Europa in die Luft gejagt

Es gibt da einen deutschen Sozialwissenschaftler, der richtig gute Analysen abliefert, die der deutschen politischen Klasse nicht schmecken dürften. Ich hatte bis Mai nichts von ihm gehört, eine Bildungslücke, dann aber diesen erstklassigen Beitrag in der FAZ gelesen. Schaut genau hin, Ihr jungen Leute: so haben früher Linke geschrieben als sie noch kritisch waren! Ja, ja, man glaubt es nicht mehr, aber die waren wirklich mal analytisch und nicht gläubig-moralisch.Trotzdem durfte Streeck nach dem Brexit-Votum seine scharfe Meinung in der ZEIT kundtun, ein bisschen.
Dieser Wolfgang Streeck hatte bereits im März in der London Review of Books einen Artikel veröffentlicht, in dem er Merkels Politik und ihren Politikstil frontal angegangen ist. Dazu ist jetzt ein Update in einem Organ der University of Sheffield erschienen, in dem er das Brexit-Votum in diesem Licht wesentlich detaillierter analysiert als im ZEIT-Artikel. Dieses Papier ist so voller schlauer und ausgearbeiteter Einsichten in die europäische, deutsche und englische Politik, dass ich es hier in Auszügen wiedergebe:

Europa zur Explosion bringen: Deutschland, die Flüchtlinge und das Brexit-Votum

Es ist nun klar, dass Einwanderung ein sehr gewichtiger, wenn nicht der wichtigste, Grund war, warum die Briten dafür stimmten, die Europäische Union zu verlassen.
…Die Osterweiterung im Jahr 2004 brachte eine Welle der Einwanderung aus Polen und anderen Ländern, gefördert von der „New Labour“ Regierung jener Zeit, die die von den Verträgen erlaubte Übergangsperiode vorbeiwinkte und die Freizügigkeit in den britischen Arbeitsmarkt sofort in Kraft treten ließ. Es gibt Gründe anzunehmen, dass das als Antwort auf lange bestehende Qualifikationsdefizite bei den heimischen Arbeitskräften geschah, zurückzuführen auf zu geringe Investitionen in Ausbildung, und ganz allgemein, um Druck auf britische Arbeiter besonders am unteren Ende der Lohnskala auszuüben, „wettbewerbsfähiger“ zu werden. Das Ergebnis war ein wachsendes Ressentiment beim einfachen Volk gegen die Einwanderungs- und Arbeitsmarktpolitik der Regierung einschließlich der kosmopolitischen moralischen Rhetorik zu ihrer Verteidigung.

David Camerons Initiative, kosmetische Änderungen an den Europäischen Verträgen auszuhandeln und dann ein Referendum anzusetzen über die britische EU-Mitgliedschaft war teilweise eine Reaktion auf das sich aufbauende Anti-Einwanderungs-Ressentiment. Die Hoffnung war, genug Konzessionen von Brüssel bei der Freizügigkeit zu gewinnen, damit die Regierung den Euro-Separatismus besiegen konnte, der besonders von einer neuen politischen Partei, UKIP, vertreten wurde. Ein Votum für ‚Remain‘ sollte auch eine dauerhafte Legitimität für einen offenen nationalen Arbeitsmarkt mit einem effektiv unbegrenzten Nachschub an Arbeitskräften schaffen. Camerons Gegner, die von seinem langjährigen Rivalen Boris Johnson angeführt wurden, sahen das Referendum als eine Gelegenheit, die Labour Party entlang des Risses zwischen ihrer traditionellen Basis aus der Arbeiterklasse und ihren Unterstützern aus den liberal-kosmopolitischen Mittelklassen zu spalten und sowohl UKIP als auch einwanderungsfeindliche Wähler aus der Arbeiterklasse in das konservative Lager zu holen.

