Der französische Sozialpsychologe Charles Rojzman hat einen Bericht über seine Erfahrungen mit den Chemnitzern und den Dresdnern veröffentlicht im Meinungsmagazin Causeur (Tendenz: islamkritisch, auch durch zahlreiche jüdische Autoren, Meinungen sehr unterschiedlicher Schärfe, vom kürzlich verstorbenen Luc Rosenzweig hatte ich bereits früher einen Beitrag auf meinem Blog).
Rojzman hat einen kurzen englischen und einen längeren französischen Wikipedia-Eintrag. Er ist Autor bei der franz. HuffPost und hat dort unter anderem Ende letzten Jahres einen Artikel veröffentlicht, in dem er dem Anti-Rassismus einen teilweise totalitären und faschistischen Geist bescheinigt (Er reitet also auch ein wenig den Zeitgeist).
Auf Deutsch findet man zu ihm leicht die Inhaltsbeschreibung eines seiner Bücher und eine Website über eine Initiative in Dresden, bei der er mitgearbeitet hat und aus genau der er im Causeur auch berichtet.
Hier nun sein Bericht:
Und wenn die Tolerantesten nicht die wären, von denen man es glaubt?
Weithin für Neonazi-Aktivisten gehalten wegen ihrer frontalen Opposition gegen die Einwanderungspolitik von Angela Merkel, sind die Einwohner von Chemnitz oder Dresden in Deutschland in Wahrheit sehr offen für einen Dialog. Aber um es zu merken, muss man sie erst einmal kennenlernen…
Jenseits des Rheins ist die Sache für die meisten Medien, praktisch die ganze Regierung — mit der bemerkenswerten Ausnahme eines Ministers — und die linken Parteien klar: die Anti-Ausländer-Demonstranten von Chemnitz sind Nazis. Nichts ist falscher. Ich kenne Chemnitz, weil ich dort im letzten Jahr die Polizei geschult habe, ebenso wie das 75 Kilometer entfernte Dresden, wo ich zahlreiche Dialoggruppen moderiert habe zwischen Gegnern und Anhängern der Willkommenskultur, die Angela Merkel gewollt hat.
Ich habe dort die Methode der Sozialtherapie angewendet, die ich vor mehr als 20 Jahren begründet und in vielen Kontexten überall in der Welt praktiziert habe. Eine Dialog-Methode, die nicht darin besteht, die Konflikte zwischen Personen mit verschiedenen Normen und Werten zu befrieden, sondern ihnen das Ausbrechen zu erlauben, um die Probleme von Gemeinschaften zu lösen. Das Endergebnis dieser Arbeit ist die allseitige Anerkenntnis der Wirklichkeit in ihrer Komplexität.
Die Einwanderungsgegner sind für Dialog
Nun hat aber in Dresden die Flüchtlingskrise die öffentliche Meinung sehr in Aufregung versetzt, bis zu dem Punkt, wo sie zahlreiche Demonstrationen provoziert hat, von denen die der Pegida immer Montags stattfinden. Ich bin da hingegangen auf Wunsch des Bürgermeisters und des Vereins „Dresden für alle„, um den Einwohnern der Stadt , die entgegengesetzte Ansichten hatten, zu helfen, ihre Erfahrungen auszutauschen und die Konflikte zu überwinden, die sie gegeneinander in Stellung brachten.
Als erste Abweichung von den vorgefassten Meinungen wünschten die Gegner der Regierungspolitik, auch die Mitglieder von Pegida, diesen Dialog, den die antifaschistisch genannten Bewegungen verweigerten. Letztere schickten sogar Denunziationsbriefe an das Bürgermeisteramt und an die Universität, weil ich Mitglieder von Pegida zu diesen Begegnungen eingeladen hatte! In Dresden wie in Chemnitz sind die Aktivisten von Pegida keine Nazis, sondern deutsche Bürger, die lauthals äußern, dass die Gesetze nicht respektiert werden und dass die Presse lügt beim Thema Übergriffe, die von Migranten begangen werden. Kleine Gruppen von Neonazis haben sich gewiss den Demonstrationen angeschlossen, aber sie sind sehr in der Minderheit und oft im Abseits gewesen. Im übrigen weiß niemand mit Sicherheit, ob es wirklich diese Gruppen sind, die das jüdische Restaurant in Chemnitz angegriffen haben.
Von Seiten Pegida kehren die Themen endlos wieder: „Es gibt weder Geld noch Wohnungen für die Armen von hier, während sich für die Migranten immer etwas findet“; „Die Presse belügt uns über die Wirklichkeit der Delikte, die von diesen Migranten begangen werden, so wie sie es bei den Ereignissen von Köln in Neujahrsnacht 2015/16 versucht hat“; „Man kann nicht von der Realität sprechen, die man sieht und sogar erlebt, ohne beschuldigt zu werden, Nazi und Ausländerfeind zu sein“.
