Corona in Frankreich

Ausgangspunkt dieser Betrachtungen ist eine sehr schöne Animation eines Soziologie-Professors, der alle Todesfälle eines Tages in Frankreich von 2000-2020 auf denselben Jahreskreis geplottet hat:

Tägliche Todesfälle in Frankreich 2000-2020

Man erkennt, dass sich die Zusatztoten 2020 (rote Linie), die (direkt oder indirekt durch diverse Behandlungsfehler) durch Corona verursacht wurden, in diesen 20 Jahren nur mit den Toten vom August 2003 vergleichen lassen, als eine außergewöhnliche Hitzewelle vor allem alte und geschwächte Menschen das Leben kostete. Neben der 1./Frühjahrswelle im März+April zeigt die rote Kurve auch die 2./Herbstwelle ab Ende Oktober. In den Jahren davor (2013-2016) gibt es auch einige auffallende saisonale Grippewellen von Januar-März, die aber höchstens halb so viele Opfer fordern wie die Corona-Frühjahrswelle 2020.

Corona und die Hongkong-Grippe

Der Ökonom Pierre Aldama hat zu dieser Animation die Jahre 1968-1999 hinzugefügt und ist zu folgendem Bild gekommen (Beschriftung von mir übersetzt und ergänzt):

Interessanterweise wurde erst im März 2020 ein Artikel veröffentlicht, der die Zahl der Todesfälle durch die Hongkong-Grippe (gelbe Kurve) in Frankreich nach einer Schätzung des Epidemiologen Antoine Flahault von 2003 auf 31000 in 2 Monaten bestimmte und feststellte, dass ihre Schwere damals in den frz. Medien drastisch unterberichtet und unterschätzt wurde. So wurde sie im Sommer 1969 für beendet erklärt, bevor sie in Europa richtig zugeschlagen hat und in Frankreich geschätzt ca. 1/4 der Bevölkerung krank wurde, ohne dass es irgendwelche Beschränkungen des öffentlichen Lebens gab.
Weltweit war die Hongkong-Grippe mit insgesamt 1 Million Toten eine der 9 großen Grippe-Epidemien, wurde aber von 1-5 Kategorien nur in Kategorie 2 eingeordnet, wobei diese aber nur einmal (von der Spanischen Grippe 1919: Kategorie 5) überschritten wurde.
Der frz. Wikipedia-Artikel zur Hongkong-Grippe ist erheblich ausführlicher als der deutsche. Wikipedia berichtet aber für Deutschland (BRD+DDR) von 52500 Personen, die an diesem Virus gestorben sind.

Erst die beiden Corona-Wellen von 2020 kamen in Frankreich gemeinsam wieder in diese Größenordnung, in Deutschland aber bei weitem nicht.
Auch im schwer betroffenen Frankreich ist die Corona-Epidemie also mit einer schweren Grippeepidemie vergleichbar, in Deutschland dagegen höchstens mit einer mittelschweren saisonalen Grippewelle.
Auffällig ist, dass beide Epidemien deutlich außerhalb der normalen Grippesaison (von Ende Dezember bis Ende März) zugeschlagen haben.

Hier die Gesamtsterblichkeit von Frankreich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern bis Ende November 2020:

Übersterblichkeit in schwerer von Corona betroffenen kontinentaleuropäischen Ländern

Gemeinsam mit Belgien, Spanien und Italien gehörte Frankreich zu den in Summe von beiden Wellen besonders hart getroffenen Ländern.
Im Vergleich dazu gab es in Deutschland, Dänemark oder Norwegen wenig oder kaum zusätzliche Todesfälle wegen Corona, deutlich weniger als durch die Grippewelle von 2018:

Maßnahmen hart und wenig wirksam

Die französischen Ausgangsbeschränkungen waren bereits in der 1. Welle besonders rigoros und verboten den Franzosen auch Waldspaziergänge mit der Familie. Im Frühjahr wurden Jäger von Politikern aufgefordert, Spaziergänger zu denunzieren, was für Empörung und Dementis sorgte. Trotzdem galten für Jäger selbst auch im Herbst wieder Sonderregeln.

Im Herbst gehörte Frankreich trotz der harten Maßnahmen vom Frühjahr und auch mit weniger Lockerungen über den Sommer (als in den Niederlanden oder Dänemark) bei den „Fällen“ (also positiven Corona-Tests) zeitweise wieder zu den stark betroffenen Ländern, bevor eine erneuter strenger Lockdown das Niveau leicht unter das niederländische, dänische und deutsche Nievau drückte:

Deswegen gilt Frankreich deutschen Hardlinern als Vorbild.
Bei den entscheidend zu vermeidenden Todesfällen dagegen hat Frankreich bisher weder das dänische, noch das niederländische, deutsche oder auch nur das schwedische Niveau erreicht:

Man kann also Frankreich auch gut als Beispiel anführen, dass der Lockdown nicht das hält, was sich seine Verfechter von ihm versprechen. Und das mit sehr starken Einschränkungen für die Bürger, viel härter als bisher in Deutschland, den Niederlanden oder gar Dänemark und Schweden. In den Niederlanden, Dänemark und Schweden ist besonders auffällig, dass sie im Verhältnis zu den „Fällen“ besonders wenige Todesfälle verzeichnen.

5 Jahre Ausnahmezustand

Mit mehrfach verlängerten Ausnahmezuständen ab 2015 wegen Terror und den Corona-Lockdowns leben die Franzosen inzwischen schon 5 Jahre mit kurzen Unterbrechungen im Ausnahmezustand. Was die Bedrohung von Rechtsstaatlichkeit und Freiheit angeht, wirkt das Corona-Regime also dort weiter, wo das Terror-Regiment noch lange nicht aufgehört hat. Der Corona- und der Terror-Komplex sind also nicht nur über das kommentierende Personal verbunden.

Im Schutz des Ausnahmezustands schlägt die Polizei brutal zu und sind Bürgerrechte stark eingeschränkt. Die Gewalt trifft keineswegs nur Minderheiten und die Regierung stellt sie nicht nur der facto straffrei, sondern wollte es auch de jure tun, indem sie Filmaufnahmen von Polizeigewalt unter härtere Strafe stellen wollte als die Gewalt selbst.

Risse durch Europa vertieft

Nach der Finanzkrise seit 2010 wird also die Spaltung und Krise Europas durch Corona vertieft. Das sieht auch dieser ARTE-Beitrag vom 10. November so:

Exkurs: Übersterblichkeit

Das französische Statistikamt hat diesen Plot der Sterblichkeit in Frankreich veröffentlicht:

2020 in Rot wie in der runden Darstellung ganz oben

lässt sich die 1. Welle im März und April 2020 nochmals separat im Ausschnitt tagesgenau plotten:

Tägliche Sterbezahlen im März und April 2020 im Vergleich mit Durchschnittswerten

Die Berechnung einer Übersterblichkeit hängt schon ganz naiv betrachtet vom Referenzniveau ab, hier zum Beispiel dem Durchschnitt der letzten 5 Jahre. Sie hängt außerdem vom Zeitfenster ab, hier März bis April. In diesem Zeitfenster wird die Übersterblichkeit von 18000 zwischen 16.3. und 25.4. durch die Untersterblichkeit vorher und nachher reduziert auf 16000. In diesem Fall von einer Übersterblichkeit von ca. 20000 Toten in den 40 Tagen der 1. Welle zu sprechen, ist also nicht ganz falsch.

Interview mit einem Experten beim statistischen Bundesamt über die Berechnung der Übersterblichkeit.

Nachtrag 16.12.2020
Am 5.1.1970, also in der noch nicht ganz beendeten Sterbewelle mit ca. 50000 Toten in Gesamtdeutschland veröffentlichte der SPIEGEL diesen launigen Bericht:

SPIEGEL über die Schrecken der Hongkong-Grippe

Die Zitate:

„Das beste Mittel dagegen ist viel Arbeit“, befand Münchens OB Hans-Jochen Vogel.
„Mit Einbruch des Winters auf der nördlichen Erdhälfte, so schlossen die WHO-Experten, würde sich ‚A 2-Hongkong‘ abermals in Europa ausbreiten.

Nachtrag 17.12.2020
Bereits im April hat die Abendzeitung über die Hongkong-Grippe in München berichtet: „hoffnungslos“ bei insgesamt 16 Toten in der Stadt

Nachtrag 28.12.2020
Dieser Schweizer Bericht aus einem französischen Pflegeheim ist sehenswert und erschütternd. Man sperrt die Menschen ein wie Vieh und kujoniert sie unter dem Vorwand, sie schützen zu wollen:

Beeindruckend, wie klar die alte Frau noch denkt und ihre selbstverständlichen Interessen formuliert.
Es gibt übrigens keine Hinweise darauf, dass die Lage in dt. Pflegeheimen grundsätzlich besser ist für die Insassen. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Maßnahmen den wirklich Betroffenen wenig nützen.

Nachtrag 19.4.2021
Gestern ist in der Wirtschaftswoche ein Interview zur Hongkong-Grippe erschienen. Gar nicht mal schlecht, aber mit merkwürdigem Titel: Es gab keinen Christian Drosten der 68er

Optimistische Vision der Nation

Am 24. Juni hat Radio France wieder ein Interview mit Emmanuel Todd gesendet, das sich auch direkt hier anhören lässt.

Ich übersetze das hier in Auszügen und stütze mich dabei auf diese Zusammenfassung in einem französischen Blog.

In Frankreich heißt regieren heute lügen

Die französischen Eliten funktionieren in einem Modus des Leugnens, des Surrealen, des Ankündigens. Um gewählt zu werden in Frankreich, muss man im Fernsehen auftreten, besser sein im Fernsehen. Und dann kommt man an die Macht, in den Elysée-Palast der Einfachheit halber, und kann nichts machen. Frankreich hat nicht die Option der Geldschöpfung. Die europäischen Regeln für die Wirtschaft verhindern jede Handlung zum Schutz der nationalen Industrien. Und am Ende findet man sich mit einer massiven Desindustrialisierung wieder und mit einer Arbeitslosigkeit von 10%. Und man kann nichts machen.

Regieren heißt, eine Wahl zu treffen, um die Formel von Mendès-France aufzunehmen. Aber heute in Frankreich heißt regieren lügen. Man lügt über die Vorzüge des Euro. Man lügt über den Wohlstand, den uns die Globalisierung bringen wird, über die Notwendigkeit der Öffnung der Grenzen….
Es ist schwierig für die Leute zu verstehen, aber man hat die Lüge klar vor sich gesehen. Das Virus – wenn man keine Masken hat, weil wir keine Industrie mehr haben, werden wir in flagranti beim Lügen erwischt. Jérôme Salomon [Direktor der Gesundheitsbehörde] erschien jeden Abend mit einer neuen Lüge, und ich war sehr überrascht, dass seine Nase nicht länger wurde.

Die Leute müssen verstehen, dass, wenn sie vom Euro reden, wenn sie von Grenzkontrollen reden, ich meine im kommerziellen Sinne, unsere Regierenden sich ungefähr ebenso sehr im Zustand der systemischen Lüge befinden, wie wenn sie uns vom Stand der Epidemie erzählen, von unseren Masken usw.

Die nationale Idee hat verlorenen Boden wiedergewonnen, aber es fehlt der Glaube an die Nation

Die Epidemie hat eine französische Regierung gezeigt, und viele europäische Regierungen, die außerstande ist zu handeln. Das Problem der Globalisierung und Europas, das ein Teil des Problems der Globalisierung ist, ist, dass sie die nationalen Regierungen außerstande setzt zu handeln. Die Leute spüren, verstehen das.

Die nationale Idee hat verlorenes Terrain wiedergewonnen. Das Problem ist, dass die nationale Idee eine kollektive Regung ist, die einen einen bestimmten Typ eines kollektiven Glaubens erfordert, der analog und ähnlich ist einem religiösen Glauben, der in Wahrheit alle Individuen in einem selben Glauben vereint.

Aber die sozialpsychologischen Entwicklungen der fortgeschrittenen Gesellschaften, gewisse Formen von Individualismus, der Rückzug von Glaubensbekenntnissen jeder Art, das universelle Gefeixe, das uns im Fernsehen so gut unterhält, alles das sorgt dafür, dass wir nicht handeln können. Wir sehen schon in den Meinungsumfragen, dass wir in Gefahr sind, dem traditionellen politischen Chaos ausgesetzt zu werden, mit einem Präsidenten, der durch Zufall gewählt wird und weil es sonst keinen gibt. Es gibt eine Art von psychologischer und sozialer Blockade der Gesellschaft, die sich nicht auf dem Niveau der Ideen befindet. Was sorgt dafür, dass wir unfähig sind, zusammen an ein gemeinsames Ziel zu glauben?