Dass, zur Überraschung beider, Cameron verlor und Johnson gewann, darf zu einem guten Teil der Entfaltung der „Flüchtlingskrise“ von 2015 in Europa zugeschrieben werden, wie sie von Deutschland und der Regierung von Angela Merkel gehandhabt wurde. Die speziellen Pathologien der deutschen Politik, wie sie sich besonders aber keinesfalls ausschließlich in der deutschen Asyl- und Einwanderungspolitik zeigen, mit ihrem Potenzial ohne Absicht, aber umso effektiver die Europäische Union in die Luft zu jagen, waren schon Anfang 2016 erkennbar, als mein ursprünglicher Artikel geschrieben wurde, zu dem dieser ein Nachtrag ist. Dass die massive Kontraproduktivität des deutschen Pro-Europäismus für den europäischen Zusammenhalt nur wenige Monate später so dramatisch ans Licht kommen würde, in einem so schicksalhaften Ereignis wie dem britischen Votum, wollte sogar ein „Euro-Pessimist“ damals kaum vorhersagen. Aber die Zutaten zu einer langen Serie von Unfällen, die nur darauf warteten zu passieren, waren vorhanden wie in dem Artikel beschrieben: im Besonderen eine spezifisch deutsche politische Weltsicht, die sich auf eine moralistische Leugnung der Existenz legitimer nationaler Interessen gründet und die deutsche politische Klasse zwingt und es ihr auch erlaubt, deutsche Interessen und Politik als allgemein europäische darzustellen, zu denen es weder deutsche noch irgendwelche anderen nationalen Alternativen geben könne; ein tief wurzelndes ethnozentrisches Missverständnis mit der Wirkung, dass die Signale aus der deutschen Innenpolitik und der deutschen Öffentlichkeit an die Politik europäische Signale seien und dass deutscher Common Sense gleichzeitig auch europäischer wenn nicht sogar globaler Common Sense sei; ein deutsches politisches System parlamentarischer Regierung, dass von einem Kanzler in der Art eines unparteiischen Präsidenten kontrolliert wird und so schnelle und unvorhersehbare 180-Grad-Kehren erlaubt, wenn es Gelegenheiten erlauben oder Notwendigkeiten erfordern; sowie die Abwesenheit einer Opposition, die unangenehme Fragen stellt und auf diese Weise auch für die Außenwelt die Interessen offenlegt, die an der Basis politischer Entscheidungen liegen, die als humanitäre Pflichten jenseits politischer Wahlmöglichkeiten dargestellt werden.

Historiker werden in den kommenden Jahren die Motive hinter der Öffnung der deutschen Grenzen im Spätsommer 2015 auseinanderpflücken müssen. Eines scheint der Wunsch gewesen zu sein, die Aufmerksamkeit abzulenken von dem von Deutschland betriebenen Massaker an der griechischen Syriza-Regierung…
Auf der weniger emotionalen Seite standen der chronische Hunger der deutschen Wirtschaft nach Arbeitskräften, besonders die Furcht unter deutschen Arbeitgebern vor einem Arbeitskräftemangel, der die Löhne nach oben treiben oder Produktionsverschiebungen ins Ausland zur Verteidigung des internationalen Marktanteils erzwingen würde….

Das Ergebnis war eine unwiderstehliche Versuchung, Flüchtlings- und Asylpolitik als Ersatz für eine wirkliche Einwanderungspolitik zu nutzen – eine Einwanderungspolitik durch die Hintertür…Anders als konventionelle Einwanderung, für die die Regierung hätte die Verantwortung übernehmen müssen, hatte Einwanderung wegen Asyl- und Flüchtlingsschutz den Vorteil, dass sie als humanitäre Pflicht dargestellt werden konnte, und sogar als eine, die vom internationalen Recht in einen Schrein eingeschlossen wurde, zu der es „keine Alternative“ gab, weder moralisch noch rechtlich. Ökonomische Argumente für Einwanderung hätten bestritten werden können und hätten Fragen über Löhne und Arbeitsmöglichkeiten für gegenwärtige und künftige deutsche Arbeiter provozieren können, während humanitäre Argumente die Unterstützung der Kirchen und derjenigen erhalten würden, die an eine besondere deutsche Verantwortung  in humanitären Fragen glauben. Darüberhinaus konnten das deutsche, europäische und internationale Recht zum Asyl und zur Behandlung von Flüchtlingen so gelesen werden, also ob sie keine Obergrenze für die Zahl der Einwanderer erlaubten, die ein Land aufnehmen müsse, so dass die Entscheidung über das Ausmaß der Einwanderung externalisiert und Merkels Behauptung zusätzliche rechtliche Bedeutung gegeben werden konnte, dass in einem Zeitalter der „Globalisierung“ Grenzen nicht länger kontrolliert werden könnten – einer Behauptung, die in europäischen Hauptstädten auf vollständiges Erstaunen gestoßen war.

