Das Buch, aus dem ich zu Jahresbeginn ein Kapitel übersetzt und auf diesem Blog veröffentlicht hatte, ist jetzt auch auf Deutsch herausgekommen.
Inhalt
Inhaltsverzeichnis der deutschen Ausgabe
Wie der Titel bereits andeutet, handelt es sich um einen ganz großen Überblick über die Menschheitsgeschichte unter dem Blickwinkel der Frage, die Todd seit Jahrzehnten beschäftigt: Wie beeinflussen die Familienstrukturen und die Werte, die sie tragen, das Leben der Menschen und der Völker, ihre Geschichte?
Augenmerk auf Deutschland und seine Rolle in Europa
In Interviews hatte Todd bereits vor Erscheinen der Originalausgabe angekündigt, dass das Buch sich besonders intensiv und auch sehr freundlich mit Deutschland beschäftigen würde, seinem (nach meiner Meinung schon immer unbegründeten) Ruf zum Trotz, ‚germanophob‘ zu sein. Das von mir ausgewählte Kapitel bestätigt das auch ganz hervorragend.
Emmanuel Todd hat für die deutsche Ausgabe ein Vorwort geschrieben, in dem er nicht nur erläutert, dass seine Arbeit in der Tradition der „deutschen Historischen Schule“ steht. Er erklärt auch, beinahe schon rührend, die großen Hoffnungen, die er mit der deutschen Ausgabe seiner Arbeit verbindet:
‚Es ist mir eine große Freude, ein Vorwort zur deutschen Ausgabe dieses Buches zu schreiben, denn Deutschland nimmt in ihm einen besonderen Platz ein. Dieses Land spielte im Verlauf der Geschichte eine einzigartige Rolle, im Guten wie im Schlechten.
…
Im Hinblick auf Deutschland ermöglicht dieser Ansatz eine realistische Einschätzung seiner Rolle in der Geschichte und seiner ungeheuren Leistung, im Guten wie im Bösen, ohne das Land durch die unnötige Hypothese von einem deutschen Wesen von der übrigen Welt zu isolieren
…
Auch wenn man die Fähigkeit von Intellektuellen, den Gang der Geschichte zu beeinflussen, nicht überschätzen darf, so hoffe ich dennoch, dass dieses Buch auf seine bescheidene Weise Deutschland wieder zu einem stärkeren Selbstbewusstsein verhilft. Was wir nämlich brauchen, ist ein luzideres Deutschland‘
Die große Bedeutung Deutschlands zeigt das Inhaltsverzeichnis der Kapitel die sich besonders auf Deutschland beziehen:
5.: Deutschland, der Protestantismus und die Alphabetisierung
Vom Protestantismus zur Massenalphabetisierung
Die Stammfamilie und die Schrift
Von der Stammfamilie zum Protestantismus und umgekehrt
Von der Stammfamilie zur Alphabetisierung
Alphabetisierung und Verstärkung des patrilinearen Merkmals in Deutschland
Die Entwicklung in Schweden und in Russland
6.: Der große geistige Wandel in Europa
Das «westliche Heiratsmuster»: Später Sieg der christlichen Sexualfeindlichkeit
Die Wege der Disziplin
Zerstörung des undifferenzierten Verwandtschaftssystems
Der schwindelerregende protestantische Blick ins Innere und das Zerreißen des Verwandtschaftsnetzes
Der protestantische Militärstaat und die frühen Nationalismen
Der Weg zum wirtschaftlichen Aufschwung
Der Anteil der Stammfamilie in historischer Sicht oder: Familienstruktur als kontinuierliche Variable
7.: Bildungsaufschwung und Wirtschaftsentwicklung
Warum England und nicht Deutschland?
Die Stammfamilie und die Industrialisierung
8.: Säkularisierung und Krise des Übergangs
Der Katholizismus ohne Gleichheit: 1800–1965
Der Zusammenbruch des Protestantismus: 1870–1930
Der Absturz der Religion und die Ära der Ideologien
Die Krise des Übergangs und die Ideologien
Familienstrukturen und Ideologien
Religion und Ideologie
….
16.: Gesellschaften mit Stammfamilie: Deutschland und Japan
Niedrige Geburtenraten in Deutschland und Japan: Eine Langzeitfolge der patrilinearen Stufen
Frauen ohne Kinder
Der zweite demografische Übergang als Teil der Globalisierung: Eine Fehlanpassung der Gesellschaften mit Stammfamilie?