Wenn Frankreich seine Souveränität wiedergewinnen will, muss es sich auf alle seine Bürger stützen…einschließlich der 20%, die muslimische Vornamen tragen

Welche Probleme hat der Souveränismus in Frankreich? In dem, was die Souveränisten sagen, in der ökonomischen Analyse, der sozialen Analyse, der Konzeption einer Demokratie, die nur funktionieren kann im Rahmen einer Nation, und einer Geschichte, stehe ich ihnen sehr nahe. Aber wenn man die Milieus der Souveränisten kennt, wenn man die Leute sieht, die vom Souveränismus schreiben und die von ihm reden, wird einem klar, dass sie keine grundsätzlich optimistische und inklusive Vision der Nation haben.

Für mich gibt es eine Vorbedingung für die Renaissance der Nation und für den Austritt aus dem Euro, nämlich, dass bevor die französische Gesellschaft von ihr selbst wieder in die Hand genommen wird, von ihrem politischen System und ihren Bürgern, muss man laut und deutlich erklären, dass alle Leute, die da sind, unabhängig von ihrer Herkunft Franzosen sind. Man muss sich mit Optimismus auf die Frage des Islam und die Parallelgesellschaften einlassen. Man muss die Realität der kleinen Unterschiede akzeptieren, die weiter existieren. Wir müssen zurückkehren in eine etwas diversere und brüderlichere französische Welt als zuvor, in der die beinahe 20% der Leute, die muslimische Vornamen tragen, Franzosen sind.

In den souveränistischen Milieus – nicht in allen – ist die Kraft des Souveränismus oft ein wenig proportional zu dieser internen Xenophobie. Sie werden Leute finden, die Ihnen sagen, nach den Studien von Fourquet, dass 20% Franzosen mit ausländischen Wurzeln ein Riesenproblem sind.
Wenn sie denken, dass das ein Riesenproblem ist, ist Frankreich erledigt.
Eine Nation von der Größe Frankreichs muss sich, wenn sie ihre Souveränität wiedergewinnen will, auf alle ihre Bürger stützen. Das souveränistische Projekt, sofern es sich nicht als Priorität die optimistische Integration der Leute mit Migrationshintergrund in einer Art neuem Verbandsfest vornimmt, ist zum Scheitern verurteilt, und ich werde es im Wesentlichen ebenso lächerlich finden wie den Elitismus, die Herrschaft der Enarchen und die Proeuropäer.

Meine Anmerkungen

  1. Howgh, der Linksouveränist hat gesprochen!
  2. Er hat es aktuell für besonders nötig gefunden, diesen Zwischenruf abzusetzen
  3. Sein Standpunkt, dass in Frankreich lebende Migranten integriert werden müssen, wenn die franz. Nation eine Chance haben soll, ist kein Plädoyer für unbegrenzte Einwanderung, sondern für Pragmatismus
  4. Mein Respekt vor dem Denker Emmanuel Todd ist so groß, dass ich das hier wiedergebe, unabhängig davon, ob es mir schmeckt oder nicht:
    Es ist seine Meinung, und sie ist (wie eigentlich immer) bedenkenswert.

Filter für den Kraut

Alain Finkielkraut, der französische Publizist, der in Deutschland gerne als Philosoph vorgestellt wird, wurde in Paris von Leuten mit gelben Westen antizionistisch/antisemitisch beschimpft. So weit, so ungut. Es wurde in Frankreich und international sehr schnell in sozialen und auch den großen Medien verbreitet, dass der Haupttäter ein den Geheimdiensten bekannter Islamist ist. Nur in Deutschland gab es einige Medien und Journalisten, die zwar den Antisemitismus beklagen und die Gelbwesten diffamieren, aber dieses wichtige Detail unter den Teppich kehren wollten.
Bei der Instrumentalisierung immer ganz vorne dabei ist der Journalist mit dem Tweet ganz oben.

Lücken- und Lügen in der Presse

Der islamistische Hintergrund des Täters wurde u.a. im Tagesspiegel und beim Deutschlandfunk noch einen Tag nach dem Vorfall verschwiegen. Die Süddeutsche Zeitung verstieg sich sogar dazu, noch einen Tag später das Gegenteil der bekannten Fakten zu verbreiten:
SüddeutscheRot unterstrichen sind die ganz dicken Unwahrheiten wider besseres Wissen: Finkielkraut wurde nicht von einem rechts-nationalen Antisemiten, sondern einem islamistischen angepöbelt. Das konnte man schon auf dem frühen Foto des Verdächtigen ahnen. Der Bart ist auffällig:
Verdächtiger

Inzwischen wurde Benjamin W., der Täter (einer Beschimpfung, keiner Gewalttat übrigens) in Mulhouse im Elsass verhaftet. Die französischen Medien sind voll von seiner Geschichte, aber in Täuschland wird weiter aktiv nur das berichtet, was ins einfache Weltbild passt.

Aber auch über die grün unterstrichenen Passagen im Text der SZ erfährt man wenig Details. Warum? Weil Finkielkraut für den deutschen Mainstream ziemlich weit ‚rechts‘ steht und sein Wert als gutes Opfer darunter leiden würde, wenn das zu detailliert ausgeführt werden würde. Ein ‚Rechter‘ darf natürlich bepöbelt und manchmal (wie AfD-Mann Magnus in Bremen) auch zusammengeschlagen werden, bei einem ‚französischen Philosophen‘ machen das nur Barbaren, am besten ist es, wenn es, bitte, bitte! rechte Barbaren sind. So ein richtiger jüdisch-französischer Philosoph darf kein ‚Rechter‘ sein. Aber das ist er, und es ist sein gutes Recht.

Finkielkraut kommt einem
französischen Broder am nächsten

Finkielkraut gehört zu denjenigen französischen Juden, die seit langem den Antisemitismus islamischer Einwanderer beim Namen nennen und der Linken Kumpanei mit dem Islamismus vorwerfen. Finkielkraut gehört in dieser Frage eindeutig zur Rechten und ist damit unter den jüdischen Intellektuellen Frankreichs keinesfalls isoliert, sondern in bester Gesellschaft. Im Magazin ‘Causeur‘, in dem er publizistisch zuhause ist, ist diese Denkrichtung stark vertreten. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich hatte das Magazin seit einigen Jahren abonniert und natürlich auch die Beiträge von Finkielkraut gelesen. Zwei entsprechende Beiträge seiner Gesinnungsverwandten Luc Rosenzweig und Charles Rojzman aus demselben Magazin habe ich auf meinem Blog übersetzt und veröffentlicht. Weil sie deutsche Themen behandeln, kann sich jeder selbst überzeugen, dass sie nach deutschen Maßstäben eindeutig als `rechts‘ oder `zu rechts´ eingestuft werden würden, wenn sie denn Beachtung fänden. Das ist also das intellektuelle Umfeld von Alain Finkielkraut: völlig legitim, aber nach deutschen Maßstäben, nun ja, `umstritten´.

Finkielkraut würde selbstverständlich ein Gespräch mit Marine Le Pen und dem ‚Front National‘, der jetzt ‚Nationale Sammlung‘ heißt, führen können, ohne dafür in der Öffentlichkeit so angegangen zu werden wie Henryk Broder im Zusammenhang mit der AfD. Der inzwischen verstorbene Rosenzweig hat schon vor dem 1. Wahlgang angekündigt, Macron zu wählen, damals eine Lichtgestalt für die Mehrheit der deutschen Grünen und Sozialdemokraten. Und auch Macron selbst hat keine Berührungsängste mit Finkielkraut und Gleichgesinnten.
Solche Komplexitäten meinen zu viele deutsche Journalisten ihren Lesern vorenthalten zu müssen, damit sie nicht irre werden an den ganz einfachen Wahrheiten: links gut, rechts böse, immer.

Man muss Finkielkraut nicht mögen

um sich zu wundern über Verlogenheit und doppelte Standards in der deutschen Debatte. Finkielkraut ist ein Gegner des französischen Intellektuellen Emmanuel Todd, WerIstCharliedessen Ideen sich viele Beiträge meines Blogs widmen. Emmanuel Todd gilt als Verteidiger der Mehrheit der französischen Muslime und hat sich vor allem mit seinem Buch ‚Wer ist Charlie?‘ als solcher profiliert, bis hin zum Vorwurf antifranzösischer Umtriebe und dem Verlust vieler Freunde, weil er den ‚Je suis Charlie‘-Demonstrationen Heuchelei und die Vorspiegelung falscher Ideale vorgeworfen hat. Auch die von ‚Charlie Hebdo‘ veröffentlichten Mohammed-Karikaturen kritisierte er als billige Machwerke. Es sei ein Unterschied, ob sich eine Gesellschaft über die eigene, mächtige Mehrheitsreligion lustig mache oder über die Religion einer Minderheit. Einer der heftigsten und höhnischsten Kritiker dieses Buches war niemand anders als Alain Finkielkraut:

Dieses Buch ist grotesk. Ich bedaure, dass insbesondere der ‚Nouvel observateur‘ ihm den roten Teppich ausgerollt hat….Er glaubt, er könnte behaupten, was er will, und sagen, dass der Premierminister dumm sei. Das fällt auf uns Intellektuelle als Ganzes zurück…

Hier der O-Ton. Hier ein Bericht über die Heftigkeit der Kontroverse.

Und doch:
Auch wenn es ein schnell geschriebenes Buch und keines von Todds Meisterwerken ist, enthält es viele gute Einsichten, über die schwere Krise, in der sich die französische Gesellschaft befindet, nicht allein wegen der islamistischen Gefahr, sondern eben auch wegen der sozialen Krise, die diese verstärkt.

Eine offene und freie Gesellschaft muss sich sowohl einen Emmanuel Todd anhören können, als auch einen Finkielkraut, ohne seine Ansichten zu verstecken, damit er weiter ein gutes Opfer bleiben kann. Keiner von beiden hat etwas behauptet, das „die Grenzen der Meinungsfreiheit“ überschreitet, die man bei uns so viel häufiger zitiert als ihre Weite.

Finkielkraut-Aussagen

Für alle, die selbst lesen wollen, was Finkielkraut wirklich sagt und ob meine Behauptungen stimmen, gibt es ein aktuelles Interview in der ZEIT. Leider ist es inzwischen hinter die Bezahlschranke gerutscht, nachdem es anfangs frei war. Auch in der WELT gibt es einen kostenpflichtigen Artikel dazu:
Welt

Und dieser Aussage von Finkielkraut hat Todd ausnahmsweise schon 2016 zugestimmt: Deutschland im manischen Modus

Neben Henryk Broder gibt es mit Michael Wolfssohn noch einen zweiten deutschen Autor, der mit seinen Aussagen zum neuen Antisemitismus ziemlich nahe an dem liegt, was Finkielkraut seit Jahren vertritt.

Zu verhindern, dass diese Parallele für die Leser offensichtlich wird und sich damit die rigorose Ausgrenzung solcher Positionen in Deutschland nicht halten lässt, ist wichtigen deutschen Medien ein so dringendes Anliegen, dass sie auch fette Lücken und Lügen nicht scheuen.

Hintergründe des Aufstands der Gelbwesten

Der Aufstand der „Gelben Westen“ ist ein Aufstand des ländlichen Frankreichs und der französischen Arbeiterklasse. Er hat die Eliten völlig überrascht.
Das hätte nicht so sein müssen, denn Warnungen gab es genug, unter anderem von Christophe Guilluy. Der Wirtschaftsgeograph weist seit Jahren auf die Frakturen und schwerwiegenden sozialen Probleme der Gesellschaft als Folge einer neoliberalen Politik auf dem Rücken der Mehrheit der Franzosen hin. Eines seiner wichtigsten Bücher, das in Frankreich 2016 viel Aufsehen erregt hat, ist jetzt in englischer Sprache erchienen, unter dem Titel „Twilight of the Elites: Prosperity, the Periphery, and the Future of France“ (Yale University Press 2019) …Weiterlesen auf Norbert Härings Blog

Einige wesentliche Aspekte dieses jetzt offen ausgebrochenen Konflikts hat Emmanuel Todd bereits vor 20 Jahren in seinem Buch die ‚Ökonomische Illusion‘ mit folgenden Worten beschrieben:
‚Das Paris derjenigen mit einem Hochschulabschluss … hat sich entflammt für die Verteidigung der Rechte der Immigranten, nachdem es bewegt wurde durch die Probleme der illegalen Einwanderer ohne Papiere, aber es gelingt ihm immer noch nicht, sich für das Volk in den Provinzen zu interessieren, das gefoltert wird von einer Europa- und Wirtschaftspolitik, die nicht aufhört, die Arbeitslosigkeit steigen zu lassen

Die Schein-Nazis von Chemnitz

Der französische Sozialpsychologe Charles Rojzman hat  einen Bericht über seine Erfahrungen mit den Chemnitzern und den Dresdnern veröffentlicht im Meinungsmagazin Causeur (Tendenz: islamkritisch, auch durch zahlreiche jüdische Autoren, Meinungen sehr unterschiedlicher Schärfe, vom kürzlich verstorbenen Luc Rosenzweig hatte ich bereits früher einen Beitrag auf meinem Blog).

