Entstehung des deutschen Europa

Im letzten Beitrag habe ich Emmanuel Todds Skizze des „Deutschen Europa“ vorgestellt. In diesem zweiten Beitrag geht es jetzt um die Teile I+II des Interviews von 2014 mit Olivier Berruyer:

Entstehung und Antrieb des ‚Deutschen Europa‘

Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise und Russland kommt Todd auf Deutschland zu sprechen:

Emmanuel Todd: …Man registriert widersprüchliche Signale von Deutschland. Manchmal findet man es eher pazifistisch, auf einem Pfad von Rückzug und Kooperation. Manchmal erscheint es im Gegenteil sehr an der Spitze im Disput und in der Auseinandersetzung mit Russland. Diese harte Linie nimmt jeden Tag an Stärke zu. Steinmeier hat sich von Fabius und Sikorski nach Kiew begleiten lassen. Merkel besucht nun das neue ukrainische Protektorat allein (Anm. des Übersetzers: im Jahr 2014).
Aber nicht nur in dieser Auseinandersetzung ist Deutschland an der Spitze. Sechs Monate lang und auch in den letzten Wochen, als sie in den ukrainischen Ebenen schon virtuell im Konflikt mit Russland war, hat Merkel die Engländer gedemütigt, indem sie ihnen mit einer unglaublichen Grobheit Juncker als Kommissionspräsident aufgezwungen hat. Eine noch außerordentlichere Sache war es, dass die Deutschen begonnen haben, die Auseinandersetzung mit den Amerikanern zu suchen, indem sie sich einer Spionageaffäre der Amerikaner bedient haben. Das ist absolut unglaublich, wenn man die Verflechtung der amerikanischen und deutschen Spionageaktivitäten seit dem Kalten Krieg kennt. Es sieht im Übrigen heute so aus, als ob der deutsche Geheimdienst ganz normal auch die amerikanischen Politiker ausspioniert. Mit dem Risiko zu schockieren würde ich sagen, dass ich angesichts der Ambiguitäten der deutschen Politik im Osten ganz dafür bin, dass die CIA die deutschen politisch Verantwortlichen überwacht. Ich hoffe übrigens, dass die französischen Geheimdienste ihre Arbeit machen und an der Überwachung eines Deutschland teilnehmen, dass auf dem internationalen Feld immer aktiver und abenteuerlustiger wird. Es bleibt dabei, dass diese antiamerikanische Aggressivität ein neues Phänomen ist, das man sich bewusst machen muss. Ihr Stil ist faszinierend. Die Art und Weise, in der die deutschen Politiker über die Amerikaner gesprochen haben, bezeugt eine tiefe Verachtung. Es gibt einen bedeutenden antiamerikanischen Untergrund auf der anderen Seite des Rheins. Ich hatte Gelegenheit gehabt, ihn zu messen, anlässlich der Veröffentlichung meines Buches „Weltmacht USA: Ein Nachruf“ auf Deutsch. Nach meiner Meinung erklärt er (der Antiamerikanismus, Anmerkung des Übersetzers) weitgehend den außerordentlichen Bucherfolg dieser Übersetzung. Wir sehen schon einen Moment, in dem die deutsche Regierung sich lustig macht über amerikanische Ermahnungen in der Wirtschaftspolitik: einen Beitrag leisten zur globalen Nachfrage? Und was sonst noch? Deutschland hat sein Projekt, eher von Macht als von eigenem Wohlergehen: die Nachfrage in Deutschland drücken, die verschuldeten Staaten des Südens versklaven, die Osteuropäer dazu bringen, dass sie sich an die Arbeit machen, den französischen Banken, die den Elysée-Palast (also den französischen Präsidenten, Anmerkung des Übersetzers) kontrollieren, einige Peanuts spendieren, etc.