Ein neuer Klassenkampf
Man kommt nicht umhin festzustellen, dass die Gegenrede, die ihnen entgegengesetzt wird, ungenügend ist. Man verweist auf den Humanismus und die Toleranz und erklärt, dass die Migrationsströme nicht so bedeutend sind und man klagt Pegida an, die Ausländerfeindlichkeit der Ostdeutschen am Leben zu halten und so eine gute Integration dieser Unglücklichen zu verhindern, die vor Krieg oder Elend fliehen.
Tatsächlich erleben wir in ganz Deutschland eine neue Form des Klassenkampfes. Auf der einen Seite Menschen, die zu geschützten Milieus gehören und von der Exotik des Multikulturalismus verführt werden und nichts zu verlieren haben. Auf der anderen Massen von Arbeitern im sozialen Abstieg, die sich Sorgen machen wegen einer Zukunft, die ihnen entgleitet, ohne Perspektive einer Verbesserung ihres Loses, und die alles zu verlieren haben in dieser Globalisierung, die ihnen ihre Arbeit wegnimmt und auch ihre kollektive Identität, die mehr oder weniger ihren Stolz ausmachte. Dieser Gegensatz überschneidet teilweise die Ost/West-Spaltung des Landes.
Im Westen haben mehrere deutsche Generationen im Nachhinein das Trauma der Vernichtung der Juden Europas durchlebt und wollen keine Unterschiede zwischen den Menschen mehr kennen. Die Deutschen, die zu den gebildeten Klassen gehören, folgen einem Traum von universeller Liebe, einen Traum von einer Welt, die keinen Rassismus und keinen Krieg mehr kennen würde. Sie pressen auf die Wirklichkeit von heute diese Utopie einer versöhnten Menschheit, einer vereinten und einigen. Diese Weigerung, die Unterschiede und die Hierarchien zwischen den Menschen und ihren Kulturen zu sehen, ist eine perfekt verständliche Reaktion auf eine schmerzliche Vergangenheit, läuft aber auf eine Leugnung der Realität hinaus. Die deutsche Jugend, gebildet und pazifistisch, legt eine Gleichwertigkeit fest zwischen illegalen und legalen Einwohnern eines Landes, zwischen den Geschlechtern, zwischen den sexuellen Neigungen, zwischen den Generationen, zwischen den Kulturen.
Diejenigen, die sich dieser Vermischung der Unterschiede widersetzen, die wollen, dass die Grenzen und die Nationen weiterbestehen, diejenigen, die offen erklären, dass die Kulturen nicht gleichwertig sind, dass der Schleier, die Polygamie und die Genitalverstümmelungen keinen Bürgerrechtsstatus haben, werden als Faschisten, Rassisten, Erben des Nationalsozialismus denunziert. Während Westdeutschland seit 1945 entnazifiziert wurde, hat sich die die ehemalige DDR als Opfer angesehen und erkennt sich nicht oder wenig in dieser kollektiven Schuld und Reue. Das erklärt, warum die Proteste im Osten zahlreicher sind als im Westen.
Frankreich, ein weiteres Deutschland
In Wahrheit sind die Kernprobleme identisch und die Wut tost im Untergrund im Westen ebenso gegen den Mangel an Integration der Türken und Araber der zweiten und dritten Generation.
In den Workshops, die ich in Dresden moderiert habe, hat sich nach vielen Zögerlichkeiten und Ausweichmanövern von Seiten der Mitglieder antirassistischer Organisationen die Wirklichkeit der extremen Schwierigkeit der Migrantenaufnahme als eine Feststellung etabliert, die von allen geteilt wird. Während die erste Bewegung gewesen war, absolut jeden Dialog mit den Aktivisten von Pegida zu verweigern, hat sich nach und nach mit der Reihe der Treffen die Möglichkeit, um nicht zu sagen: die Notwendigkeit, ergeben, zusammen und ohne Tabus nachzudenken über dieses immense Problem, vor dem von jetzt an Europa und Deutschland im Besonderen stehen.
Alles, was ich in Chemnitz und Dresden gesehen habe, lässt sich auf das Frankreich von heute übertragen. Der Konfliktdialog ist unverzichtbar. Die systematische Abwesenheit von Konflikt, das Fehlen von Begegnung zwischen den Bürgern von entgegengesetzter Herkunft und Ideologie, die Omnipräsenz einer unerbittlichen Zensur und Selbstzensur: alles das stellt einen fruchtbaren Nährboden dar für die Propaganda, die Männer und Frauen, Gruppen, Gemeinschaften noch mehr auseinanderbringt.