Rojzman hat einen kurzen englischen und einen längeren französischen Wikipedia-Eintrag. Er ist Autor bei der franz. HuffPost und hat dort unter anderem Ende letzten Jahres einen Artikel veröffentlicht, in dem er dem Anti-Rassismus einen teilweise totalitären und faschistischen Geist bescheinigt (Er reitet also auch ein wenig den Zeitgeist).
Auf Deutsch findet man zu ihm leicht die Inhaltsbeschreibung eines seiner Bücher und eine Website über eine Initiative in Dresden, bei der er mitgearbeitet hat und aus genau der er im Causeur auch berichtet.

Hier nun sein Bericht:

Und wenn die Tolerantesten nicht die wären, von denen man es glaubt?

Weithin für Neonazi-Aktivisten gehalten wegen ihrer frontalen Opposition gegen die Einwanderungspolitik von Angela Merkel, sind die Einwohner von Chemnitz oder Dresden in Deutschland in Wahrheit sehr offen für einen Dialog. Aber um es zu merken, muss man sie erst einmal kennenlernen…

Jenseits des Rheins ist die Sache für die meisten Medien, praktisch die ganze Regierung — mit der bemerkenswerten Ausnahme eines Ministers — und die linken Parteien klar: die Anti-Ausländer-Demonstranten von Chemnitz sind Nazis. Nichts ist falscher. Ich kenne Chemnitz, weil ich dort im letzten Jahr die Polizei geschult habe, ebenso wie das 75 Kilometer entfernte Dresden, wo ich zahlreiche Dialoggruppen moderiert habe zwischen Gegnern und Anhängern der Willkommenskultur, die Angela Merkel gewollt hat.

Ich habe dort die Methode der Sozialtherapie angewendet, die ich vor mehr als 20 Jahren begründet und in vielen Kontexten überall in der Welt praktiziert habe. Eine Dialog-Methode, die nicht darin besteht, die Konflikte zwischen Personen mit verschiedenen Normen und Werten zu befrieden, sondern ihnen das Ausbrechen zu erlauben, um die Probleme von Gemeinschaften zu lösen. Das Endergebnis dieser Arbeit ist die allseitige Anerkenntnis der Wirklichkeit in ihrer Komplexität.

Die Einwanderungsgegner sind für Dialog

Nun hat aber in Dresden die Flüchtlingskrise die öffentliche Meinung sehr in Aufregung versetzt, bis zu dem Punkt, wo sie zahlreiche Demonstrationen provoziert hat, von denen die der Pegida immer Montags stattfinden. Ich bin da hingegangen auf Wunsch des Bürgermeisters und des Vereins „Dresden für alle, um den Einwohnern der Stadt , die entgegengesetzte Ansichten hatten, zu helfen, ihre Erfahrungen auszutauschen und die Konflikte zu überwinden, die sie gegeneinander in Stellung brachten.

Als erste Abweichung von den vorgefassten Meinungen wünschten die Gegner der Regierungspolitik, auch die Mitglieder von Pegida, diesen Dialog, den die antifaschistisch genannten Bewegungen verweigerten. Letztere schickten sogar Denunziationsbriefe an das Bürgermeisteramt und an die Universität, weil ich Mitglieder von Pegida zu diesen Begegnungen eingeladen hatte! In Dresden wie in Chemnitz sind die Aktivisten von Pegida keine Nazis, sondern deutsche Bürger, die lauthals äußern, dass die Gesetze nicht respektiert werden und dass die Presse lügt beim Thema Übergriffe, die von Migranten begangen werden. Kleine Gruppen von Neonazis haben sich gewiss den Demonstrationen angeschlossen, aber sie sind sehr in der Minderheit und oft im Abseits gewesen. Im übrigen weiß niemand mit Sicherheit, ob es wirklich diese Gruppen sind, die das jüdische Restaurant in Chemnitz angegriffen haben.

Von Seiten Pegida kehren die Themen endlos wieder: „Es gibt weder Geld noch Wohnungen für die Armen von hier, während sich für die Migranten immer etwas findet“; „Die Presse belügt uns über die Wirklichkeit der Delikte, die von diesen Migranten begangen werden, so wie sie es bei den Ereignissen von Köln in Neujahrsnacht 2015/16 versucht hat“; „Man kann nicht von der Realität sprechen, die man sieht und sogar erlebt, ohne beschuldigt zu werden,  Nazi und Ausländerfeind zu sein“.

Ein neuer Klassenkampf

Man kommt nicht umhin festzustellen, dass die Gegenrede, die ihnen entgegengesetzt wird, ungenügend ist. Man verweist auf den Humanismus und die Toleranz und erklärt, dass die Migrationsströme nicht so bedeutend sind und man klagt Pegida an, die Ausländerfeindlichkeit der Ostdeutschen am Leben zu halten und so eine gute Integration dieser Unglücklichen zu verhindern, die vor Krieg oder Elend fliehen.

Tatsächlich erleben wir in ganz Deutschland eine neue Form des Klassenkampfes. Auf der einen Seite Menschen, die zu geschützten Milieus gehören und von der Exotik des Multikulturalismus verführt werden und nichts zu verlieren haben. Auf der anderen Massen von Arbeitern im sozialen Abstieg, die sich Sorgen machen wegen einer Zukunft, die ihnen entgleitet, ohne Perspektive einer Verbesserung ihres Loses, und die alles zu verlieren haben in dieser Globalisierung, die ihnen ihre Arbeit wegnimmt und auch ihre kollektive Identität, die mehr oder weniger ihren Stolz ausmachte. Dieser Gegensatz überschneidet teilweise die Ost/West-Spaltung des Landes.

Im Westen haben mehrere deutsche Generationen im Nachhinein das Trauma der Vernichtung der Juden Europas durchlebt und wollen keine Unterschiede zwischen den Menschen mehr kennen. Die Deutschen, die zu den gebildeten Klassen gehören, folgen einem Traum von universeller Liebe, einen Traum von einer Welt, die keinen Rassismus und keinen Krieg mehr kennen würde. Sie pressen auf die Wirklichkeit von heute diese Utopie einer versöhnten Menschheit, einer vereinten und einigen. Diese Weigerung, die Unterschiede und die Hierarchien zwischen den Menschen und ihren Kulturen zu sehen, ist eine perfekt verständliche Reaktion auf eine schmerzliche Vergangenheit, läuft aber auf eine Leugnung der Realität hinaus. Die deutsche Jugend, gebildet und pazifistisch, legt eine Gleichwertigkeit fest zwischen illegalen und legalen Einwohnern eines Landes, zwischen den Geschlechtern, zwischen den sexuellen Neigungen, zwischen den Generationen, zwischen den Kulturen.

Diejenigen, die sich dieser Vermischung der Unterschiede widersetzen, die wollen, dass die Grenzen und die Nationen weiterbestehen, diejenigen, die offen erklären, dass die Kulturen nicht gleichwertig sind, dass der Schleier, die Polygamie und die  Genitalverstümmelungen keinen Bürgerrechtsstatus haben, werden als Faschisten, Rassisten, Erben des Nationalsozialismus denunziert. Während Westdeutschland seit 1945 entnazifiziert wurde, hat sich die die ehemalige DDR als Opfer angesehen und erkennt sich nicht oder wenig in dieser kollektiven Schuld und Reue. Das erklärt, warum die Proteste im Osten zahlreicher sind als im Westen.

Frankreich, ein weiteres Deutschland

In Wahrheit sind die Kernprobleme identisch und die Wut tost im Untergrund im Westen ebenso gegen den Mangel an Integration der Türken und Araber der zweiten und dritten Generation.

In den Workshops, die ich in Dresden moderiert habe, hat sich nach vielen  Zögerlichkeiten und Ausweichmanövern von Seiten der Mitglieder antirassistischer Organisationen die Wirklichkeit der extremen Schwierigkeit der Migrantenaufnahme als eine Feststellung etabliert, die von allen geteilt wird. Während die erste Bewegung gewesen war, absolut jeden Dialog mit den Aktivisten von Pegida zu verweigern, hat sich nach und nach mit der Reihe der Treffen die Möglichkeit, um nicht zu sagen: die Notwendigkeit, ergeben, zusammen und ohne Tabus nachzudenken über dieses immense Problem, vor dem von jetzt an Europa und Deutschland im Besonderen stehen.

Alles, was ich in Chemnitz und Dresden gesehen habe, lässt sich auf das Frankreich von heute übertragen. Der Konfliktdialog ist unverzichtbar. Die systematische Abwesenheit von Konflikt, das Fehlen von Begegnung zwischen den Bürgern von entgegengesetzter Herkunft und Ideologie, die Omnipräsenz einer unerbittlichen Zensur und Selbstzensur: alles das stellt einen fruchtbaren Nährboden dar für die Propaganda, die Männer und Frauen, Gruppen, Gemeinschaften noch mehr auseinanderbringt.
Wie die „ekelhafte“ Frauke Petry sagt, die Vorsitzende der Partei AfD war, der man vorwirft, auf den unbegründeten Ängsten zu surfen und den Hass gegen die Ausländer zu schüren: „Der Hass ist das Ergebnis eines Dialogverbots in unserer Gesellschaft“

Kommentare:

  • Über Chemnitzer weiß er offensichtlich nichts Spezifisches, schreibt deshalb über Dresdner, auch nicht schlecht. Die Polizei-Schulungen in Chemnitz sind eine andere Baustelle, über die er nur einmal am Anfang berichtet, um die Lücke zu schließen und eine Brücke nach Chemnitz zu bauen, das im Titel stehen soll (Aktualität)
  • Der Verein Dresden für alle berichtet (knapp) über die Arbeit von Charles Rojzman:
    Eines dieser vom Netzwerkrat von „Dresden für Alle“ unterstützten Projekte war die Anwendung der von Charles Rojzman entwickelten „Thérapie sociale“ in einigen Dresdner Stadtteilen. Das Projekt lief von Dezember 2015 bis Februar 2016 und ist somit beendet. Auch wenn die projektinterne Auswertung bisher noch nicht vorliegt, hat der Netzwerkrat von „Dresden für Alle“ die Entscheidung getroffen, das Pilotprojekt nicht weiter zu unterstützen oder zu tragen, da sich dessen Umsetzung in einigen Stadtteilen als sehr problematisch erwiesen hat.
    Die Erkenntnisse beruhen also auf 3 Monaten Arbeit zum Jahreswechsel 2015/16, sind also nicht sehr frisch, aber projektintern „noch“ nicht ausgewertet. Hm. Dafür haben wir nun diesen Bericht aus dem Causeur und verstehen bereits, warum das für „Dresden für alle“ ziemlich „problematisch“ war, was der Mann da so gemacht und an Ergebnissen produziert hat. Logisch
  • Teilweise finde ich die Beschreibungen fast rührend klischeehaft, so oft habe ich sie gehört, beispielsweise die Erzählung von den „Arbeitermassen“, deren Arbeitsplätze von der Globalisierung weggerissen werden und die deshalb bei Pegida sind
  • Viele Elemente dieser Beschreibung sind hierzulande heftig umstritten und kann kaum noch jemand vorbringen, der nicht selbst in die rechte Ecke kommen will (vgl. Prof. Patzelt)
  • Als er am Schluss noch die „ekelhafte“ Frauke Petry wie eine weise Bekannte zitiert, hätte ich mich fast vor Lachen auf den Boden gelegt, denn im Ausland klingt das wohl tatsächlich sehr unvoreingenommen und dialogbereit.
  • Mehr habe ich dazu eigentlich nicht anzumerken, außer dass mir Kommentare von Lesern, die den Herrn Charles Rojzman in Dresden selbst erlebt haben, natürlich sehr willkommen sind:
    • Stimmt sein Bericht?
    • Wie war er in den Gesprächskreisen?
    • Wie waren die Erlebnisse und Ergebnisse?