Einwanderungspolitik, die als Asyl- und Flüchtlingspolitik getarnt war, hatte den zusätzlichen Vorteil, dass sie „europäisiert“ werden konnte, womit die Brüsseler Maschine für die Umsetzung und Legitimierung genutzt werden konnte. Dafür mussten die anderen Mitgliedsstaaten dazu gebracht werden, die deutsche Interpretation internationalen und europäischen Rechts zu teilen oder wenigstens so zu tun als ob

Niemand sonst war jedoch bereit, das zu unterschreiben. Also wurde Ungarn, ein kleines Mitgliedsland, dessen Regierung zufällig in liberalen Kreisen unpopulär war, als Sündenbock ausgewählt und öffentlich niedergemacht, als es tat, was es unter Schengen für seine Pflicht hielt, d.h., seine Grenzen zu überwachen. Europäisierung, und sei es nur auf dem Papier, sollte Merkels Flüchtlings-mit-Einwanderungspolitik in Deutschland unangreifbar machen, insbesondere weil sie die Weigerung der Regierung, eine „Obergrenze“ festzulegen, mit Quoten für die Zuweisung von Flüchtlingen und Asylbewerbern an Mitgliedsländer abzuschwächen versprach…

Wie Merkels Trick auseinanderfiel und wie es dazu kam, dass die europäische Integration, wie wir sie kennen, endete, kann hier nicht im Detail nachgezeichnet werden… (es folgt eine lange Beschreibung des bekannten Stimmungsumschwungs und der Probleme in Deutschland und Europa)…
Darüberhinaus haben die deutsche Regierung und ihre weitverzweigte Maschine in Brüssel jede Authorität über die Flüchtlingspolitik der Mitgliedsländer verloren mit dem Ergebnis, dass sie jetzt effektiv renationalisiert sind.