Wie die „ekelhafte“ Frauke Petry sagt, die Vorsitzende der Partei AfD war, der man vorwirft, auf den unbegründeten Ängsten zu surfen und den Hass gegen die Ausländer zu schüren: „Der Hass ist das Ergebnis eines Dialogverbots in unserer Gesellschaft“
Kommentare:
- Über Chemnitzer weiß er offensichtlich nichts Spezifisches, schreibt deshalb über Dresdner, auch nicht schlecht. Die Polizei-Schulungen in Chemnitz sind eine andere Baustelle, über die er nur einmal am Anfang berichtet, um die Lücke zu schließen und eine Brücke nach Chemnitz zu bauen, das im Titel stehen soll (Aktualität)
- Der Verein Dresden für alle berichtet (knapp) über die Arbeit von Charles Rojzman:
„Eines dieser vom Netzwerkrat von „Dresden für Alle“ unterstützten Projekte war die Anwendung der von Charles Rojzman entwickelten „Thérapie sociale“ in einigen Dresdner Stadtteilen. Das Projekt lief von Dezember 2015 bis Februar 2016 und ist somit beendet. Auch wenn die projektinterne Auswertung bisher noch nicht vorliegt, hat der Netzwerkrat von „Dresden für Alle“ die Entscheidung getroffen, das Pilotprojekt nicht weiter zu unterstützen oder zu tragen, da sich dessen Umsetzung in einigen Stadtteilen als sehr problematisch erwiesen hat.“
Die Erkenntnisse beruhen also auf 3 Monaten Arbeit zum Jahreswechsel 2015/16, sind also nicht sehr frisch, aber projektintern „noch“ nicht ausgewertet. Hm. Dafür haben wir nun diesen Bericht aus dem Causeur und verstehen bereits, warum das für „Dresden für alle“ ziemlich „problematisch“ war, was der Mann da so gemacht und an Ergebnissen produziert hat. Logisch - Teilweise finde ich die Beschreibungen fast rührend klischeehaft, so oft habe ich sie gehört, beispielsweise die Erzählung von den „Arbeitermassen“, deren Arbeitsplätze von der Globalisierung weggerissen werden und die deshalb bei Pegida sind
- Viele Elemente dieser Beschreibung sind hierzulande heftig umstritten und kann kaum noch jemand vorbringen, der nicht selbst in die rechte Ecke kommen will (vgl. Prof. Patzelt)
- Als er am Schluss noch die „ekelhafte“ Frauke Petry wie eine weise Bekannte zitiert, hätte ich mich fast vor Lachen auf den Boden gelegt, denn im Ausland klingt das wohl tatsächlich sehr unvoreingenommen und dialogbereit.
- Mehr habe ich dazu eigentlich nicht anzumerken, außer dass mir Kommentare von Lesern, die den Herrn Charles Rojzman in Dresden selbst erlebt haben, natürlich sehr willkommen sind:
- Stimmt sein Bericht?
- Wie war er in den Gesprächskreisen?
- Wie waren die Erlebnisse und Ergebnisse?
Nachtrag 23.9.2018
Ich habe inzwischen den Bericht über das Projekt mit Charles Rojzman bei Dresden für Alle gefunden, nachdem ich einen freundlichen Hinweis von ‚Dresden für Alle‘ per eMail erhalten hatte. Die Webseite ist einfach nicht aktuell, aber auch in den Kommentaren darunter steht warum die Ergebnisse problematisch waren:
„Neonazis kamen nicht nur zu Wort bei diesem Projekt, sondern waren zeitweise sogar in die Vorbereitung eingebunden. Dies konnten und wollten wir nicht länger tragen„.