Nachtrag 23.9.2018
Ich habe inzwischen den Bericht über das Projekt mit Charles Rojzman bei Dresden für Alle gefunden, nachdem ich einen freundlichen Hinweis von ‚Dresden für Alle‘ per eMail erhalten hatte. Die Webseite ist einfach nicht aktuell, aber auch in den Kommentaren darunter steht warum die Ergebnisse problematisch waren:
Neonazis kamen nicht nur zu Wort bei diesem Projekt, sondern waren zeitweise sogar in die Vorbereitung eingebunden. Dies konnten und wollten wir nicht länger tragen„.
Im Bericht steht unter 3.9:
Rasch gerieten einzelne Aktivitäten – insbesondere die Teilnehmerstruktur der Stadtteilgespräche in Strehlen – in eine kontroverse Diskussion (siehe Abschnitt 6.2.1), die vor allem über soziale Medien eine gewisseAusstrahlung erreichte
Und dann wieder unter 6.2.1 Konflikte um die Teilnehmerstruktur der Gruppenarbeit:
Die zentrale Konfliktebene stellte die Frage dar, ob Personen mit ausgewiesen anti-demokratischen und die Menschenwürde verletzenden Haltungen in die moderierte Gruppenarbeit nach der»Therapie Sociale« einbezogen werden sollen oder nicht. Die kontroverse Diskussion konzentrierte sich dabei auf Protagonisten aus Stadtteilinitiativen gegen Asylunterkünfte, aus rassistischen und rechtsextremen Gruppen.Im Rahmen des Pilotprojekts haben einzelne Akteure dieser Art an einer der Veranstaltungen im Stadtteil Strehlen teilgenommen. Dies kritisierten wiederum einzelne Vertreter*innen einer Strehlener Initiative, die geflüchtete Menschen unterstützt. Die Kritik wurde rasch über persönliche Kontakte und soziale Medien in die stadtweiten Pro-Asyl-Netzwerke getragen – darunter auch in den Netzwerkrat von »Dresden für Alle«. Auf diesem Weg löste sich die kritische Diskussion jedoch vom konkreten Anlass, wurde auf weitere Ereignisse, Erfahrungen und Akteure außerhalb des Pilotprojektes bezogen und geriet zur prinzipiellen Auseinandersetzung über die Grenzen eines demokratischen Dialogs in der Stadtgesellschaft. Eine Verständigung darüber ist für die Weiterentwicklung der Ansätze und Aktivitäten zur demokratischen Meinungsbildung und Teilhabe essentiell – zumal die Fragegestellung durchaus nicht trivial ist, sobald sie informiert und reflektiert auf das Erreichen von Demokratie- und Bildungszielen bezogen wird (siehe Kapitel 4.1). Während des Pilotprojekts gelang es jedoch noch nicht, diesen Diskurs produktiv aufzugreifen. Ursache dafür waren prinzipielle Mängel in der Diskussions- und Konfliktkultur zwischen einzelnen Vertreter*innen der beteiligten Initiativen. Das Pilotprojekt hat jedoch zumindest für diesen Konflikt sensibilisiert sowie objektivierte Beobachtungen und Argumente geliefert, die für die Weiterführung des Diskurses nutzbar sind.
Im Ergebnis der konfrontativen Diskussionen beschloss der Netzwerkrat von »Dresden für Alle« am 20. März 2016, das (ohnehin bereits abgeschlossene) »Pilotprojekt nicht weiter zu unterstützen oder zu tragen, da sich dessen Umsetzung in einigen Stadtteilen als sehr problematisch erwiesen hat«.

Im Kern richten sich die Befürchtungen der Kritiker einer Einbeziehung von exponierten Gegner*innen einer demokratischen und inklusiven Stadtgesellschaft in die Gruppenarbeit auf folgenden Aspekt: Es wird befürchtet, dass diese Personen durch geschulte Argumentationen und Kommunikationsweisen die Gruppendiskussion dominieren und auf diese Weise nicht nur die Arbeit der Gruppe torpedieren sondern neue Anhänger für Ihre Überzeugungen gewinnen könnten (»Wortergreifungsstrategie«). Dabei wird unterstellt, dass die Moderator*innen nicht in der Lage seien, einer solchen »Übernahme« wirkungsvoll zu begegnen.Tatsächlich geht die »Therapie Sociale« davon aus, dass die Gruppenarbeit für Teilnehmer*innen mit konträren, auch von einer Mehrheit abgelehnten gesellschaftlichen Positionen offen ist – sofern sie (zumindest minimal) zur (Selbst-)Veränderung bereit sind. Die von den Moderator*innen geforderte substanzielle Subjektorientierung schließt ein, dass auch solche Akteure ernst genommen und gleich….

Das stimmt durchaus mit dem überein, was Rojzman berichtet:
„hat sich nach vielen  Zögerlichkeiten und Ausweichmanövern von Seiten der Mitglieder antirassistischer Organisationen die Wirklichkeit der extremen Schwierigkeit der Migrantenaufnahme als eine Feststellung etabliert, die von allen geteilt wird“
Die Unterschiede liegen in der Bewertung und einer geradezu lächerlichen Verpackung des Kerns in einem uferlosen sozialpädagogischen Blabla im Projektbericht.
Mir geht es an dieser Stelle gar nicht darum,  Partei zu ergreifen für eine der beiden Sichtweisen. Es reicht mir völlig aus deutlich zu machen, dass es sich tatsächlich nur um unterschiedliche Wertungen handelt.

Nachtrag 24.9.2018
Hier eine Einführung in die Sozialtherapie von Charles Rojzman in Form einer Seminarankündigung aus einer Zeit, als sie noch nicht zu so strittigen Resultaten geführt hat.
Hier noch ein interessanter Auszug aus einem Bericht, über die Arbeit von Rojzman in Dresden:
Wenn sie das Gefühl haben, missachtet zu werden, äußern sie das zunächst in Wut oder Resignation, später auch in Gewalt. Rojzman ist überzeugt: Es ist nicht sinnvoll, das zu verurteilen…
Beide Extreme hält Rojzman für gefährlich: Sowohl Verteufelung, als auch Idealisierung des Fremden, sowohl Schuldzuweisungen gegen ‚die Ausländer‘ als auch solche gegen ‚die Rechten‘ seien nicht hilfreich, sondern Übertreibungen, die konstruktive Herangehensweisen erschweren würden…

Macron über seine Nation

Emmanuel Macron gilt als aussichtsreichster Kandidat für die französische Präsidentschaft. Ob das stimmt, muss sich noch zeigen, denn sehr viele Wähler sollen noch unentschlossen sein und im Zusammenhang damit kann das Wahlverfahren mit zwei Durchgängen zu großen Überraschungen führen.
Trotzdem ist es Zeit, sich ein wenig mit den politischen Aussagen Emmanuel Macrons auseinanderzusetzen, denn klar ist, dass er mit Marine Le Pen, François Fillon und inzwischen auch Jean-Luc Mélenchon zu den vier aussichtsreichsten Kandidaten in einem recht engen Rennen zählt. Heiner Flassbeck hat bereits vor einigen Wochen geschrieben, dass sein Wirtschaftsprogramm von einem keynesianischen Standpunkt aus gar nicht so schlecht aussieht, deutlich besser jedenfalls als das von Fillon. Inzwischen hat sich das auch in einer Kritik an Deutschlands Exportüberschüssen niedergeschlagen, die hierzulande zur Kenntnis genommen und kommentiert wird. In Frankreich hatte es zuvor Fillon-freundliche Stimmen gegeben, dass Schäubles öffentliche Parteinahme für Macron nach hinten losgehen könnte. In Deutschland wiederum stimmt jetzt angesichts berechtigter Kritik mancher die larmoyante Klage über Vorurteile an.

In diesem Beitrag soll es nicht um Wirtschaftspolitik gehen und nicht um Macrons Verhältnis zu Deutschland, sondern allein um seine Aussagen über Frankreich und sein Selbstverständnis als Kulturnation. Diese dürften für deutsche Ohren einige Überraschungen im Ton und im Inhalt bergen. Dem Meinungsmagazin Causeur hat er ein Interview dazu gegeben:

„Frankreich war niemals und wird niemals eine multikulturelle Nation sein“

Causeur: Nach der Polemik, die von Ihren Erklärungen in Algerien ausgelöst wurde, haben Sie Wert darauf gelegt, auf die Frage der Identität zurückzukommen mit einem Podiumsgespräch im Figaro und einem Gespräch mit JDD. Es geht darum, Sie wissen es, dass es für die Franzosen wichtig ist, zu definieren und zu bewahren, was aus uns ein Volk macht. Trotzdem hat man den Eindruck, dass diese Themen Sie nicht begeistern und ansprechen. Sie sagen, dass „unsere Nation aus Verwurzelung und Öffnung gemacht ist“, aber jenseits von einigen symbolischen Gesten werden Sie mehr als der Kandidat des Neuen und der Öffnung wahrgenommen als derjenige der historischen Verwurzelung. Akzeptieren Sie diese Diagnose?

Emmanuel Macron: Ich akzeptiere sie nicht, aber sie überrascht mich kaum. Zunächst: Sind wir so sicher, dass die Identität nicht im Zentrum des Wahlkampfs steht? Ich selbst höre die Reden von Frau Le Pen über die Grenzen und die Worte von Herrn Fillon über den „antifranzösischen Rassismus“. Wenn Sie den Eindruck haben, dass dieses Reden nicht fruchtet, dann liegt das daran, dass es die Tiefen des französischen Volkes nicht erreicht. Der französische Geist lebt nicht in diesem verengten Kult einer idealisierten Identität. Er lebt auch nicht im Multikulturalismus, diesem Nebeneinanderstellen von geschlossenen Gemeinschaften. Der französische Geist ist etwas Imaginäres, das wir teilen. Dieses Imaginäre ist in unserer gemeinsamen Sprache verankert. Das ist unsere erste Verwurzelung. Es ist in einer Geschichte verankert, in Gebieten und Landschaften. Das ist unsere zweite Verwurzelung. Aber unsere Sprache, unsere Geschichte, unsere Gebiete und Landschaften sind nicht eindeutig. Sie sind weder ein grobes Gewebe, noch ein schlecht vernähter Flickenteppich. Die französische Kultur ist ein Moiré. Also ja, ich gebe es zu, der sterile Gegensatz zwischen Identität und Multikulturalismus, in dem man uns einschließen will und der überhaupt nicht zu uns passt, begeistert mich kaum. Die französische Kultur bewegt mich, wenn sie Kreuzungspunkt von Befindlichkeiten, Erfahrungen und Einflüssen ist. Das nenne ich Offenheit. Ich sehe jedoch den politischen Gebrauch, die bestimmte Leute von unserem gemeinsamen Erbe machen wollen, um es den (ethnischen und religiösen) Zugehörigkeiten entgegenzusetzen: Die Leidenschaft mancher Leute für eine eindeutige und geschichtsübergreifende französische Identität ist eine Geste des Widerstands gegen die Auflösungsbestrebungen des globalisierten Multikulturalismus. Nun gut, was mich angeht, will ich nicht mit mir handeln lassen: ich nehme die französische Kultur so, wie sie ist, mit ihren Komplexitäten und den Zuflüssen, und ich stelle sie entschlossen den verengten Zugehörigkeiten ebenso wie den vereinfachenden Nationalismen entgegen.

Causeur: Unser Land triumphiert, sagen Sie, mit den zeitgenössischen Schriftstellern mit Namen Marie NDiaye, Leila Slimani, Alain Mabanckou. Ihre Biliothek ähnelt einem Casting, wie die erste Regierung Sarkozy. Und wenn man von zeitgenössischen Schriftstellern spricht, erscheint es erstaunlich, Namen wie Houellebecq oder Carrère zu vergessen…

Emmanuel Macron:  Erlauben Sie mir zu schmunzeln angesichts von so viel normativer Selbstsicherheit… Ich lasse Ihnen die Freiheit eines eigenen Urteils, aber gestehen Sie mir zu, dass ich nicht unterschreibe. Ndiaye (deren Mutter Französin ist), Slimani (deren Mutter Franko-Algerierin ist), Mabanckou (der Franko-Kongolese ist) sind durch die französische Sprache zur französischen Kultur hinzugekommen, und sie besetzen dort einen herausragenden Platz. Das erscheint mir das Wesentliche zu sein. Man wird französisch durch die französische Sprache. Michel Houellebecq gehört übrigens zu den Schriftstellern, für die ich eine aufrichtige Bewunderung habe, weil seine Werke die zeitgenössischen Schwindelgefühle und Ängste entziffern…..

Causeur: Eben, Sie stimmen zu, dass die französische Sprache unser gemeinsamer Schatz ist. Sehr gut. Was werden Sie tun, um sie zu verteidigen? Was halten Sie von dem Slogan „Made for sharing“, der für die Kandidatur von Paris für die Olympischen Spiele gewählt wurde? Die ganze Welt hat höhnisch gelacht über die „Molière-Klausel“, aber wenn sie eine schlechte Antwort ist, verbirgt sich dahinter nicht eine gute Frage?

Emmanuel Macron: Die französische Sprache muss nicht „verteidigt“ werden: sie ist die am dritthäufigsten gesprochene Sprache der Welt. Aber sie muss mit Unnachgiebigkeit unterrichtet werden, denn der nationale Zusammenhalt beruht auf der Beherrschung der Sprache. Französisch lesen und schreiben zu können ist nicht nur ein Pass für den Arbeitsmarkt. Es ist der erste Richtungspfeil für die Integration in unsere Gesellschaft. Genau deshalb wünsche ich, dass Lesen und Schreiben der erste Kampf der Schule seien….Diesen Kampf dürfen wir nicht verlieren. Wenn wir nicht alle die französische Sprache teilen und das, was sie von unserer Kultur transportiert, wird unser Land in hermetisch abgeschlossene Gemeinschaften zerfallen. Die französische Sprache ist die Medizin gegen das Ghetto. Deshalb werde ich auch die Unterrichtung von Griechisch und Latein[1] wieder etablieren, die dafür die Grundlage sind…..Ich wünsche ebenfalls, dass die Einbürgerung die Beherrschung der Sprache voraussetzt; darüber werde ich wachen….