Unterschiede im Bildungswesen von zwei Stammfamiliengesellschaften
Patrilinearität in Deutschland und Japan, Feminismus in Schweden
Widerstand eines kollektiven Bewusstseins: Der Zombie-Nationalismus
Ökonomischer Vorsprung und demografische Krise
Extrovertiertheit in Deutschland, Introvertiertheit in Japan
17.: Die Metamorphose Europas
Vielfalt der Familienstrukturen am Rande Eurasiens
Die Vielfalt der religiösen Einflüsse
Der Triumph der Ungleichheit in Europa
Industrieller Blitzkrieg im Westen
Die demografische Zerstörung von Osteuropa, dann von Südeuropa
Deutschlands «demografische» Außenpolitik
Der Drang nach Osten
A Bridge Too Far: Patrilineare und endogame Migrationsgemeinschaften (Anmerkung: vgl. dieses Interview)
Das postdemokratische Europa – ganz normal
Augenmerk auf Amerika
Der zweite Schwerpunkt des Buches bildet definitiv die Beschäftigung mit der angloamerikanischen Welt und besonders Amerika. Hier erstreckt sich die Analyse ebenfalls bis in die Gegenwart und zum Verständnis von Donald Trump.
14.: Donald Trump als Wille und Vorstellung
Die Rationalität des Wählervotums für Trump
Bildungsmäßige Schichtung und politische Wahl
Die Zitadellen der Elite: Silicon Valley und Academia
Der ökonomische Konflikt tritt an die Stelle des Rassenkonflikts
Der rassische Triumphalismus und Clintons imperiales Projekt
Clintons Kontrolle über die schwarze Wählerschaft: Ein weiterer Verrat der Eliten
Die Demokratische Partei und ihr Problem mit den Hispanics
Der demokratische Aufbruch hat immer noch fremdenfeindliche Züge
Globales Projekt gegen nationales Projekt
Die absolute Kernfamilie schwindet, und die junge Generation kommt nicht raus
Der Widerstand der amerikanischen Jugend gegen die Fremdenfeindlichkeit
Viele Ideen daraus dürften den Lesern meines Blogs bekannt vorkommen, denn sie wurden schon in diesem großen Interview angesprochen und auch hier, hier und hier.
Auch Ideen aus vielen anderen Kapiteln finden sich in älteren Auszügen insbesondere aus ‚Die Erfindung Europas‚ und ‚Die neoliberale Illusion‚ auf meinem Blog.
In diesem großen Buch fasst Todd nämlich nicht nur seine eigenen Arbeiten neu und großartig zusammen, sondern er resümiert auch die Geschichte einer (westlichen) Welt, die er aktuell an einem Wendepunkt und in einer dramatischen Transformation sieht.
Bisherige Rezeption und Ausblick
Als Todd-Bewunderer und Hobby-Interpret halte ich das Werk natürlich für ein Meisterwerk und gebe eine dringende Kauf- und Leseempfehlung an alle, die bereit sind 30 Euro für ein dickes Buch auszugeben und sich mit der nicht einfachen Kost auseinanderzusetzen. Die Belohnung liegt dann in einem Hintergrund und in einer Begriffswelt, die zu verstehen erlaubt, was in einem historischen Umbruch gerade passiert und woraus die Konflikte gespeist werden, außer aus wirtschaftlichen Interessen und Dummheit.
Aber auch die ersten Leser-Rezensionen bei Amazon.de sind sehr positiv und auch diese Rezension im ‚Bücherregal‘.
Das Erscheinen des Buches auf Deutsch führt auch dazu, dass ich kein weiteres Kapitel des Originals mehr in großen Teilen auf meinem Blog übersetzen werde. Die wirtschaftliche Basis der professionellen Übersetzung eines solchen Werkes mit doch letztlich recht überschaubarer Leserschaft will ich nicht untergraben.
Nachtrag 13.09.2018
Im Deutschlandfunk gibt es eine Rezension von Marko Martin, Autor bei den ‚Salonkolumnisten‘ und Ralf Fücks‘ ‚Liberaler Moderne‘. Aus diesem Umfeld kann Todd natürlich keine Sympathie erwarten. Aber, dass der Autor das Buch so schlampig gelesen hat, dass er von 3 statt 4 Haupt-Familiensystemen spricht, ist dann doch unter jedem Niveau. Ganz besonders scheint er sich darüber aufzuregen, dass Todd die deutsche Ukraine-Politik als demografische Ausplünderung kritisiert. Der billigste Vorwurf aus der Ecke lautet dann immer „Verschwörungstheorie“.
2 Kommentare zu „Traurige Moderne – ein Lebenswerk“
Kommentare sind geschlossen.