Im Bericht steht unter 3.9:
„Rasch gerieten einzelne Aktivitäten – insbesondere die Teilnehmerstruktur der Stadtteilgespräche in Strehlen – in eine kontroverse Diskussion (siehe Abschnitt 6.2.1), die vor allem über soziale Medien eine gewisseAusstrahlung erreichte“
Und dann wieder unter 6.2.1 Konflikte um die Teilnehmerstruktur der Gruppenarbeit:
„Die zentrale Konfliktebene stellte die Frage dar, ob Personen mit ausgewiesen anti-demokratischen und die Menschenwürde verletzenden Haltungen in die moderierte Gruppenarbeit nach der»Therapie Sociale« einbezogen werden sollen oder nicht. Die kontroverse Diskussion konzentrierte sich dabei auf Protagonisten aus Stadtteilinitiativen gegen Asylunterkünfte, aus rassistischen und rechtsextremen Gruppen.Im Rahmen des Pilotprojekts haben einzelne Akteure dieser Art an einer der Veranstaltungen im Stadtteil Strehlen teilgenommen. Dies kritisierten wiederum einzelne Vertreter*innen einer Strehlener Initiative, die geflüchtete Menschen unterstützt. Die Kritik wurde rasch über persönliche Kontakte und soziale Medien in die stadtweiten Pro-Asyl-Netzwerke getragen – darunter auch in den Netzwerkrat von »Dresden für Alle«. Auf diesem Weg löste sich die kritische Diskussion jedoch vom konkreten Anlass, wurde auf weitere Ereignisse, Erfahrungen und Akteure außerhalb des Pilotprojektes bezogen und geriet zur prinzipiellen Auseinandersetzung über die Grenzen eines demokratischen Dialogs in der Stadtgesellschaft. Eine Verständigung darüber ist für die Weiterentwicklung der Ansätze und Aktivitäten zur demokratischen Meinungsbildung und Teilhabe essentiell – zumal die Fragegestellung durchaus nicht trivial ist, sobald sie informiert und reflektiert auf das Erreichen von Demokratie- und Bildungszielen bezogen wird (siehe Kapitel 4.1). Während des Pilotprojekts gelang es jedoch noch nicht, diesen Diskurs produktiv aufzugreifen. Ursache dafür waren prinzipielle Mängel in der Diskussions- und Konfliktkultur zwischen einzelnen Vertreter*innen der beteiligten Initiativen. Das Pilotprojekt hat jedoch zumindest für diesen Konflikt sensibilisiert sowie objektivierte Beobachtungen und Argumente geliefert, die für die Weiterführung des Diskurses nutzbar sind.
Im Ergebnis der konfrontativen Diskussionen beschloss der Netzwerkrat von »Dresden für Alle« am 20. März 2016, das (ohnehin bereits abgeschlossene) »Pilotprojekt nicht weiter zu unterstützen oder zu tragen, da sich dessen Umsetzung in einigen Stadtteilen als sehr problematisch erwiesen hat«.
…
Im Kern richten sich die Befürchtungen der Kritiker einer Einbeziehung von exponierten Gegner*innen einer demokratischen und inklusiven Stadtgesellschaft in die Gruppenarbeit auf folgenden Aspekt: Es wird befürchtet, dass diese Personen durch geschulte Argumentationen und Kommunikationsweisen die Gruppendiskussion dominieren und auf diese Weise nicht nur die Arbeit der Gruppe torpedieren sondern neue Anhänger für Ihre Überzeugungen gewinnen könnten (»Wortergreifungsstrategie«). Dabei wird unterstellt, dass die Moderator*innen nicht in der Lage seien, einer solchen »Übernahme« wirkungsvoll zu begegnen.Tatsächlich geht die »Therapie Sociale« davon aus, dass die Gruppenarbeit für Teilnehmer*innen mit konträren, auch von einer Mehrheit abgelehnten gesellschaftlichen Positionen offen ist – sofern sie (zumindest minimal) zur (Selbst-)Veränderung bereit sind. Die von den Moderator*innen geforderte substanzielle Subjektorientierung schließt ein, dass auch solche Akteure ernst genommen und gleich….“
Das stimmt durchaus mit dem überein, was Rojzman berichtet:
„hat sich nach vielen Zögerlichkeiten und Ausweichmanövern von Seiten der Mitglieder antirassistischer Organisationen die Wirklichkeit der extremen Schwierigkeit der Migrantenaufnahme als eine Feststellung etabliert, die von allen geteilt wird“
Die Unterschiede liegen in der Bewertung und einer geradezu lächerlichen Verpackung des Kerns in einem uferlosen sozialpädagogischen Blabla im Projektbericht.
Mir geht es an dieser Stelle gar nicht darum, Partei zu ergreifen für eine der beiden Sichtweisen. Es reicht mir völlig aus deutlich zu machen, dass es sich tatsächlich nur um unterschiedliche Wertungen handelt.
Nachtrag 24.9.2018
Hier eine Einführung in die Sozialtherapie von Charles Rojzman in Form einer Seminarankündigung aus einer Zeit, als sie noch nicht zu so strittigen Resultaten geführt hat.
Hier noch ein interessanter Auszug aus einem Bericht, über die Arbeit von Rojzman in Dresden:
„Wenn sie das Gefühl haben, missachtet zu werden, äußern sie das zunächst in Wut oder Resignation, später auch in Gewalt. Rojzman ist überzeugt: Es ist nicht sinnvoll, das zu verurteilen…
Beide Extreme hält Rojzman für gefährlich: Sowohl Verteufelung, als auch Idealisierung des Fremden, sowohl Schuldzuweisungen gegen ‚die Ausländer‘ als auch solche gegen ‚die Rechten‘ seien nicht hilfreich, sondern Übertreibungen, die konstruktive Herangehensweisen erschweren würden…„