Causeur: Wir haben häufig den Eindruck, dass Sie versuchen, entgegengesetzte Bestrebungen unter einen Hut zu bringen, was vielleicht lobenswert ist, wenn man den Anspruch hat, das allgemeine Interesse zu vertreten und zu schützen. Nichtsdestotrotz sind bei dem, was den kulturellen Zusammenhalt unserer Gesellschaft ausmacht, nicht alle Optionen miteinander zu vereinbaren. In der Geschichte hat Frankreich das republikanische Modell (Assimilation, dann Integration), das den Neuankömmlingen und ihren Kindern abverlangt sich anzupassen, dem Multikulturalismus vorgezogen, was bedeutet, dass die Gleichheit der Individuen untereinander nicht die Gleichheit der  Kulturen nach sich zieht. Ist dieses Modell durch die Vielfalt unserer Gesellschaft obsolet geworden? Müssen wir mit dieser Tradition brechen, um muslimische Bevölkerungen aufzunehmen, die von „entfernteren“ Kulturen kommen?

Emmanuel Macron: Das französische republikanische Modell beruht auf der Integration. Das kann nicht in Frage gestellt werden….

Causeur: Aber wenn Sie ein Verteidiger der französischen Sprache und der Laizität sind, was unterscheidet Sie dann von ihnen (Anm. des Übersetzers: gemeint sind wohl die zuvor erwähnten Einwanderungs- und Islamkritiker Alain Finkielkraut und Eric Zemmour)

Emmanuel Macron: Der Unterschied zwischen ihnen und mir ist, dass ich keine Angst habe. Ich habe keine Angst um unsere Kultur, ich habe keine Angst um Frankreich. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Frankreich niemals eine multikulturelle Nation war und es niemals sein wird. Wenn es ein Risiko gibt, dass es so kommt, werde ich es bekämpfen, indem ich unserer Sprache ihre herausragende Bedeutung im Unterricht zurückgebe, indem ich alle ohne Nachgeben sanktioniere, die sich den Gesetzen der Republik und ihrer Praxis entziehen, indem ich unablässig an dem arbeite, was uns gemeinsam ist….

Den radikalen Islam zu bekämpfen ist keine Islamophobie: es ist das Minimum, das man von den politisch Verantwortlichen erwarten kann

… Angst zu haben, sich zu beunruhigen, zu fürchten hat noch niemals zu etwas geführt.

Causeur: Doch, dazu die Realität so zu sehen, wie sie ist, auch dann, wenn sie uns nicht gefällt. Eine gewisse Anzahl von Franzosen denken, dass unsere kollektive Identität durch den Aufstieg des radikalen Islam bedroht ist. Haben sie Unrecht? Ist das Islamophobie?

Emmanuel Macron: Den radikalen Islam zu bekämpfen, ist keine Islamophobie: es ist das Minimum, das man von politisch Verantwortlichen erwarten kann, die sich bemühen, die nationale Einheit und die öffentliche Ordnung zu erhalten. Aber wenn der von Millionen Landsleuten praktizierte Islam auch verdächtigt wird, nicht mit den Gesetzen der Republik kompatibel zu sein, wenn man Ihnen zeigt, dass es in der Natur des Islam liegt, gegen unsere Gesetze gerichtet zu sein, dann beginnt die Islamophobie. Den Islam in Frankreich zu organisieren und zu regulieren, besonders indem man ihn von seinen konsularischen Verbindungen (Anm. des Übersetzers: also zu ausländischen Regierungen) abschneidet, wird es erlauben, diesen Befürchtungen ein Ende zu machen, und wird es unseren islamischen Landsleuten erlauben, ihren Glauben vor Verdächtigungen geschützt zu leben. Das ist mein Projekt, und meine Entschlossenheit in dieser Sache hat keine Schwachstelle.

Causeur: Wird das ausreichen, um den Anstieg einer Form von Frömmigkeit und des Rigorismus einzudämmen, die danach strebt, sich vom Rest der Gesellschaft zu isolieren? Jenseits des Terrorismus gibt es einen friedlichen Separatismus. Werden Sie ihn bekämpfen und wie?

Emmanuel Macron: Die Rolle eines Präsidenten der Republik ist es nicht, Glaubensinhalte zu bekämpfen, sondern die Worte und Praktiken zu bekämpfen, die sich außerhalb der republikanischen öffentlichen Ordnung stellen. Wenn die religiösen Strömungen, die Sie beschreiben, darauf hinauslaufen, die republikanische Ordnung in Frage zu stellen, besonders bei der Rolle, die sie den Frauen zuweisen, werden sie hart sanktioniert werden. Manche werden es schon. Da wird man weitermachen müssen. Um diese Auswüchse zu entdecken, werden wir eine Polizei und Nachrichtendienste auf der am besten passenden Ebene auf die Beine stellen müssen. Ich werde sie auf die Beine stellen.

[1] Anmerkung des Übersetzers: die sozialistische Regierung Hollande hatte die Unterrichtung dritter Fremdsprachen massiv heruntergefahren. Davon war nicht nur Latein, sondern auch Deutsch stark betroffen.

Kommentare:

  • Macron gibt sich alle Mühe, ein republikanisches Selbstbild der französischen Nation zu vertreten, das von links bis rechts sehr viele Wähler ansprechen könnte
  • Das klassische französische Modell, Integration über die Sprache, Kultur und die republikanischen Bürgerrechte zu definieren statt über Herkunft und Hautfarbe, ist mir persönlich sympathisch und auch weit nach links konsensfähig.
  • Gleichzeitig betont er deutlich und ungewöhnlich hart auch die Kehrseite der Medaille: mehr Zug in den Schulen, keine Einbürgerung ohne Beherrschung der Sprache, Sanktionen gegen Abweichungen. Damit integriert er weit in die bunte und breite Szene der französischen Einwanderungs- und Islamkritiker und der katholischen Konservativen hinein.
  • An keiner einzigen Stelle versucht er, Personen und Autoren wie Michel Houellebecq, Alain Finkielkraut oder Eric Zemmour auszugrenzen (Merkel über Sarrazin: „nicht hilfreich!“) oder in eine Schmuddelecke zu verbannen, wie es in Deutschland oft üblich ist. Kein Ton davon. Er erlaubt sich lediglich, andere Schlüsse zu ziehen oder andere Akzente zu setzen. Mit dem Plätten von Meinungen durch moralischen Totschlag käme er in Frankreich nicht durch, gerade nicht als der Kandidat der Mitte, der er sein will.
  • Es ist nicht korrekt oder sogar Etikettenschwindel, wenn deutsche Medien wie die SZ Macron als Linksliberalen verkaufen. Mit den hier vorgetragenen Thesen zu Staatsbürgerschaft, Bildung, Sanktionen könnte er im deutschen Parteienspektrum mühelos auch im Wählerspektrum der CSU punkten. Sehr deutlich setzt er sich von Multikulti ab.
  • Macron ist ein Zentrist, der auf der rhetorischen Ebene äußerst geschickt operiert. Es ist also logisch, dass er auch von François Bayrou unterstützt wird, von ehemaligen Regierungsmitgliedern wie auch inoffiziell vom bisherigen Präsidenten Hollande und von Konservativen, die Fillon nicht unterstützen wollen.
  • Auch der auf diesem Blog bereits mit einem Kommentar vertretene Luc Rosenzweig hat sich in einem Kommentar im „Causeur“ für Macron ausgesprochen: „Die Alten mit Macron!“ (online hier). Als Grund gibt er u.a. die Befürwortung der Kernenergie an, also noch eine Präferenz, die so gar nicht mit dem deutschen Mainstream zu vereinbaren ist.
  • An einigen Stellen kann man eine gewisse Naivität oder gar Täuschungsabsicht vermuten, z.B. wenn er sagt, dass er den Islam in Frankreich von den „konsularischen Verbindungen“ abschneiden will. Das ist in Wahrheit sehr starker Tobak, und es würde nicht ohne schwere Konflikte abgehen.
  • Die große Frage bei Macron lautet deshalb für alle potenziellen Wähler: Meint er es ernst und kann er es auch? In seinem jungen Alter und mit der Musterschüler-Karriere, die er bisher hingelegt hat, ohne irgendwo groß anzuecken? Emmanuel Todd über Emmanuel Macron: „Er ist außergewöhnlich in der Selbstsicherheit, nichts zu sagen. Aber er hat ein sehr klares Programm: die Verschmelzung sämtlicher Gemeinplätze des Bankensystems.“
  • Wenn Macron Präsident wird, dürfte vieles auch davon abhängen, welche Handlungsfreiheit ihm das im Juni neu zu wählende Parlament geben wird.
  • Ein vom breiten Establishment gestützter Präsident Macron könnte sich sehr schnell auch als letzte Chance für dieses Establishment herausstellen. Noch eine Enttäuschung wie die durch François Hollande kann sich Frankreich wohl nicht leisten.

Nachtrag 19.4.2017:
Der altgediente und regierungserfahrene Linkssouveränist Jean-Pierre Chevènement ist sich unsicher, ob er Mélenchon oder Macron wählen soll.
Daniel Stelter beschäftigt sich mit dem Wahlkampf in Frankreich und einer möglichen Paarung Mélenchon – Le Pen, das Alptraum-Szenario für den Euro und Deutschland.
Ein Stechen der beiden ist tatsächlich nicht ausgeschlossen, aber derzeit eher unwahrscheinlich. Umfragen zeigen derzeit eher, dass Fillon wieder an Macron und Le Pen heranrückt, die beide ein wenig schwächeln und von zwischenzeitlich über 25 auf 22% gefallen sein sollen. Das Rennen bleibt spannend, gerade weil Umfragen nicht überbewertet werden sollten. Hamon ist aber wohl abgeschlagen und aus dem Spiel. Wenn er in dieser Lage verzichten und zur Wahl von Mélenchon aufrufen würde, wäre das eine dramatische Wende.

Nachtrag 20.4.2017:
Will Denayer in Makroskop (Paywall): Der Kandidat der extremen Mitte.
Manfred Haferburg beschreibt im dritten Teil einer erfrischenden Serie die Ungewissheit: Paris vor der Wahl

Nachtrag 23.4.2017:
Die erste Runde der Wahl ist gelaufen. Die Umfragen haben zuletzt ein sehr korrektes Bild des Ergebnisses gezeichnet: Macron und Le Pen vorne bei 22-24%, Fillon und Mélenchon in der zweiten Reihe bei knapp 20%, der schwache Hamon (der den starken Mélenchon aus dem Rennen genommen hat) und Dupont-Aignan (der Fillon aus dem Rennen genommen hat), abgeschlagen in der dritten Reihe bei 5-6%. Keine einzige Überraschung dabei.
Im nächsten Beitrag werde ich hier das Interview mit der Kandidatin Marine Le Pen aus derselben Serie „Parlez-nous de la France!“ wiedergeben.
Gute Einschätzung im Cicero: Neuanfang auf Trümmern

Nachtrag 24.4.2017:
Das vermutlich nachhaltigste Ergebnis dieser Wahl ist der Untergang Hamons (fr) und damit des offiziellen Kandidaten der Sozialistischen Partei. Damit ist das Erbe des fragwürdigen Gründers François Mitterand endgültig verjubelt bzw. unter die Erde gebracht.
Außerdem muss man feststellen, dass die beiden durch Vorwahlen bestimmten Kandidaten Hamon und Fillon auf ganzer Linie enttäuscht haben. Die beiden Finalisten dagegen haben sich keiner Vorwahl gestellt, ebenso wenig wie Mélenchon, der im Wahlkampf den stärksten Auftritt abgeliefert und den besten Zuwachs eingefahren hat.

Brauchbare Analysen/Karten bei der ZEIT: Die Jungen wählen extrem – oder gar nicht
Heiner Flassbeck hat eine guten und fairen Ausblick auf die Herausforderungen für Macron im Angebot: Das mittlere Maß der Unvernunft.
Hervorragende Grafiken zum Wahlausgang auf dem Blog les-crises.fr (versteht man auch mit wenig Französischkenntnissen).

Nachtrag 25.4.2017:
Den Untergang der französischen Sozialisten hat Evans-Pritchard bereits vor 3 Jahren analysiert.

Nachtrag 26.4.2017:
Nils Minkmar zur Wahl: Frischer Wind im Geisterhaus
Nicht schlecht, aber auch nicht sehr tiefschürfend. Minkmar hat bei der FAZ stärkere und vor allem auch scharfsinnigere Artikel geschrieben als beim ehemaligen Nachrichtenmagazin.

