Politische Kultur und nationale Identität

Zur Wahl in Dänemark bin ich auf diesen ganz hervorragenden Hintergrundbericht hingewiesen worden.
Ich bin von ihm so fasziniert, weil er aktuell und atmosphärisch das bestätigt, was Emmanuel Todd bereits 1990 über das dänische politische System geschrieben hat:

„In Dänemark führt die antirationalistische und populäre religiöse Bewegung, deren Symbol der Theologe und Dichter Grundtvig war, zu einer Neuordnung der gesamten Kirche in einem anti-autoritären Sinne. Im Jahr 1855 erlangen die dänischen Bauern das Recht, ihre Pastoren zu wählen. Die traditionelle lutherische Mechanik löst sich auf“

Die hemmungslos autoritäre Art, in der in Deutschland mit dem erhobenen Zeigefinger über die dänischen Sozialdemokraten geurteilt wird, dürfte exakt die „lutherische Mechanik“ sein, von der Todd spricht und die seit der dt. Wiedervereinigung zunehmend ganz Deutschland in den autoritären Griff genommen hat:

„Die Rechtspopulisten schrumpfen bei der Parlamentswahl in Dänemark stark, weil die Sozialdemokraten große Teile ihrer Agenda kopieren. Das ist billig und effektiv – vor allem aber gefährlich“

Hier also nun der tolle Hintergrundbericht von seidwalk:

seidwalk

Die dänische Folketingswahl 2019 ist Geschichte. Und sie wird Geschichte machen. Unter Führung der Sozialdemokraten hat der linke Block wieder die Zügel übernommen. Er konnte das nur, weil die Sozialdemokratie unter Mette Frederiksen die straffe Einwanderungspolitik der „Dänischen Volkspartei“ in ihre eigene implementiert hat und weil einige ihrer potentiellen Koalitionspartner wie die „Radikale Venstre“ oder die „Sozialistisk Folkeparti“ für ihre Verhältnisse deutlich zulegen konnten.

Effektiv haben die Sozialdemokraten sogar ein paar tausend Stimmen verloren und ihr liberal-konservativer Hauptgegner, die „Venstre“ unter Lars Løkke Rasmussen, ein paar zehntausend Stimmen dazugewonnen, aber durch den Zugewinn auf der ultralinken und vor allem durch den massiven Verlust der „Dansk Folkeparti“ hat sich das Gefüge deutlich verschoben.

Mette Frederiksen hat nun die komplizierte Aufgabe, die bunte, wesentlich radikale Mosaiklinke hinter sich zu einen und mit ihr vor allem ihr sozialpolitisches Programm durchzusetzen. Aber ebenso schwer dürfte es sein, gegen ihre Koalitionspartner und vermutlich mit Hilfe…

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Relotia und die Gut-Gläubigen

Die ZEIZerknirschungT gibt sich zerknirscht:
Es ging um diesen Artikel:

Header

Den Genuss, den Originalartikel zu lesen, sollte sich jeder Leser gönnen. Der Text zeichnet sich einerseits dadurch aus, dass er einheimische Männer durch Herablassung gezielt provoziert:

JungsPhysikLeistungskurs

und andererseits Flüchtlingsmänner als hilflose Wesen darstellt, die eine hyperstarke Frau ‚Sophie Roznblatt‘ (der Name wäre ein eigenes Kapitel wert) an der Hand nehmen muss, um sie zu sich selbst zu bringen:

MännerWerdenRot

Herablassend ist das natürlich nicht weniger. Insgesamt tue ich dem Text wohl nicht Unrecht, wenn ich ihn als Mischung aus der Aufklärungskolumne ‚Dr. Sommer‚ für Fünfzehnjährig in der Bravo und einer feministischen Allmachtsfantasie neueren Datums ansehe.

Wie konnte es dazu kommen?

Die ZEIT-Redaktion sollte sich wirklich fragen, warum sie einen so provokativen Text ins  Blatt genommen hat. Gerade eine Autorin, die so provoziert, sollte gut bekannt und ihr Text auf der Sachebene gut geprüft sein. War es aber nicht, die Redaktion gibt zu, dass sie den Text einer Bloggerin übernommen hat, die vorher und nachher nichts in der ZEIT veröffentlichte:
„Die Faktenchecks vor Veröffentlichung und nach Eingang der ersten Hinweise von Lesern waren bei Weitem nicht ausreichend“

Tatsächlich hat sie die sachlich und überzeugend vorgetragenen Hinweise in Leserkommentaren hochmütig ignorieren und abbürsten lassen:

LeserKommentarKlein

Die Antwort auf die angeblich so dringende Frage steckt im roten Kasten: Wer mit so einer klugen Kritik so hochmütig umgeht, ist offensichtlich sehr anfällig für zeitgeistige  Lügengeschichten. Dass Widerspruch, und sei er noch so berechtigt und fundiert, bei der ZEIT mit leichter Hand ignoriert oder gar gelöscht wird, ist leider nichts Neues. Auch hier hat der Kommentar von 21 anderen Lesern eine Empfehlung bekommen. Die kritischen Leser haben in den Kommentarspalten der ZEIT oftmals einen Punkt. Nicht aber bei der Redaktion: Mit gesundem Menschenverstand und eigenen Erfahrungen begründete Zweifel an einem solchen Artikel sind, was sonst, nichts als ‚Unterstellungen‘! Dahinter steckt Logik- und Fakten-resistenter Hochmut von Redaktion und Moderation der ZEIT.

