Der Paderborner Mathematik-Professor Bernhard Krötz hat kürzlich dieses Video auf seinen Youtube-Kanal gestellt.
Ich habe den Startzeitpunkt des Videos auf den Teil gesetzt, in dem er eine Mittlere-Reife-Prüfung aus Baden-Württemberg aus dem Jahr 1971 diskutiert:
Er lobt das Niveau der Aufgaben für 16-Jährige Realschüler in ihrer Abschlussprüfung vor 52 Jahren in Deutschland. Das sind schon anspruchsvolle, aber auch nicht komplett überzogene Aufgaben.
Sein Fazit lautet, dass heutige Standard-Abiturienten keine Chance hätten, diese Prüfung zur Mittleren Reife zu schaffen. Noch erschreckender ist, dass er nicht einmal Lehramtsstudenten für die Realschule zutraut, diese Prüfung zu bestehen.
Dieser Teil zeigt, dass Deutschland die Zeit seiner besten mathematisch-naturwissenschaftlichen Fähigkeiten deutlich hinter sich gelassen hat.
Blick ins heutige Indien und China
Wer an den Beginn des Videos zurückgeht, wird mit heutigen Hochschulzugangsprüfungen für anspruchsvolle mathematisch-technische Studiengänge in Indien konfrontiert: das ist knallharter Prüfungsstoff für Könner.
Nach seinen Aussagen schreiben jährlich 400.000 Inder diese Prüfung, 10.000 davon schaffen 50% der Aufgaben in der gegebenen, sehr knappen Zeit, und damit die direkte Zulassung zu den begehrten Studienplätzen. Viele gute Prüflinge scheiterten nur am Zeitdruck.
Das hätten wir mit unseren Abiturkenntnissen aus dem Jahr 1985 sicher auch nicht geschafft. Viele Inhalte, z.B. komplexe Zahlen, aber auch trigonometrische Umkehrfunktionen und Zusammenhänge begegneten mir erst im mathematischen Vorkurs zum Physikstudium.
Man sieht daran, dass Indien ein aufstrebendes Wissenschaftsland ist, das sich von einem Absteiger wie Deutschland keinen pseudowissenschaftlichen Geschichten erzählen lassen wird.
Dann lässt er sich aus über den neuen Lehrplan für Mathematik an Gymnasien in Nordrhein-Westfalen. Anschauen!
Danach zeigt er noch Aufgaben aus China, die ebenfalls ein hohes Niveau haben, aber nicht ganz so anspruchsvoll sind wie die indischen, aber eben weit über heutigem deutschem Niveau liegen.
Ursachen
Im Teil über den Lehrplan in NRW zeigt er mit dem Finger auf den nicht-mathematischen Ballast, mit dem solche Lehrpläne sinnlos beladen werden:
Phrasen-Moral! Was hat die in der Mathematik-Ausbildung verloren?
In dem Teil über die indischen Prüfungen betont Prof. Krötz auch, dass die Physikaufgaben dort natürlich sehr mathematisch formuliert sind, nicht etwa vage verbalisiert werden.
So war es bei uns in Deutschland früher auch. Zum Beispiel haben Dorn und Bader in diesem Mittelstufen-Band Physik, als er noch schwarz war (links), meist alles, was mit Mittelstufen-Mathematik möglich war, in Formeln gefasst. Das Buch war deshalb voller Formeln:

Dorn-Bader Physik schwarz (alt) und weiß (neu, ab Anfang der 1980er Jahre)
Ich besitze den schwarzen Dorn-Bader heute noch, weil ich ihn nach der Mittelstufe aus dem Schulbestand mitnehmen durfte. Es kamen nämlich die neuen Bücher, die weißen. Die Bilder wurden mehr und es verschwanden genau damit auch die vielen nützlichen Formeln aus dem Band: ein Kahlhieb, der mich schon damals beim Durchblättern regelrecht entsetzte.
Das Handfeste, praktisch Nutzbare war weg, es kamen die Fotos und textuelle Wischiwaschi-Beschreibungen der Phänomene. In dieser Zeit fand der tiefe Bruch mit der anspruchsvollen, auf exakte Wissenschaft hinführenden deutschen Schulbildung statt. Es ist kein Zufall, dass die anspruchsvollen Realschulprüfungen aus Baden-Württemberg im Video oben ebenfalls aus der „schwarzen“ Zeit stammen.
In einem anderen Video beschreibt Bernhard Krötz sehr plastisch, wie u.a. die Mathematik-Didaktik an den Hochschulen die Grundlagen der Mathematik erodiert: Exaktheit, Klarheit der Sprache und auch des Denkens. In offiziellen Dokumenten zur Mathematik-Didaktik stehen unvollständige deutsche Sätze und fehlen oft die exakten Voraussetzungen für mathematische Behauptungen:
Seine Videos geben schon sehr gute Einblicke in die Krankheit, die Deutschland in den letzten Jahrzehnten zunächst schleichend und dann immer schneller befallen hat.
Nachtrag 11.03.2023
Noch ein sehr interessantes Video von Prof. Krötz:
Was Hauptschüler und Volksschullehrer früher konnten:
Beeindruckend! Und dazu ein Fazit (im grünen Kasten):

Die indischen Prüfungen könnte ich jetzt nicht mehr bestehen; bei den Anfangsemestern „Mathematik für Ingenieure“ war das Stoff, der von den Absolventen Mathematisch-Naturwissenschaftlicher Gymnasien bereits beherrscht wurde. (Mein Studienbeginn war 1968.)
Die Studienanfänger aus anderen Schulen zB mit neusprachlicher Ausrichtung hatten es schon schwer, etliche der Altsprachlichen Gymnasien scheiterten. Man kann nicht in allen Bildungsberechen gleich viel lernen.
Daß nicht nur das Mathe-Niveau für die Abi-Reife seit Ende der 80er Jahre erheblich gesunken ist, weiss ich von meinen Kindern. (Vielleicht begann der Niedergang schon in den 70ern.)
Früher wurden vielleicht 10 Prozent eines Jahrgangs Gymnasiasten, ich musste natürlich als Viertklässler der Grundschule eine Aufnahmeprüfung bestehen und begann mit der Sexta.
Weniger als die Hälfte der Sextaner erreichten dann die Abiturreife. Vielleicht 5%?
Wenn heute die Hälfte der Schüler Abi macht („Abiturientenquote“) bzw die Hochschulreife erhält, stellt das einen andere Auswahl an Begabung und Fleiss dar, als wenn es nur zB 5 % wären.
50% der Klügsten eines Jahrgangs sind im Schnitt dümmer als die 5% Klügsten.
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Wenn man sich die ganz oben gezeigte Realschulaufgabe anschaut, die mit den einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecken, stellt man tatsächlich fest, dass sie gar nicht so schwer ist, sondern im Wesentlichen mit dem Satz des Pythagoras lösbar, und den muss man mit Mittlerer Reife einfach sicher beherrschen.
Das Interessante daran ist, dass es sich um eine anschauliche Konstruktion handelt und die Prüflinge völlig selbstständig auf die Löung kommen müssen. Mein Eindruck ist, dass wir genau das heute den Jugendlichen nicht mehr zumuten und zutrauen: allein vor einer Aufgabe zu sitzen und sie komplett selbstständig zu lösen. Irgendein Hinweis („Denk doch bitte an den …“) müsste da dringend rein. Die Erfahrung, alleine vor einem Blatt Papier zu sitzen und auch mal ein bisschen zu leiden oder zu verzweifeln, ist nicht mehr zumutbar.
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