Nicht alles, was Deutschland Europa als europäische Politik aufdrängt, wird von anderen EU-Ländern ernst genommen, heute weniger denn je. Um zu vermeiden, der deutschen Kanzlerin öffentlich zu widersprechen, ihr Ansehen in ihrer heimatlichen Öffentlichkeit zu beschädigen und Vergeltung dafür zu provozieren, schweigen europäische Anführer und wahren für sich selbst die Option, ihr eigenes Ding zu machen, wenn es schließlich unvermeidlich wird, etwas zu tun. Sich gegenseitig zu helfen, das Gesicht zu wahren, ist die erste und oberste Verpflichtung für die Mitgliedschaft im Club europäischer Regierungschefs, bei weitem wichtiger als die Verfolgung gemeinsam beschlossener Politik, sofern es diese überhaupt gibt….
Britische Wähler verfolgen die europäische Politik nicht eng genug, um die subtilen Unterschiede zwischen europäischem Anschein und europäischer Realität zu erkennen, wie sie von europäischen Regierungen gepflegt werden, und nicht die ausgeklügelten Techniken, mit denen man von einem zum anderen und wieder zurück kommt. Als sie von der Flüchtlingspolitik hörten, die der deutschen Öffentlichkeit von der Merkel-Regierung als europäische Politik verkauft wurde, müssen sie befrüchtet haben, dass sie früher oder später auch von ihrem Land  wird übernommen werden müssen…Der Slogan „Die Kontrolle zurück gewinnen“ der Leave-Kampagne muss in einem erheblichen Maß gelesen werden als ein Wunsch, nicht den mysteriösen Eigentümlichkeiten einer deutschen Regierung unterworfen zu sein, die von ihrem politischen System mit beinahe grenzenloser Manövrierfreiheit ausgestattet ist und der von einer geschickt in die Ecke gedrängten Opposition erlaubt wird, ihre heimischen Bedürfnisse als europäische Interessen darzustellen, die von europäischen Werten gespeist werden…
Die Aussicht, mit der Art und Weise mitspielen zu müssen, in der Deutschland mit seiner  besonderen politischen, demografischen und Arbeitsmarktlage sich entschieden hatte, das internationale Recht zu interpretieren, mit Neuinterpretation, wann immer es deutsche Wirtschafts- und politische Interessen erfordern, war ohne Zweifel eine gewichtige Kraft hinter dem historischen Schlag für die gewohnte europäische Integration, die der Brexit war.
Kommentare:
  • Die Passagen über das Verhältnis der europäischen Regierungen (gegenseitige Hilfe beim Gesichtwahren ist die höchste Pflicht, echte Gemeinsamkeit aber die Ausnahme) sind einfach zu gut, um erfunden zu sein: That’s it!
  • Streecks Sicht auf den Brexit und die deutsche Rolle dabei ist kompatibel bzw. in großen Teilen deckungsgleich mit derjenigen, die Emmanuel Todd in einem langen Interview dargelegt hat. Todd spannt aber zeitlich und geografisch einen viel größeren Zusammenhang auf.
  • Auch Streeck weist auf die ungeheuer autoritäre Art und Weise hin, in der Deutschland gewohntheitsmäßig regiert wird: „schnelle und unvorhersehbare 180-Grad-Kehren„,“Abwesenheit einer Opposition„, harte Worte wie bei Gertrud Höhler.
    Für Deutsche, die sich von klein an an diesen autoritären Stil und den allgegenwärtigen illiberalen Moralismus gewöhnt haben, klingt das befremdlich oder gar absurd, aber in liberaleren Gesellschaften wittert man das allgegenwärtige deutsche Von-Oben-nach-Unten-Denken sehr intensiv. Besonders in England:
    „Es ist nicht das Ding der Engländer, den Deutschen zu gehorchen“ (E. Todd).
  • Todds Prognose von 1990, also vor dem Euro, dass  die Einwanderungsfrage Europa zur Renationalisierung zwingen  könnte, bleibt bemerkenswert hellsichtig.Streeck hat zwar heute viel mehr Durchblick als der deutsche Mainstream, aber gleichzeitig einen viel kürzeren Atem als Todd.
  • Dieser Meinungsbeitrag aus dem Telegraph (einem Tory-Blatt) vom März passt exakt zu Streecks Analyse.
  • Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass Deutschland in Europa zunehmend isoliert ist, was die „ethnozentrische“, deutschtümelnde Rechthaberei seiner Eliten aber nicht mindert, sondern eher steigert. Es hat sein Blatt einfach extrem überreizt und muss irgendwann die Hosen runterlassen.
  • Wenn es so weit ist, würde ich nicht gerne derjenige/diejenige sein wollen, der/die  vor das entmündigte und betrogene Volk treten muss. Genau deshalb geht es weiter wie gehabt, bis es nicht mehr weiter geht.Man erhöht einfach den Einsatz und zockt weiter, was die Schlussrechnung nicht kleiner macht.
  • Der Brexit könnte weitere Überraschungen bringen.Das ist eine ganz heiße Kiste, die sich nicht ewig schönschreiben lässt.

 

Mutter Blamage oder Patin?

Angela Merkel polarisiert mit ihrer Politik seit gut einem Jahr die Nation in so extremer Weise, wie es seit langem kein Kanzler mehr getan hat, wenn überhaupt jemals so persönlich. Das ist der traurige Anlass, um zwei Bücher vorzustellen und zu vergleichen, die ihre Politik schon früher, also mit einigem Abstand zur aktuellen Aufregung, aus ganz verschiedenen und sogar gegensätzlichen Perspektiven unter die Lupe genommen und kritisiert haben.

