochschulbildung nicht in egalitärer Weise auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt werden kann.

Man kann die wahre Ursache der Rückkehr der Idee von der Ungleichheit unter den Menschen nicht besser auf den Punkt bringen. Diese Ursache ist nicht ökonomisch, sondern tiefer im Unterbewusstsein der fortgeschrittenen Gesellschaften angesiedelt: es handelt sich um die kulturelle Fragmentierung, die durch die Sekundär- und Hochschulbildung herbeigeführt worden ist. Dieses Unterbewusste beeinflusst alle bewussten Vorstellungen von der sozialen Struktur. Die Lehren von der Ungleichheit florieren; die ökonomischen Ungleichheiten verschärfen sich. Wir finden hier eine gegenüber dem Aufstieg des Ideals der Gleichheit während der Phase der Homogenisierung der Gesellschaft durch die Massenalphabetisierung umgedrehte Bewegung. Der Vormarsch der Primärausbildung zog den der Demokratie nach sich; derjenige der Sekundär- und Hochschulausbildung die Wiederinfragestellung der Demokratie…

Auch zur Frage der Legitimation der Höherstellung der höher gebildeten Schichten trifft Todd in diesem Buch Aussagen:

Die Wiederkehr der Ungleichheit und die Fragmentierung der Nationen

…Was soll es für die ökonomische Theorie, dass die Bestbezahlten der Bestbezahlten nicht die Wissenschaftler sind und die Ingenieure, deren wirtschaftliche Nützlichkeit gewiss ist, sondern die Verhandler von Verträgen und die Medienleute – die von Robert Reich in „The Work of Nations“ so genannten „Manipulateure der Symbole“, deren Aktivität sich nicht in einer Erhöhung der nationalökonomischen Produktivität ausdrückt. Die Privilegierten nach Reich, der selbst Anwalt ist, sind nur noch ausnahmsweise die wissenschaftlichen und technischen Meritokraten, die von früheren Generationen angepeilt worden sind…
Als Michael Young 1958 in „The Rise of the Meritocracy“… die neue soziale Schichtenbildung beschrieben hatte, die logisch aus dem Bildungsfortschritt entstehen musste, waren seine Meritokraten noch Wissenschaftler…
Der Meritokrat der Jahre 1950-1970, Anführer einer egalitären Gesellschaft, begründete seine Existenz durch seine technische Fähigkeit, die Natur zu dominieren und aus ihr die Produktivitätsgewinne für alle zu erzielen. Der Meritokrat des Jahres 2000 dominiert die Gesellschaft und entzieht aus ihr das Einkommen für sich selbst…
Es ist nicht alles falsch in den Erklärungen der Ungleichheit, die die spezifische ökonomische Nützlichkeit bestimmter höherer intellektueller Ausbildungen hervorheben. Man findet in jeder industriellen Gesellschaft einen erhöhten Anteil von Individuen, deren intellektuelle und technische Kompetenz erklärt, dass sie besser bezahlt werden als Arbeiter ohne Qualifikation, ein Phänomen, das im Zeitalter der Automatisierung besonders offensichtlich ist. Aber wir wissen alle, dass weder die Doktoren der Molekularbiologie, noch die Ingenieure, die die Atomkraftwerke, den Airbus, den TGV und die Ariane-Rakete ersonnen haben, noch sogar die Informatiker, die die Algorithmen ausarbeiten, die zur Ersetzung der unqualifizierten Arbeit notwendig sind, die wirklich privilegierten des Systems sind. Der Multiplikationsfaktor, der es erlaubt, vom Lohn eines Arbeiters zum Gehalt eines Forschers zu kommen, ist weder in Frankreich noch in den USA maßlos zu nennen.
Der industrielle Wert eines Ingenieurs ist unbestreitbar höher als der eines unqualifizierten Arbeiters. Aber es ist nicht möglich, die Nützlichkeit eines Arbeiters direkt derjenigen eines Anwalts oder eines hohen Beamten gegenüber zu stellen. Die amerikanischen Anwälte, die ihr Gehalt aus der Ausbeutung der Fehlfunktionen ihrer Gesellschaft ziehen, haben keinen wirtschaftlichen Wert auf internationaler Ebene. Es ist außerdem gewiss, dass die Inspektoren der französischen Finanzverwaltung zwar sehr gut aufgestellt sind, um ihre Privilegien beim Gehalt und der Arbeitsplatzsicherheit zu verewigen, aber für die französische Gesellschaft wegen ihrer krassen Inkompetenz in Wirtschaftsfragen eher einen Netto-Kostenfaktor als einen Gewinn darstellen. Ihre soziale Nützlichkeit ist negativ. Wenn wir die Informatiker aus Frankreich ausweisen, bricht das Bruttoinlandsprodukt zusammen. Wenn wir die Inspektoren der Finanzverwaltung deportieren, die den starken Franc lieben, wird sich das Bruttoinlandsprodukt wieder erholen. Aber wir können bei einem höheren Gehaltsniveau selten bestimmen, was von einem inneren ökonomischen Mehrwert kommt, und was sich von einer spezifischen Fähigkeit ableitet, der Gesellschaft Werte zu entziehen, von einer sozialen Rente zu profitieren…