Nachtrag 1.5.2017:
Emmanuel Todd hat in einem Interview gesagt, dass Jean-Luc Mélenchon DAS Ereignis der 1. Runde der Präsidentschaftswahlen war, dass er ihn in der Vergangenheit zu hart beurteilt und jetzt für ihn gestimmt habe. Er habe die Dynamik in den unteren Klassen  zugunsten des FN gebrochen.
In der Stichwahl werde er sich „mit Freude“ der Stimme enthalten, weil eine Stimme für Le Pen eine fremdenfeindliche Stimme sei, eine Stimme für Macron für ihn aber eine Stimme für die Hinnahme der Unterwerfung.

Nachtrag 3.5.2017:
Es gibt in der WELT ein Interview mit Emmanuel Todd über Macron und die Wahl (leider hinter einer PayWall): Emmanuel Macron wird Frankreich verraten.
Die Nachdenkseiten kritisieren den extremen moralischen Druck zur Parteinahme für Macron: Unser linksliberales Establishment verblödet zusehends

Nachtrag 5.5.2017:
Bernd Zeller höhnt über die deutsche Wahlberichterstattung:ReifFürEinePräsidentin
Und eine Ausnahme dazu:
Sehr gutes Interview in der ZEIT zur Wahl mit Emmanuel Carrère.

Nachtrag 7.5.2017:
Macron ist gewählt. Die ca. 65%:35%  entsprechen ziemlich genau dem, was schon vor Monaten für diese Paarung gehandelt wurde. In der Zwischenzeit gab es (wie so oft) jede Menge Hype, um das Interesse an entsprechenden Berichten nach oben zu jazzen.
Jetzt geht es darum, nach vorne zu blicken: Macron muss liefern, und Deutschland kann es sich nicht leisten, zu allem Nein zu sagen.

Nachtrag 8.5.2017:
Die Nachdenkseiten sehen Frankreich vor turbulenten Zeiten. Es ist in jedem Fall richtig, dass die Parlamentswahlen über Macrons Handlungsspielraum entscheiden werden.

Nachtrag 11.5.2017:
Peter Wahl: Der halbe Sieg des Emmanuel Macron
Auch in der ZEIT ein guter Beitrag von Mark Schieritz über das Ende der deutschen Illusionen durch Macron.

Nachtrag 15.05.2017:
Winfried Wolf: Macron wird die Krise der EU vertiefen
Durchaus einige interessante Gedanken und Information mit viel linker Parteilinie

Trüber Frühling für Europa

Der Gaullist Roland Hureaux hat im französischen Magazin ‚Causeur‘ am 14. Februar einen Kommentar über die außenpolitische Lage Europas veröffentlicht, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt:

matruschkas
Souvenirladen in St. Petersburg

Der trübe Frühling, der Europa erwartet

Chronik des Endes einer Herrschaftsepoche

Westeuropa befindet sich heute im Zustand der Schwerelosigkeit. Alles, was seine Politik in den letzten Jahren bestimmt hat, ist dabei zusammenzubrechen, aber Europa weiß das noch nicht.

Am 20. Januar hat Donald Trump sein Amt im Weißen Haus übernommen; er hat bereits Rex Tillerson, der Putin nahesteht, zum Außenminister ernannt. In einigen Wochen werden sich Trump und Putin persönlich treffen. Sie werden wahrscheinlich eine Liste von Problemen regeln, in erster Linie dasjenige des Nahen Ostens, vielleicht das der Ukraine. Sie werden auch über China sprechen. Werden Sie über Westeuropa sprechen? Das ist noch nicht einmal sicher. Zunächst, weil es nichts Dringendes zu regeln gibt, dann, weil die Meinung der Europäer ihnen sehr unwichtig ist, sobald sie sich einig sind. Und danach? Es ist nicht absurd vorauszusehen, dass wenn sich die guten Beziehungen der beiden Mächte bestätigen, sie eine Art von Co-Vormundschaft über Westeuropa installieren werden.

Die Verlassenheit Westeuropas

Die Verlassenheit der Länder Westeuropas ist groß. Zunächst aus Gründen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage: Rezession, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Geburtenmangel, immense Frustration der Völker. Dann auch aus Gründen ihrer Engagements der letzten 10 Jahre. Die Weigerung Jaques Chiracs im Jahr 2003, am Irakkrieg teilzunehmen, war der letzte Akt des Widerstands einer europäischen Regierung gegen Washington. Seit damals waren die Positionen der Regierungen, der dominierenden Parteien, der wichtigsten Entscheider und der Medien, sich ohne Nuancen an die amerikanische Politik im Hinblick auf Russland und den Nahen Osten anzuschließen; eine Politik, die in Europa darin bestand, den Ukraine-Konflikt zu verschärfen und Sanktionen gegen Moskau zu verhängen, die streng gescholten wurden von einem so maßvollen Mann wie Helmut Schmidt, und im Nahen Osten darin, dschihadistische Bewegungen zu unterstützen, um  vor langer Zeit etablierte Regime zu destabilisieren oder zu stürzen, die von Washington öffentlich angeprangert worden waren.

Es sind in gar keiner Weise die Interessen Europas, die diese Politik erklären, es ist die Unterwerfung seiner Anführer. Sie haben sich in Wahrheit gar nicht nach der amerikanischen Politik als solcher ausgerichtet, sondern nach der neokonservativen Ideologie, die jene seit 25 Jahren inspiriert. Nun hat aber diese Ideologie im November 2016 einen tödlichen Schlag erhalten: die Niederlage Hillary Clintons, die sie personifizierte, für die alle Europäer ohne Ausnahme unter Missachtung des Prinzips der Nichteinmischung Partei ergriffen hatten. Und dann noch einen anderen: die Niederlage der Dschihadisten, die vom Westen unterstützt worden waren, in den Straßen von Aleppo.

Die Reaktion der wichtigsten europäischen Entscheider angesichts des Siegs von Trump war bedeutsam: kalte Communiqués, moralische Lektionen, die ebenso duckmäuserisch wie lächerlich waren (besonders von Seiten der deutschen Kanzlerin). Die Reaktion auf die Ereignisse im Nahen Osten war nicht weniger desolat: unsinnige Denunziation von imaginären Kriegsverbrechen; Initiativen Frankreichs, im Extremfall die Charta der Vereinten Nationen zu ändern, um humanitäre Interventionen zu erlauben in dem Moment, wo diese gerade ein wenig überall ihren desaströsen Charakter gezeigt hatte; Ermutigungen der Briten an gewisse dschihadistische Gruppen, die  Waffenruhe zu brechen, die gerade um Putin beschlossen worden war; und Verlängerung der gegen Russland beschlossenen Sanktionen, während man weiß, dass die USA sie zügig aufheben werden: statt voranzupreschen, graben sich die Europäer in der Leugnung ein.

Angesichts des Zusammenbruchs der neokonservativen Ideologie (ultraliberal in der Wirtschaft und libertär im Gesellschaftlichen), die den gleichen integrativen und globalistischen Charakter hat wie die europäische Ideologie à la Brüssel, sind die Europäer heute wie eine Ente ohne Kopf, die weiterläuft ohne zu merken, dass sie schon tot ist. TTIP, das in gewisser Weise eine Ausdehnung der europäischen Mechanik auf den Nordatlantik darstellte, ist beerdigt.

Zwischen zwei Giganten

Aber das Schwerwiegendste für Europa ist, dass es von nun an mit zwei Giganten zu tun hat: Putin, der in seinem Land populärer ist als jemals zuvor und der angesehene Sieger im Nahen Osten, Trump, der es hinbekommen hat, gegen seine Partei und gegen die Gesamtheit der wirtschaftlichen Oligarchie und der Medien gewählt zu werden.

Keiner der beiden Männer hat Anlass, die geringste Sympathie für die aktuellen Anführer Westeuropas zu haben, die alle gegen sie Partei ergriffen haben, auf dem diplomatischen und militärischen Terrain im Falle Putins, in der Wahlarena im Falle Trumps. Der dritte große Mann, der beunruhigendere, ist Erdogan, dessen Ambitionen sich an einer aufgewühlten innenpolitischen Situation stoßen und den Putin Mühe hat, im Zaum zu halten. Deutlich abgerückt vom Brüsseler Europa bleibt er ein starker Mann.

Angesichts dieser Großen, was für ein Desaster! Deutschland hat sozusagen keine Kanzlerin mehr, so sehr hat sich Angela Merkel diskreditiert, indem sie auf unverantwortliche Weise das Land für eine Million Migranten geöffnet hat. Frankreich hat einen Präsidenten-Zombie, der auf der internationalen Bühne entwertet ist und sich noch nicht einmal zur Wiederwahl stellen konnte. Italien hat den Rücktritt des Illusionisten Renzi gesehen, der politisch so korrekt ist. Frau May scheint noch am besten dazustehen, aber noch wenig bekannt im Ausland scheint sie absorbiert zu werden von Tausend und einer rechtlichen Schwierigkeit des Brexits, wahrscheinlich weil auf keiner Seite des Ärmelkanals jemand wagt, den gordischen Knoten zu durchschlagen. Und lasst uns nicht von Juncker in seinen hellen Stunden sprechen! Das alles vor dem Hintergrund der Krise des Euro, der in der höchsten Not der griechischen Affäre durch den Druck Obamas gerettet wurde. Was wird Trump beim nächsten Mal machen?

Es ist möglich, dass sich Westeuropa, wie es heute funktioniert, auf strukturelle Weise als unfähig erweist, wirkliche Anführer zu erschaffen. In diesem Frühjahr, in dem wir darauf warten, was die französische Präsidentenwahl bringt, die erste im Kalender, wird die Sternenleere, die heute diejenige Westeuropas ist, ganz groß sichtbar werden. Eine ganzer historischer Zyklus kommt für es an ein Ende.

Mein Kommentar:
Ich lasse diesen Text inhaltlich einfach mal so stehen. Man kann das so sehen, muss aber natürlich nicht. Man sollte aber wissen, dass dieses Thema viele in unserem Nachbarland so sehen, rechte und linke Souveränisten, keineswegs nur Anhänger von Le Pen.
Roland Hureaux ist ein konservativer gaullistischer Kommentator der Außenpolitik, der sich am ehesten irgendwo in dem Umfeld einordnen lässt, das den konservativen Präsidentschaftskandidaten Fillon unterstützt.
Denken Sie einfach mal darüber nach, wo Sie in Deutschland eine solche schonungslose Analyse der Lage Europas erwarten würden. Aus welcher Partei, in welcher Zeitung?

Nachträge 26.2.2017:
Lost in EU: Warum Frankreich an der EU verzweifelt.
Die FAZ sieht das Thema ganz anders als Hureaux: Zurück zur russischen Normalität, verwendet aber lustigerweise das gleiche Matruschka-Foto. Die Welt ist klein.

Nachtrag 06.3.2017:
Kein Land in Westeuropa ist (von allen guten Geistern) verlassener als Deutschland. Wie von Hureaux im Artikel (und bereits früher) ausgeführt, wird ihm das von Erdogan vorgeführt: Sultan Erdogan fordert Tribut von Merkel – und sie zahlt.

Nachtrag 10.3.2017:
ZEIT: Es wird einsam um Deutschland. Deshalb brauche Deutschland Frankreich so dringend. Nach meiner Meinung werden die deutsch-französischen Beziehungen damit auf Dauer überlastet. Es darf nicht passieren, dass Frankreich der einzige Freund wird, der die Feindseligkeit aller anderen kompensieren muss. Außerdem ist Angela Merkel dafür die komplett falsche Kanzlerin: sie hat keinerlei Beziehung zu Frankreich, versteht noch nicht einmal die Sprache. Sie hat nur sterile Machtbeziehungen zu französischen Politikern, keinerlei Einblick in die Gemütslage der Franzosen, in ihre Spaltung auch und gerade im Verhältnis zu Deutschland. So wird die deutsch-französische Achse zuerst überlastet werden und dann wird sie brechen, mit katastrophalen Folgen für Deutschland. Es bleibt absolut notwendig, mit Polen, Großbritannien und Italien gleichermaßen in einem guten Dialog zu bleiben, zum Wohle auch des deutsch-französischen Verhältnisses!

Nachtrag 18.3.2017:
Ein Althistoriker aus Belgien sieht Das Ende des Westens.