Mutter Blamage

mutter_blamage„Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht“ lautet der Untertitel des 2013 von Stephan Hebel, politischer Redakteur der Frankfurter Rundschau, veröffentlichten Buches. Es ist sehr kompakt und flüssig geschrieben, damit sehr leicht lesbar und konzentriert sich stark auf Angela Merkels Wirtschaftspolitik im Allgemeinen, besonders aber in der Wirtschaftskrise von 2008 und der Eurokrise seit 2010. Mit dieser Politik geht der Autor sehr hart ins Gericht: Merkel betrüge die Deutschen schamlos über die tatsächliche Lage und ihre wirklichen Interessen. Sie simuliere systematisch eine Politik der Mitte und pragmatische Lösungen, während sie in Wahrheit eine knallharte neoliberale Politik gegen Arbeitnehmer und Arme betreibe und Europa vor die Wand fahre. Ihre Eurorettungspolitik werde am Ende für die Deutschen höhere Kosten bringen als eine Politik, die die Finanzindustrie weniger und dafür die Bürger der südeuropäischen Krisenländer mehr schont. Solche Überschriften und Textauszüge bringen die Vorwürfe gut auf den Punkt:
„Mit falscher Münze: Merkel und der Euro“
„Gerade in der Eurokrise scheint es oft, als habe sich ein großer Teil der Bevölkerung mehr oder weniger unbewusst auf ein Verdrängungsabkommen mit der Regierung eingelassen: Angela Merkel tut und handelt so, als könne in Deutschland im Prinzip alles so weitergehen wie bisher, während ums uns herum der massenhafte Staatsbankrott droht…sie macht es uns leicht, die Tatsache zu verdrängen, dass diese Krise auch auf unsere Kosten, auf Kosten der deutschen Normalbevölkerung gehen wird.“
Dagegen kann ich wenig sagen, entspricht es doch in groben Zügen meiner Ansicht, dass Merkels Mischung aus ständig neuen Krediten und Spardiktaten für Südeuropa den Schaden maximieren wird. Es ist im Übrigen Konsens bei allen ernstzunehmenden Ökonomen von links bis rechts, die nicht für die deutsche Regierung oder die EU arbeiten, und wird in Deutschland u.a. von Heiner Flassbeck, Wolfgang Münchau und Daniel Stelter aus jeweils anderen Perspektiven vertreten.
Die größte Schwäche des Buches besteht aber darin, dass es Merkels Politik aus einer hermetischen und sehr konventionellen linken Sicht heraus kritisiert. Für die Eurofrage bedeutet das, dass die Möglichkeit eines geordneten Euroausstiegs oder das objektive Risiko eines chaotischen Zerfalls noch nicht einmal diskutiert, sondern geradezu tabuisiert werden. Für die ebenfalls (knapp) behandelte Energiewende bedeutet das, dass die explodierenden Kosten für die EEG-Umlage nicht der Subventionspolitik oder einem generell ausufernden Staatsdirigismus zugeschrieben werden, sondern ausschließlich der Schonung der Großverbraucher und der Industrie, was exakt auf der grünen Parteilinie liegt. So verwundert es dann auch nicht mehr, dass das Buch im letzten Kapitel für eine rot-rot-grüne Mehrheit wirbt. Interessant daran sind höchstens die Überlegungen zu einer Regierungsbildung ohne förmlichen Koalitionsvertrag und mit wechselnden Mehrheiten. Der Rest ist letztlich Mainstream aus den linken Flügeln von SPD und Grünen und pünktlich zum Wahlkampfauftakt zur Bundestagswahl 2013 veröffentlicht. Genau das lässt wichtige Teile des Buches nach weniger als 4 Jahren so konventionell, im Damals gefangen und überholt erscheinen. Passend dazu relativiert der Autor selbst seine scheinbar sehr grundsätzliche und polemische Schärfe von damals gegen die Politik von „Mutter Blamage“, indem er sie heute nur noch sehr gewogen kritisiert, obwohl sie inzwischen die damals weitgehend nur beschworene Spaltung der Nation und Europas objektiv vorangebracht hat. Das liegt wiederum ganz auf der Linie der Parteien, denen er sich offensichtlich (zu) sehr verbunden fühlt. Schlimmer: große Teile der seit 2013 bestehenden „linken“ Mehrheit, für die er gekämpft hat, haben aktiv der Merkel’schen Europolitik zugestimmt, die er in diesem Büchlein bekämpft, zuletzt im ersten Halbjahr 2015 bei der endgültigen Knechtung der griechischen Demokratie. Die Mehrheit hat sich also nach seinen eigenen Maßstäben als nichtsnutzig herausgestellt, als eine Illusion. Immerhin gehört Stephan Hebel zu den linken Kommentatoren, die nicht offen ins Lager der Merkel-Unterstützer gewechselt und sich ein wenig treu geblieben sind. Bei dem erbärmlichen, duckmäuserischen, obrigkeitsfrommen Zustand, den die deutsche Linke inzwischen in weiten Teilen erreicht hat, reicht das schon für ein Plus.