Comedy in den Leserkommentaren

Offensichtlich selbst gerade erst existenziellen Nöten entkommene Bewunderer geben Miss Sophie die Ehre und attestieren ihren eigenen Vorurteilen, dass sie „extrem wertvoll“ seien:

AntwortSphex

 

Die Übereinstimmung ihrer Herzen überwältigt die Leser. Die brünstigen Ergüsse nehmen kein Ende und das furchtlose Fräulein Roznblatt nimmt alle persönlich entgegen:

AntwortBieneMaja

Der Kreis der Aufklärungsbedürftigen schwillt im extatischen Spiel zwischen dem Fräulein und ihren Bewunderern an:

AntwortEintracht

Alle, alle müssen über das (endlich!) aufgeklärt werden, was die Erleuchteten schon wissen. Schließlich läuft die intellektuelle Selbstbefriedigung in den Kommentarspalten so auf einen unbestreitbaren Höhepunkt zu:

AntwortUSA

Es musste so kommen: wir sind (endlich!) bei den Amis und Donald Trump angekommen, die mindestens so dringend über ihren Penis aufgeklärt werden müssen wie die bedauernswerten Flüchtlinge

Gut genug für eine englische Fassung

Eine Woche später ist die Antwort der Redaktion publiziert. Es sagt viel über ihre  Ansprüche und Prioritäten aus, dass sie angesichts der Kritik nicht den Fakten und der Autorin auf den Zahn gefühlt, sondern lieber in eine englische Übersetzung des Textes investiert hat:

Header_englisch

Witzig an der englischen Fassung ist die Abwesenheit englischer Kommentare. Ein einziger ist darunter, der nicht auch den deutschen Text gelesen haben dürfte. Ein Kommentar von Donald Trump wird nie registriert. Dabei hätte auch er es dringend nötig, die bedrückende Enge in seinem Hosenstall durchlüften zu lassen. Würde das gelingen, wäre die Welt zweifellos gerettet.
Gefühlte und tatsächliche globale Relevanz und Kompetenz der ZEIT scheinen ganz erheblich auseinanderzuklaffen.
Ein weiterer deutscher Kommentator weist auf die fehlenden Infos zur Autorin hin und bemängelt völlig zu Recht, dass der Artikel auch noch auf Englisch erschienen ist:

EV_AntwortOffergeld

Das Moderationsteam kontert knallhart: alle bemängelten Infos seien im deutschsprachigen Artikel vorhanden. Blöd nur, dass sich später genau das als die Achillesferse der ganzen Affäre herausstellt: die Redaktion wusste letztlich nichts über die Autorin.
Und ‚I love the Treaty of Rome‘ ist erneut zur Stelle und springt ihrem Co-Kritiker Offergeld bei:

EV_KritikWiederholung

Zielsicher, sachlich und in angemessenem Ton weist sie auf genau die entscheidenden Lücken hin, die die Redaktion inzwischen in ihrem zerknirschten Glashaus-Beitrag zugeben musste. Und es stimmt auch, dass es mehrere gab, die korrekt geahnt haben, was dieser Artikel wirklich ist:

AntwortSendepause3

Fazit

Der selbsterklärte Qualitätsjournalismus schafft es immer weniger, Qualität wirklich zu liefern. Die Ursachen sind vielfältig:
Zeitgeistorientierung, die von einem Teil der Leser auch frenetisch gewünscht und gefeiert wird,  Mangel an Lebenserfahrung und gesundem Menschenverstand, phrasenorientierter Hochmut gegenüber Kritikern in und außerhalb der Kommentarspalten, Verlust des minimalen Handwerkszeugs: Überprüfen der Authentizität von Personen und Fakten vor der Veröffentlichung.

Dieser Artikel ist so sehr Fake News, Hetze und Rassismus, wie es Politiker oft beklagen. Das aber nennt in diesem Fall niemand so beim Namen, auch die Redaktion nicht. Warum nicht?

Ich halte es deshalb für angemessen, die Autorin namentlich an einen öffentlichen Pranger zu stellen. Wer die Details zur Person und zum Betrug ermittelt und veröffentlicht, leistet der Öffentlichkeit einen wichtigen Dienst. Möglicherweise ergeben sich daraus auch noch mehr Indizien, wie schlecht eine sich zerknirscht nur gebende ZEIT-Redaktion tatsächlich arbeitet.

Nachtrag 3.6.2019
So schnell kann es gehen! Es ist wohl bereits geklärt, wer sich hinter dem vielsagenden Pseudonym ‚Sophie Roznblatt‘ verbirgt: es soll sich um Marie Sophie Hingst handeln:
„Sie moderierte Podiumsdiskussionen für den Förderkreis des Berliner Holocaust Denkmals, engagierte sich bei der Jewish Society ihrer Universiät und meldete die Namen von 22 angeblichen Holocaust-Opfern bei der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Nun ist öffentlich geworden, dass die erfolgreiche Bloggerin und promovierte Historikerin Marie Sophie Hingst ihre jüdische Familiengeschichte erfunden hat. Laut einem Bericht das Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ hatte Hingst in Wirklichkeit keinerlei jüdische Verwandtschaft. Ihr Großvater war auch nicht – wie von ihr angegeben – ein Auschwitz-Häftling, sondern ein evangelischer Pfarrer…
Wie jetzt herauskam, veröffentliche Hingst auch auf „Zeit Online“ unter dem Pseudonym Sophie Roznblatt einen Gastbeitrag

Nachtrag 27.7.2019
Marie-Sophie Hingst soll am 17.7. gestorben sein. Dieser Artikel riecht nach Selbstmord, aber explizit steht es, glaube ich, nicht drin.
Das ist natürlich tragisch, aber letztlich nicht die Verantwortung derjenigen, die Hingsts Fake-Geschichten aufgedeckt haben, sondern derjenigen, die sie veröffentlicht und lange Zeit die berechtigte Kritik an ihrer Unglaubwürdigkeit ignoriert haben.