Nachtrag 01.10.2019:
Es scheint ein bisschen, als ob der franz. Präsident 2,5 Jahre später auf einen außenpolitischen Kurs eingeschwenkt ist, der die Bedenken aufgreift, die Hureaux hier geäußert hat. Meint die NZZ:
NZZMacron

Fillon und der Zombie-Katholizismus

Die Überraschung Fillon

Es gibt keinen Zweifel daran, dass der klare Sieg von François Fillon bei der Vorwahl zum Präsidentenkandidaten der französischen Konservativen (Republikaner) eine große Überraschung und einen Game Changer für die französische Präsidentschaftswahl im Mai 2017 darstellt. Fillon hat seine Konkurrenten Alain Juppé und Nicolas Sarkozy regelrecht vom Platz gefegt. Wer ist Francois Fillon? Folgende Aussagen finden sich in Fillons Wahlplattform:

  • Innenpolitik:
    • Eine Kampfansage an den radikalen Islam
    • Eine Absage an die Gleichstellung der Homo-Ehe
    • Vorrang für die klassische Ehe und Familie mit Elternschaft
  • Außenpolitik: Bessere Beziehungen Frankreichs zu Russland
  • Wirtschaftspolitik:
    • Festhalten am Euro
    • Thatcherismus

Foreign Policy mit Todds Analyse

Emmanuel Todd hat sich kürzlich dazu geäußert, dass die Franzosen immer zu spät kämen und jetzt mit 35 Jahren Verspätung den Thatcherismus entdecken, ohne aber die Euro-Mitgliedschaft in Frage zu stellen. In diesem Sinne wäre also Francois Fillon der Francois Mitterand unserer Zeit. Mit seiner Innenpolitik spricht der ungewöhnlich gläubige Fillon aber nach Todds Systematik die traditionelle katholische Hälfte Frankreichs an, die er als Zombie-Katholizismus bezeichnet, weil sie mehrheitlich ihre bewusste Religiosität verloren hat.
Exakt diesen Gedanken hat die US-amerikanische Zeitschrift für Außenpolitik ‚Foreign Policy‘ mit explizitem Verweis auf Todds Arbeiten[1] aufgegriffen:
Frankreichs Zombie-Katholiken sind aufgestanden — und sie wählen

Schlechte Karten für die Linke

Der französische Wahlkampf verspricht, sehr spannend zu werden, aber nicht wegen des Ergebnisses. Ich gehe von zwei Dingen fest aus:

  1. Fillon wird es in die Stichwahl schaffen
  2. Wenn ein linker Gegenkandidat in die Stichwahl kommt, wird Fillon Präsident

Für den Punkt 2 sprechen die große Enttäuschung über den Sozialisten Hollande  und Fillons innen- und außenpolitische Ausrichtung mit großen Überschneidungen mit dem Front National.
Welcher Kandidat von links hat aber überhaupt eine Chance, Le Pen in der ersten Runde rauszuwerfen, weil sie zu viel an Fillon verliert? Es ist noch völlig unklar, wer das sein könnte: Valls, Macron, Montebourg? Nur ein Linker, der das Euroregime radikal in Frage stellt, könnte das schaffen. Andernfalls läuft es eben auf eine Stichwahl Le Pen gegen Fillon hinaus.
In diesem Fall steht die Linke vor der totalen Demütigung: einen Thatcheristen und strengen Katholiken gegen Marine Le Pen unterstützen! Viele Wähler der Linken könnten wegen ihrer sozialeren Wirtschaftspolitik und wegen der streng katholischen Familienpolitik Fillons zu Le Pen überlaufen.
Alles in allem sagt mir mein Gefühl, dass Fillon mit großer Wahrscheinlichkeit (7/10) der nächste französische Präsident wird. Le Pen gebe ich nur Außenseiterchancen, vielleicht 1/5, einem linken Kandidaten den verschwindenden Rest von 1/10. Makroskop sieht das ein wenig anders, und tatsächlich kann in einem halben Jahr natürlich viel passieren. Trotzdem halte ich die Chance der Linken auf die Präsidentschaft für gering.

Linkssein heißt Opposition sein

Die Linke müsste versuchen, einen Kandidaten aufzustellen, der es mit den Themen in die Stichwahl schafft, die dann für die Parlamentswahlen im Juni und für die kommende Legislaturperiode wichtig sind. Nach Lage der Dinge ist das eine schonungslose Debatte über die Zukunft eines Euro, der objektiv nicht funktioniert. Damit wären wir wieder bei Todds Analyse. Die richtigen Kandidaten dafür sind weder Manuel Valls noch der Medienliebling Macron, zwei weitere linke Mogelpackungen, sondern Arnaud Montebourg. Montebourg könnte gemeinsam mit Fillon dem Front National genügend Stimmen abnehmen, um Le Pen aus der Stichwahl zu halten und dann einen Oppositionsführer zu geben, der Frankreich im Konflikt mit einem Präsidenten Fillon vorwärts bringt.
Es ist ein Grundfehler für Linke, ständig regieren zu wollen. Linke, die ständig regieren oder mitregieren, werden korrumpiert und hören unweigerlich auf, links zu sein. Linkssein bedeutet, gute Opposition zu machen und es hinzunehmen, dass man selten regiert. Eine andere Linke ist so überflüssig wie ein Kropf.

Spannende Zeiten

Katholisch geprägt habe ich durchaus manche Sympathien für Fillons Programm (eine herrliche Zumutung für die kaputte neoliberale Linke), halte aber seinen wirtschaftspolitischen Thatcherismus gemeinsam mit Emmanuel Todd und Makroskop für aus der Zeit gefallen und fehlgeleitet. Eine Verkleinerung des staatlichen Sektors ist durchaus nicht unvernünftig, kann aber im Euroregime nicht leicht durch eine Aktivierung des privaten Sektors ausgeglichen werden. Das Scheitern dieses Versuches könnte einen Präsidenten Fillon möglicherweise gegen seine Absicht auch wirtschaftspolitisch mit Deutschland in schwerste Konflikte zwingen. Außenpolitisch sehen solche Konflikte sowieso unvermeidlich aus, worauf ja auch Peter Wahl in Makroskop hingewiesen hat. Der strahlende Sieger Fillon am Wahlabend könnte also der Präsident werden, der nolens volens den Euro sprengt und das zombie-katholische Frankreich in massive Konflikte mit einem heillos verpreußten und von linksprotestantischem Pfaffenvolk beherrschten Deutschland führt. Es wird eine spannende Zeit werden, insbesondere im Fünfeck mit einem protektionistischen US-Präsidenten Trump, einem England im Brexit und einem Italien im offenen Aufruhr. Was bevorsteht, ist nicht weniger als eine komplette Neuordnung der politischen Beziehungen in Europa. Fillons Nominierung war ein weiterer Peitschenschlag, der das deutlich gemacht hat.

Nachtrag 19.12.2016:
Der zentristisch-konservative Politiker François Bayrou kritisiert Fillons Wirtschaftsprogramm als „rezessiv“ und „riskant für den Zusammenhalt der französischen Gesellschaft“. Bayrou ist bereits mehrfach als vernünftige Alternative zu Rechts und Links angetreten, hat aber dieses Mal seine Kandidatur (noch) nicht erklärt.

Nachtrag 23.12.2016:
Ein sehr lesenswerter Artikel zum französischen Wahlkampf aus der ZEIT:
Geht es den Franzosen diesmal nur ums Geld?
Ich stimme zu, dass es eine Stichwahl Fillon gegen Le Pen geben wird, und halte auch die Darstellung der Motivationen der Wähler beider Kandidaten für gut. Allerdings sehe ich unter dem Strich wenig Chancen für Le Pen.

Nachtrag 12.01.2017:
Makroskop hat einen interessanten Beitrag über die Kandidatin Le Pen.

Nachtrag 13.01.2017:
Der SPIEGEL rührt heute etwas die Werbetrommel für den von mir als „Medienliebling“ bezeichneten Emmanuel Macron. Passt bestens!
Gleichzeitig ist ein fader Bericht über die Urwahl der als aussichtslos angesehenen linken Kandidaten erschienen. Nach französischen Umfragen hat in der Fernsehdebatte Hamon am besten abgeschnitten, gefolgt von Montebourg und Valls. Tatsächlich soll die Unzufriedenheit mit allen Kandidaten recht hoch sein. Die Anhänger von Hamon bzw. Montebourg zeigen aber viel Zustimmung für den jeweils anderen Kandidaten. Man könnte also spekulieren, dass einer der beiden die Stichwahl gewinnen und Valls ausscheiden wird.

Nachtrag 19.01.2017:
In den letzten Tagen des Vorwahlkampfs der Sozialisten ist Bewegung in die Kandidatendebatte gekommen. Die bereits in meinem Beitrag skizzierte Thatcher-Schwäche des Kandidaten Fillon beim Thema Wirtschaft und Soziales brennt vielen Kommentatoren, auch Verbündeten unter den Nägeln. Der konservative Kandidat schwächelt auch in den Umfragen, ist für den ersten Wahlgang teilweise hinter Le Pen auf Platz 2  zurückgefallen. Zuvor hatte bereits ein eigentlich konservativer Kommentator über ein soziales Desaster mit Fillon und einen Bürgerkrieg mit Le Pen räsonniert: Die Hypothese Macron. Macron könne zur Überraschung im 1. Wahlgang werden. Die Umfragen zeigen ihn auf Platz 3, noch mit Abstand zum 2., aber mit steigender Tendenz. Die Aussichten für den (noch zu bestimmenden) sozialistischen Kandidaten bleiben düster. Er könnte hinter dem Linksaußen Mélenchon auf dem 5. Platz landen.

Nachtrag 23.01.2017:
Manuel Valls ist nach der 1. Runde der Vorwahlen der Sozialisten angeschlagen. Montebourg ist als Dritter leider ausgeschieden und hat zur Wahl von Hamon aufgerufen. Weder Valls noch Hamon haben IMHO eine Chance, Präsident zu werden. Valls hat bereits bewiesen, dass er nicht in der Lage ist, eine gute Alternative zu Fillon zu bieten, und Hamon baut seinen Wahlkampf auf einem linken Wohlfühl-Thema (bedingungsloses Grundeinkommen) auf. Das wird nichts.
Der nächste Präsident wird höchstwahrscheinlich Fillon oder Macron heißen. Le Pen wird den 2. Wahlgang wahrscheinlich erreichen, aber dann sehr wahrscheinlich verlieren.
FAZ-PLUS-Lesern wird ein Interview mit Fillon geboten.

Nachtrag 27.01.2017:
Fillon hat inzwischen noch einen Skandal an der Backe.Der anfängliche Glanz ist weg.
Sehr gute Analyse zum französischen Wahlkampf gestern auf den Nachdenkseiten. Im Ergebnis sehe ich das genauso.

Nachtrag 29.01.2017:
Hamon wird Kandidat der Sozialisten, Valls ist raus (kein Verlust). Hamon wird sich mit Jean-Luc Mélenchon um die Stimmen von linksaußen streiten und hat wohl keine Chance auf die Stichwahl.

Nachtrag 30.01.2017:
Kommentar dazu von Eric Bonse: Sturm auf die Bastille
Der Wahlkampf verspricht jetzt, extrem spannend zu werden: Fillon schwächelt wegen der Affäre um die Beschäftigung seiner Frau. Mehr und mehr Konservative halten seine Kandidatur für einen Fehler. Macron hat in den Umfragen aufgeholt und hat viel Unterstützung von Prominenten und Medien. Und selbst Hamon hat noch Chancen, in die Stichwahl zu kommen, wenn Mélenchon (vielleicht in letzter Minute?) auf seine Kandidatur verzichtet. Er hatte lange gezögert, ob er nochmals kandidiert, und hat jetzt mit Hamon einen sehr linken, aber viel jüngeren Mitkonkurrenten. Im Ergebnis würden sich mit Hamon, Macron, Fillon und Le Pen vier Kandidaten gegenüberstehen, die für jeweils 20-25% gut sind. Für die erste Runde sieht Le Pen mit stabil 25%+ am sichersten aus, aber sie hat wenig Chancen für die 2. Runde (außer gegen Hamon). Das Wahlrecht macht so aus der Wahl fast ein Würfelspiel. Die FAZ sieht schwarz für die V. Republik.