Die Patin

die_patin„Wie Angela Merkel Deutschland umbaut“ lautet der Untertitel des 2012 von Gertrud Höhler veröffentlichten Buches, die dem einen oder anderen auch aus Talkshows als scharfe Merkel-Kritikerin  bekannt sein dürfte. Die Autorin bespricht ausführlich drei Hauptkomplexe aus Merkels Politik: Eurorettungspolitik, Energiewende und ihre Art ihrer Einflussnahme auf die Wahl der drei Bundespräsidenten Horst Köhler, Christian Wulf und Joachim Gauck. Ihr Urteil ist dabei für alle drei  Bereiche dasselbe: Merkel arbeitet in erster Linie für ihren persönlichen Machterhalt, entkernt dafür hemmungslos das Programm der CDU, wischt nebenbei Gesetze vom Tisch und höhlt den Geist und den Buchstaben der Verfassung aus. Ihr wichtigstes Werkzeug dafür sei die Tarnkappe, unter der sie nicht erkennen lasse, was sie eigentlich will, vor allem dadurch, dass sie beharrlich schweige oder nichtssagende Sprechblasen produziere. Zu ihrem Politikstil und besonders zu ihrem Schweigen finden sich köstliche Sätze und sogar Kapitelüberschriften voller Bitterkeit in ihrem Buch, die es verdienen, zitiert zu werden:
„Das Schweigen der Kanzlerin als autoritäre Geste wird in Deutschland erstaunlich duldsam aufgenommen. Nahe am Schweigen lagern solche Formeln wie ‚alternativlos‘, weil sie ja ebenfalls eine Auskunftsverweigerung darstellen. Als Kanzlerin ohne Alternative hat Angela Merkel es erreicht, dass der hohe Geheimnisgehalt ihrer Stellungnahmen von den Bürgern als Entlastung von Mitverantwortung erlebt wird.“
„Lautlose Sprengungen im Wertsystem“
„Sie ist unterwegs in einer neuen Zeit, wo die Fußangeln der Gesetze durchschnitten werden können, wenn es um den Machterhalt geht wie bei den Präsidentenwahlen oder der Atomwende.“
„Fresse halten – bald auch im Parlament?“
„Kanzleramtsminister Ronald Pofalla hat die neue demokratische Parlamentskultur auf seine Weise bekräftigt:…‘Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen‘ blaffte der Flegel den Parteifreund an…Der Kanzleramtsminister gehört zum Tross, da sind Abstürze in die Gosse im Kalkül.“
„Deine Sprache verrät dich – Angela Merkel im Sprachversteck“
„Oft, wenn sie ans Rednerpult tritt, fühlen wir: Sie würde am liebsten gar nichts sagen. Vor allem: nichts Klares.“
„‘Meine Arbeit macht mir Spaß.‘…In einem Land mit so braven Gefolgsleuten, die auch Führungswillkür weiter schlucken, macht die Arbeit wirklich Spaß. Oder ist es nur dies: Glaubt sie uns Leichtfüßen diesen Ton zu schulden?“
„Die Liberalen sind für Merkels Langzeitplanung ein Störsender, dessen Themen sie nicht absaugen kann wie die anderer Parteien.“
„Dazu kommt ein autoritärer Zug des Merkelschen Regierungsstils, der nur von wenigen Beobachtern entdeckt wird, weil autoritäre Züge im allgemeinen Vorurteil eher männlich sind.“
Das waren damals ohne Zweifel sehr hellsichtige Sätze.
Die größte handwerkliche Schwäche des Buches besteht darin, dass es durch häufige  Wiederholungen derselben (richtigen) Gedanken auf ein unnötiges Volumen angeschwollen ist. Es hätte sich durchaus in einem so konzentrierten Bändchen wie „Mutter Blamage“ unterbringen lassen. Daneben erscheinen die zahllosen, überflüssigen und manieriert wirkenden Anglizismen geradezu als lässliche Sünde. Diese Kritikpunkte finden sich auch in Leserkommentaren bei Amazon.