In einem früheren Kapitel hat sich Todd insbesondere mit den USA beschäftigt, die nach seiner Darstellung in den 50er bis frühen 60er Jahre ihren höchsten kulturellen und Ausbildungsstand erreicht hatten und den europäischen Nationen weit enteilt waren, bevor sie diesen Stand weder verbessern noch halten konnten und von einem brutalen Rückschlag ereilt wurden, von dem sie sich bis heute nicht mehr erholt hätten. Er schreibt nach einer ausführlichen Besprechung der Bildungsstatistiken, die diesen Befund belegen:

Der Absturz der Jahre 1963-1980

…Man kann, wenn man sich dieses Absackens nicht bewusst ist, die zahlreichen regressiven Phänomene nicht verstehen, die in den 70er, 80er und 90er Jahren das amerikanische Leben befallen: die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die intellektuelle und künstlerische Provinzialisierung, die Entstehung eines schnellen und gewalttätigen Kinos, die Entwicklung absurder Sozial- und Geschichtswissenschaften, die den Konflikt zwischen Mann und Frau ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellen (gender studies), die Obsession mit sexueller Belästigung, die Infragestellung der Abtreibung, die Rückkehr von Kreationisten, die Darwin und der Entstehung der Arten feindlich gegenüberstehen, die Verrottung der Justiz und eine Repression mit einer Anzahl von Individuen, die eine Strafe im Gefängnis absitzen, die zwischen 1980 und 1993 von 1´840´400 auf 4´879´600 ansteigt. Die massive Wiederkehr der Todesstrafe drückt besser als jedes andere Phänomen die geistige Regression aus, die die amerikanische Gesellschaft befallen hat: die Anzahl der Häftlinge, die in der Zelle auf ihre Hinrichtung warten, steigt zwischen 1980 und 1994 von 688 auf 2890. Diese Modernität entkoppelt sich effektiv von der Idee des Fortschritts.

Fazit:

  1. Todd sieht die Ursache für den Niedergang sowohl von Demokratie als auch Nationen in einer neuen Ungleichheit, die die Ergebnisse von Jahrhunderten der Egalisierung und Demokratisierung angreift.
  2. Eine neue Kultur der Ungleichheit gehe von dem erheblichen (i.A. ca. 20%) Teil der Bevölkerung aus, der sich mit seiner höheren Bildung zu einem höheren Menschen machen wolle.
  3. Dieser Teil der Bevölkerung sei in Europa in der 68er-Epoche unter linker Flagge gesegelt, habe aber jedes linke Ideal, insbesondere das einer A-Priori-Gleichheit der Menschen und einer meritokratischen Ausübung von Führung beinahe flächendeckend über Bord geworfen und in sein Gegenteil verkehrt.
  4. Die rein ökonomische Begründung der Ungleichheit sei nicht haltbar. Die Ungleichheit sei nicht Folge, sondern der geistige Motor, der die wirtschaftliche Entwicklung (in einer fatalen Richtung) antreibe.
  5. Die „Illusion“ im Titel seines Buches bezieht sich also nicht nur auf die Illusionen in den Erwartungen an die wirtschaftliche Entwicklung (die er auch erläutert, unter anderem an Hand der Entwicklung der Demografie und der massiven Ungleichgewichte und Verschuldung in der Weltwirtschaft, was sich inzwischen brillant bestätigt hat), sondern vor allem auch in der Verdrehung der Beziehung von Ursachen und Wirkungen.
  6. Todd ist ein überragender Denker auch linker (=egalitärer), vor allem aber rationalistisch-liberaler Ausrichtung, wie es nur sehr wenige gibt. Mit seinem furchtlosen Nonkonformismus und seiner legendären Vorhersagekraft bei der empirischen Analyse auch und vor allem linksautoritärer Regressionen hat er seit seinem spektakulären Erfolg von 1976 nicht nachgelassen: „Vor dem Sturz. Das Ende der Sowjetherrschaft.