Nachtrag 1.2.2017:
Die Verzweiflung im konservativen Lager soll inzwischen so groß sein, dass hinter den Kulissen schon nach einem Ersatzmann für Fillon gefahndet wird. Nicht nur eine Affäre setzt ihm zu, sondern auch die wahlkämpferische Tatenlosigkeit davor. Nach seiner Nominierung  wäre das Aus der 2. Fillon-Paukenschlag im Wahlkampf. Gibt es einen Totalausfall des Konservativen?
Das kann man jetzt auch in der FAZ lesen: Fillon im freien Fall

Nachtrag 14.2.2017:
Peter Wahl: Wahljahr in Frankreich: Atemberaubende Wendungen

[1] Derselbe Autor von Foreign Policy hat bereits 2015 Todds Buch „Wer ist Charlie?ausführlich besprochen:
wer_ist_charlie

Ein Märchen aus Deutschland

Der französische Journalist Luc Rosenzweig war u.a. von 1987 bis 1991 Deutschlandkorrespondent für Le Monde. Zum Abschied hat er damals diesen Text in der ZEIT veröffentlicht. Jetzt hat er im Meinungsmagazin ‚Causeur‘ einen sehr spöttischen Beitrag über die deutsche Berichterstattung zu al Bakr, dem Terroristen von Chemnitz, geschrieben, den ich hier in Auszügen übersetzt wiedergebe:

Flüchtlinge gegen Terroristen:
ein Märchen aus Deutschland

Uff, die Merkel’sche Moral  ist unbeschädigt

Bevor er sich in seiner Zelle erhängte, war der syrische Migrant, der wegen der Vorbereitung eines Terroraktes verhaftet wurde, von einigen seiner Landsleute überwältigt und angezeigt worden. Die „guten“ Syrer neutralisieren den bösen: das ist die schöne Geschichte, die (sich) die deutschen Behörden erzählen…

(zuerst beschreibt er die Abläufe, die zur Festnahme führten und die in Deutschland überwiegend bekannt sein dürften)
….
Für die Behörden ist das ein Geschenk des Himmels in Sachen Kommunikation: die Boulevard-Presse fing an sich darüber aufzuregen, dass die Polizei unfähig war, einen Terroristen auf der Flucht zu „schnappen“ und die Opposition von rechts gegen die Regierung Merkel sah sich in ihren Anschuldigungen von Inkompetenz im Kampf gegen die Terroristen gestärkt. Indem sie massiv syrische Flüchtlinge ins Land gelassen habe, habe die Regierung laut ihren Kritikern die terroristischen Wölfe in den deutschen Schafstall gelassen. Bingo! Die „guten“ Syrer neutralisieren den bösen. Die Merkel’sche Moral ist unbeschädigt! Das Heldentum des Mohammed A. und seiner Freunde wird von den politisch Verantwortlichen hochgespielt, und Letzterer spricht in den Medien, um ihre Heldentaten zu erzählen, bevor er ein wenig spät merkt, dass ihnen das Unstimmigkeiten mit al Bakrs Freunden einbringen kann…
Angela macht einen Punkt in der öffentlichen Meinung, aber es ist nicht gewiss, dass Mohammed und seine Freunde dabei auf ihre Kosten kommen…
Aber hatten sie überhaupt eine Wahl? Al Bakr laufen zu lassen, hätte aus ihnen Komplizen gemacht und ihr Projekt der Eingliederung in Deutschland zerstört in dem (sehr wahrscheinlichen) Fall, dass die Polizei seinen Fluchtweg rekonstruiert hätte. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, den 13. Oktober, nimmt sich der „am besten überwachte Gefangene Deutschlands“ das Leben durch Erhängen in seiner Zelle im Gefängnis von Leipzig, und beraubt die Ermittler dadurch der Hinweise auf seine Ziele und sein eventuelles Terrornetzwerk, die er hätte geben können. Die Polemik geht wieder los und manche böse Zungen jenseits des Rheins meinen, dass es sinnvoller gewesen wäre, al Bakr in der Obhut seiner Denunzianten zu belassen. Es gibt keine Moral in dieser Geschichte!

Kommentare:

  • Rosenzweig ist heute definitiv nicht mehr das, was er in dem ZEIT-Artikel von 1991 immer bleiben wollte: ein Linker. Er ist vielmehr ein typischer Vertreter der islamkritischen Intelligenz jüdischer Abstammung in Frankreich, keiner von den ganz polemischen (wie sie in Deutschland von Henryk Broder repräsentiert werden), sondern gemäßigt, aber doch deutlich.
  • Wichtiger für diesen Beitrag: Rosenzweig veröffentlicht weiterhin viele Beiträge über Deutschland und kennt sich hierzulande gut aus. Die scharfe Kritik an der deutschen Politik und insbesondere der Regierung Merkel ist dabei unübersehbar. Da hat sich in den letzten 25 Jahren sehr viel Entfremdung angesammelt, und es lohnt sich den oben verlinkten ZEIT-Beitrag zum Abschied aus dem wiedervereinigten Deutschland nochmals zu vergleichen.
  • Insbesondere hört man aus dem Beitrag jede Menge Erstaunen heraus, mit was für rührenden Geschichten, Politiker der deutschen Öffentlichkeit kommen können, ohne ausgelacht zu werden: „Märchen aus Deutschland“, Kindergartengeschichten.
  • Rosenzweig deutet beispielsweise ganz kühl darauf hin, dass al Bakr das Wissen um Ziele und Hintermänner des geplanten Anschlags mit ins Grab nimmt. Daraus folgt unmittelbar die Frage, ob andere als er selbst ein Interesse an seinem Tod gehabt haben könnten. In Deutschland stellen diese Frage nur sehr wenige „Verschwörungstheoretiker“, dafür gibt es jede Menge Anklagen gegen die „rassistischen“ Sachsen, die mal wieder einen irgendwie doch bedauernswerten Möchtegernterroristen wenn nicht gemeuchelt, dann eben nicht am Selbstmord gehindert haben. Ist Deutschland tatsächlich in diesem Ausmaß ein Kindergarten der dummen Betroffenheit, dass es praktisch jedem wachen ausländischen Beobachter auffallen muss?
  • Ceterum censeo Angelam esse mittendam (Im übrigen bin ich der Ansicht, dass Angela Merkel gefeuert werden muss)

Nachtrag 9.9.2017:
Passend dazu ein Interview mit Douglas Murray in der Basler Zeitung:
„Jedes Mal, wenn es in Deutschland einen Anschlag gibt, ist Angela Merkel, die deutsche Bundeskanzlerin, darauf angewiesen, dass die Schuld daran nicht ihr angelastet wird. Der jeweilige Attentäter darf also keiner sein, der vor Kurzem auf ihre Einladung hin nach Deutschland gekommen ist. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern eine simple Beobachtung.“

Nachtrag 24.07.2018:
Luc Rosenzweig ist gestorben

Ein großer Politiker und Ehrenmann

war

francois_mitterrand_1959

François Mitterrand

Geboren am 26. Oktober 1916, also vor demnächst  100 Jahren, hatte Mitterrand bereits eine äußerst bewegte politische Karriere hinter sich, als er 1981 Präsident der Republik wurde und zwei Amtszeiten lang bis 1995 blieb.
Besonders interessant sind jeweils sehr „ambivalente“ Rollen in prägenden Ereignissen der französischen Geschichte:

– zwischen dem Kollaborationsregime von Vichy  und der  Résistance
– beim  Kampf um Algerien
– beim Putsch gegen General de Gaulle

Seine wirkliche Rolle blieb für die französische Öffentlichkeit immer hinreichend dubios, damit ihm einerseits viele links und rechts nicht über den Weg trauten, er aber mit einer Anfang der 70er Jahre neugegründeten Partei, der Sozialistischen, doch noch Präsident werden konnte. Er wurde ein gerade in Deutschland sehr angesehener Staatsmann und Partner von Helmut Kohl.

In diesem Blog-Beitrag geht es um eine Episode, die mir erstmals ein konservativer französischer Studienfreund Anfang der 90er Jahre erzählt hat, und die ein naiver deutscher Sozialdemokrat (damals) kaum glauben konnte:

Das Attentat von der Avenue de l’Observatoire

In der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 1959 wurde gegen Mitternacht an dieser Straße das Auto Mitterrands, eines Senators und ehemaligen Ministers, von sieben Kugeln durchlöchert, nachdem Mitterrand unverletzt in die Büsche entkommen war. Der Politiker konnte detaillierte Angaben über das Attentat machen.
Die sofort in die Welt gesetzte und verfolgte Spur war, dass Anhänger der Zugehörigkeit Algeriens zu Frankreich (Algérie française), die damalige extreme Rechte in Frankreich, das Attentat geplant und durchgeführt hätten. Mitterrand, der gerade politisch unter Druck gewesen war, gewinnt kurzfristig wieder an Popularität in der Öffentlichkeit und wird zum Anführer im Kampf gegen Rechts, nachdem er zuvor lange Zeit auch als Minister für brutale Politik gegen die algerischen Unabhängigkeitsbestrebungen verantwortlich war.
Am 27.11.1959 wird die Immunität Mitterrands aufgehoben, am 8. Dezember 1959 Anklage erhoben gegen die Täter des Attentats und Mitterand, der die Täter zuvor getroffen und den Attentatsversuch angestiftet haben soll. Die Affäre schadet ihm politisch für einige Zeit erheblich. Der innere Kampf um Algerien wurde erst später richtig blutig, nachdem den OAS-Sympathisanten dieses eine Attentat mindestens zum Teil untergeschoben worden war und Mitterrand als Sprungbrett dienen sollte.
1966 werden die Ermittlungen im Rahmen einer Amnestie durch den Präsidenten Georges Pompidou eingestellt. Es bleibt für die Öffentlichkeit trotz zahlreicher Bücher und Berichte immer im Nebel, ob das Attentat auf Betreiben Mitterrands inszeniert wurde (einfacher False Flag) oder ob er selbst wiederum dazu überredet und auf diese Weise letztlich hereingelegt wurde. Unbestritten ist aber, dass er selbst wusste, dass ein Attentat gegen ihn durchgeführt werden sollte, bei dem für ihn selbst keine Gefahr bestand, aber ein Werbeeffekt zu erwarten war. Es ist auch unbestritten, dass er die Öffentlichkeit und die Ermittlungsbehörden über sein Vorwissen belogen hat.
Die Welt ist klein: in der Liste der möglichen Hintermänner des Attentats tauchte zeitweilig auch noch Jean-Marie Le Pen auf.

gken in der deutschen Wikipedia

Es ist weder Gedankenlosigkeit noch Angeberei, dass ich im Text oben auf die französische Wikipedia verlinke, um zu zeigen, dass ich mir die Geschichte nicht aus den Fingern gesogen habe. Wie schon gesagt: so habe ich sie schon vor 25 Jahren gehört.
Das Problem besteht darin, dass der Eintrag zu Mitterrand in der deutschen Wikipedia nur eine äußerst knappe Aussage zum Attentat enthält:
„1959 wurde auf Mitterrand auf der Avenue de l’Observatoire in Paris ein Anschlag verübt, dem er durch einen Sprung hinter eine Hecke entkommen konnte. Dieser Anschlag verschaffte ihm hohe mediale Aufmerksamkeit.“
Das ist nicht ganz falsch, aber in der Kürze  doch grob irreführend, meinen Sie nicht?
Diese Glättung der Biografie Mitterrands in Richtung eines makelloseren Kampfes gegen die deutsche Besatzung, gegen die Beherrschung Algeriens und überhaupt in Richtung  einer ständigen Läuterung vom Bösen zum Guten in der Welt ist im deutschen Wikipedia-Eintrag auffällig. Der deutsche Leser erfährt wenig von dem konstanten Zwielicht um Mitterrands politische Aktivitäten. Der Vergleich mit der französischen Wikipedia ist äußerst aufschlussreich.
Wer auf Deutsch mehr Details über das Zwielicht der Observatoire-Affäre erfahren will, wird in einem alten Spiegel-Artikel fündig. Der Spiegel war in dem Fall gar nicht so schlecht.

Nachsatz: Noch Zeitgenossen des späten Präsidenten Mitterrand kurz vor seinem Tod berichten, Mitterand sei auch in den unmöglichsten Momenten hauptsächlich mit der Frage beschäftigt gewesen, wie er anderen eine Falle stellen könnte.

Querverweise:

  • Der Fall Mitterrand zeigt sehr schön, wie ein Politiker, der in Frankreich vielen als ‚escroc‘ (Gauner) galt, in Deutschland als moralische Autorität zitiert werden konnte. (Mein Kumpel war der Überzeugung, dass alle Politiker Gauner sind und dass  es nur darum geht, den am wenigsten gefährlichen Gauner zu erkennen und zu wählen,  eine in Deutschland unterentwickelte Erkenntnis)
  • Solche Phänomene sind deshalb möglich, weil es keine europäische Öffentlichkeit gibt, die ein einigermaßen gemeinsames Bild von Personen und Tatsachen hat. Dass  Tatsachen aus der Wikipedia in der einen Sprache aus der Wikipedia der anderen Sprache herausgehalten werden, ist ein Mosaikstein dieses Bildes.
  • Wolfgang Streeck behauptet, dass Unterstützung für die Gesichtwahrung ausländischer Staatsoberhäupter die höchste EU-Pflicht sei, also gemeinschaftliche Sicherung von Glaubwürdigkeit für den Machterhalt im jeweils eigenen Land. Kohl und Mitterrand haben sich in dieser Hinsicht nie ein Auge ausgehackt, was der Kern ihrer „Freundschaft“ gewesen sein dürfte. Man kann sich umgekehrt vorstellen, wie Leaks kompromittierender Art ein Mittel der Kriegführung sind und als solche beantwortet werden, auch wenn sie der Wahrheit entsprechen.
  • Emmanuel Todd analysiert, wie die Öffentlichkeiten verschiedener Länder jeweils ökonomische Vorurteile und Halbwahrheiten als Einheitsdenken konservieren, obwohl diese inkonsistent und sogar untereinander inkompatibel sind, und wie daraus ökonomische Fehlentwicklungen/Ungleichgewichte im globalen Maßstab entstehen konnten. Auch für einen künftigen Beitrag zu diesem Thema kann der Fall Mitterrand und seine Wikipedia-Inkonsistenz als Schlaglicht dienen.