Inhaltlich sehe ich auch heute noch die Gefahr einer überzogenen Personalisierung von Merkels Politik. Es ist ja richtig, dass die Kanzlerin bei der „Eurorettung“ eine Einheitsfront aus allen etablierten Parteien hinter eine unerträglich autoritär begründete, „alternativlose“ Politik versammelt hat. Aber: war das bei der Euroeinführung unter Helmut Kohl anders? Die Einheitsfront hat ebenso gestanden und nötige Debatten über die Sinnhaftigkeit der Entscheidungen rigoros unterdrückt. Volksbeteiligung gab es in anderen Euro-Ländern, aber (natürlich) nicht in Deutschland. Dass es ohne den Maastricht-Murks, mit dem Angela Merkel wenig zu tun hatte, die Gesetzesbrüche für die Eurorettung unter Merkel nicht hätte geben müssen und können, fällt bei Gertrud Höhler komplett unter den Tisch. Zur Wahrheit gehört auch, dass es ohne Bruch des Maastricht-Vertrages unweigerlich den Bruch des Euro (und entsprechende Vorwürfe) gegeben hätte. Ebenso fällt unter den Tisch, dass es Merkels (zu Recht) kritisierte eigenmächtige „Energiewende“ nicht gegeben hätte, wenn sie zuvor den mühsam von Rot-Grün ausgehandelten und in Gesetze gegossenen Atomkompromiss nicht ebenso leichtfertig gekippt hätte, mit breiter Zustimmung aus der CDU. Immerhin gesteht sie zu, dass dieses Werk von Schröder und Fischer die Interessen der Wirtschaft und der Versorgungssicherheit erheblich besser unter einen Hut mit der Kernenergiegegnerschaft vieler Wähler gebracht hat als später Merkels Ad-hoc-Energiewende.
Ebenso wie Hebel sich weigert, den stillen Bruch Merkels mit CDU-Traditionen zu sehen, um weiterhin linke Parteipolitik vertreten zu können, weigert sich Frau Höhler, die autoritäre Basis in der CDU-Tradition zu thematisieren, die es  Frau Merkel erlaubt hat, autoritäre Politik in Deutschland auf neue Höhen zu treiben. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sie in den letzten Kapiteln des Buches den damals frisch gewählten Bundespräsidenten Gauck zum Hoffnungsträger und großen Gegenspieler der Kanzlerin adelt. Seine Chancen, diesen Vertrauensvorschuss bis zum Ende seiner Amtszeit noch einzulösen, sind aber nicht mehr sehr groß.

Zusammenfassung und Fazit

Für eine Bewertung von Merkels Politik sollte man beide Bücher kennen. Danach betrachtet man es gleichermaßen als Rätsel, dass sie heute so viel Zustimmung von links erfährt – und früher so viel Begeisterung im liberal-konservativen Lager ausgelöst hat bis hin zu „Angie, Angie“-Rufen. Die Lektüre wird so auch zu einem Trainingslager für einen unideologischeren, kühleren Blick auf die Politik und ihre Mechanismen zur Generierung von Zustimmung.
Um zu erkennen, dass Gertrud Höhler das zeitlosere, hellsichtigere und damit erkenntnisreichere Buch geschrieben hat, muss man nur die Frage stellen, aus welchem der beiden Bücher man ihre Flüchtlingsvolte von 2015 hätte vorhersagen können. „Mutter Blamage“ wäre dafür absolut ungeeignet, der Autor kritisiert sogar in einem eigenen Unterkapitel ihre „hartherzige“ Asylpolitik und nutzt sie als Beleg für die  unverändert „neoliberale“ Ausrichtung ihrer Politik, die sie unter ihrer „Tarnkappe“ verstecke. Von Gertrud Höhlers Buch, das er ausdrücklich erwähnt, hat er diesen Begriff übernommen, den Rest verwirft er aber, weil er ihm nicht gefällt oder weil er ihn nicht verstanden hat. Aus Höhlers Sicht dagegen ist Merkels Flüchtlingspolitik von 2015 nur ein weiterer Schritt in der gleichen Richtung: Entkernung und Zerstörung der CDU, Willkür statt Herrschaft des Rechts in Deutschland und Europa. Das autoritäre Denken dahinter wird wiederum im Ausland klarer erkannt und abgelehnt als in Deutschland selbst. Hier hat Gertrud Höhler mutige und nonkonformistische Arbeit als frühzeitige Dissidentin geleistet. Das verdient mehr Anerkennung als parteikonforme und wenig erhellende Kritik an Angela Merkel als Vertreterin rein „neoliberaler“ Politik. Ihre Grundthesen sind bis heute nicht widerlegt und werden von ihr auch aufrecht erhalten.

Ausblick

Beide Autoren stimmen überein, dass Angela Merkel unter einer Tarnkappe Politik macht, hinter der sich wahlweise eine unveränderte „neoliberale“ Agenda oder der pure Machterhalt als wahres Ziel verbergen. Beide werfen nicht einmal ansatzweise die Frage auf, ob sie möglicherweise unter ihrer Tarnkappe für fremde Interessen arbeitet, die weder ihre eigenen noch die ihres Landes sind. Solche Überlegungen bleiben anderen Autoren überlassen. Solche gibt es in eher linker und eher rechter Geschmacksrichtung, und sie sind so einfach nicht von der Hand zu weisen. Jedenfalls würden sie zu Gertrud Höhlers Machterhaltsthese passen, die extreme Personalisierung ihrer Politik aber vermeiden. Machterhalt als reiner Selbstzweck ist nun einmal kein wirklich rationales Motiv, wenn man keine psychische Störung hinzunimmt. Auch darauf gibt es aber Hinweise. Das Rätsel von Merkels wahren Motiven für eine zunehmend manische Politik, ist also weiterhin ungeklärt. Nur auf ganz spekulativer Ebene könnte man Hebels und Höhlers Ansatz zusammenführen und mutmaßen, dass sie die fatale Sackgasse ihrer willkürlichen Eurorettungspolitik inzwischen erkannt und ihre Volte in der Flüchtlingspolitik nur deshalb herbeigeführt hat, um doch eher als humanitär gescheiterte „Mutter Courage“ denn als macchiavellistisch gescheiterte „Mutter Blamage“ aus dem Amt zu scheiden. Das wäre allerdings auch wieder eine extreme Hypothese.

Unabhängig von solchen Spekulationen ist sie als mächtigste Repräsentantin einer demokratischen Gesellschaft eigentlich nicht tragbar, weil ihren Motiven und Zielen jede plausible Erläuterung und damit Transparenz fehlt, wie Gertrud Höhler sehr gut herausgearbeitet hat (Zitate oben). Dieser Zustand wiederum lädt zu extremen Spekulationen geradezu ein und vergiftet das politische Klima im Land. Ein intaktes demokratisches Gemeinwesen hätte also allen Grund, allein wegen dieser langanhaltenden Intransparenz zusammen mit der zwischenzeitlich angehäuften Machtfülle und Konflikte intensiv an ihrer Entmachtung zu arbeiten.

Nachtrag 6.6.2017:
Stephan Hebel hat eine Fortsetzung seines Buches von 2013 geschrieben:
brandstifterIm Vorwärts ist eine Rezension erscheinen:
„In den vergangenen Jahren habe vor allem eine linke Alternative zu Merkel gefehlt, analysiert Hebel. Mit Martin Schulz rasantem Aufstieg in den Umfragen könne sich das geändert haben. Ein gutes Zeichen für einen Wechsel sei, dass die SPD erstmals eine Koalition mit der Linken nicht ausgeschlossen habe. “
Das liest sich so, als sei das Buch jetzt schon wieder von den Ereignissen überholt worden. Déjà vu.

 

 

Nachtrag 24.6.2017:
Auch Gertrud Höhler hat ein neues Buch geschrieben:
DemokratieImSinkflugDas Inhaltsverzeichnis ist sehr vielversprechend.
Mit der Kapitelüberschrift „Germany Leadership für ein autoritäres Europa“ befindet sie sich beispielsweise auf einer Linie mit Emmanuel Todd:
„Seien wir ehrlich: ohne die Engländer ist Europa schon heute nicht mehr der Ort der Demokratie.“
„Zunächst auf dem Kontinent leider durch eine Beschleunigung und Verschärfung des antidemokratischen Niedergangs. Von nun an werden mit einem liberalen England, das uns verlassen hat, um sich neu zu erfinden, die Kommandos aus Berlin noch brutaler eintreffen.“

Andererseits zeigt schon die Leseprobe, dass sie ebenso wie Hebel beim Schreiben auf den Schulz-Hype hereingefallen ist. Schade.