In einer ersten Zeit, im Moment der Eroberung der Krim, war ich eher sensibel gewesen für die Wiederherstellung Russlands: eine Macht, die sich nicht mehr auf die Füße steigen lassen will und die in der Lage ist, Entscheidungen zu fällen. Aktuell stelle ich fest, dass Russland fundamental eine Nation in der Stabilisierung ist, und nur in der Stabilisierung, selbst wenn die Leute aus ihr einen bösen großen Wolf machen. Die wahre sich zeigende Macht, noch vor Russland, ist Deutschland. Es hat einen außergewöhnlichen Weg hinter sich, von seinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zur Zeit der Wiedervereinigung zu seiner wirtschaftlichen Wiederherstellung, dann zur Übernahme der Kontrolle über den Kontinent in den letzten fünf Jahren. Alles das ist es wert, dass man es neu interpretiert. Die Finanzkrise hat nicht einfach nur die Solidität Deutschlands gezeigt. Es hat auch seine Fähigkeit gezeigt, die Schuldenkrise zu nutzen, um die Gesamtheit des Kontinents zum Gehorsam zu zwingen. Wenn man sich von der archaischen Rhetorik des Kalten Krieges befreit, wenn man aufhört, die ideologische Rassel der liberalen Demokratie und ihrer Werte zu schütteln, und wenn man es lässt, dem pro-europäischen Blabla zuzuhören, um die historische Sequenz zu beobachten, die in roher und beinahe kindlicher Weise im Gang ist, kurz, wenn man bereit ist zu sehen, dass der König nackt ist, stellt man fest:

1.) In den letzten fünf Jahren hat Deutschland auf dem wirtschaftlichen und politischen Feld die Kontrolle über Europa übernommen.
2.) Europa ist am Ende dieser fünf Jahre virtuell bereits im Krieg mit Russland

Frankreich und die USA leugnen die deutsche Realität

Dieses Phänomen wird durch eine doppelte Leugnung vernebelt. Zwei Länder handeln wie Riegel, damit man die Realität dessen, was geschieht, nicht versteht.
Zunächst Frankreich, das noch immer nicht zugeben will, dass es sich in den Zustand einer freiwilligen Knechtschaft gegenüber Deutschland begeben hat. Es kann nicht anders handeln, solange es nicht unumwunden diesen Machtanstieg Deutschlands zugibt und die Tatsache, dass es nicht auf dem Niveau ist, um es (Deutschland) zu kontrollieren. Wenn es eine geopolitische Lektion des Zweiten Weltkriegs gibt, dann ist das sehr wohl die, dass Frankreich Deutschland nicht kontrollieren kann, dessen immense Qualitäten in der Organisation und wirtschaftlichen Disziplin wir anerkennen müssen – ebenso wie das nicht minder immense Potenzial zur politischen Irrationalität. Die französische Verweigerung der deutschen Realität ist eine Offensichtlichkeit. Schon eine ganze Weile spreche ich von François Hollande als dem „Vize-Kanzler Hollande“. Beziehungsweise sogar jetzt eher von einem einfachen „Kommunikationsdirektor des Kanzleramts“. Er ist nichts, er hat außergewöhnliche Niveaus der Unpopularität erreicht, die zu einem Teil von seiner Servilität gegenüber Deutschland kommen. François Hollande wird auch von den Franzosen verachtet, weil er ein Mann ist, der Deutschland gehorcht. Umfassender betrachtet nehmen die französischen Eliten, journalistische ebenso wie politische, an diesem Prozess der Leugnung teil.

Die Akteure sind inkompetent und sich sehr wenig bewusst, was sie tun

Olivier Berruyer: Sie sagen, dass „Frankreich letztendlich Deutschland nicht kontrollieren kann“: kann man nichts tun oder muss es jemand anders tun?

Emmanuel Todd: Jemand anders muss es tun. Das letzte Mal ist diese Aufgabe Amerikanern und Russen zugefallen. Man muss zugeben, dass das „System Deutschland“ eine außergewöhnliche Kraft entfalten kann. Als Historiker und Anthropologe könnte ich Dasselbe über Japan, über Schweden oder die jüdische, baskische oder katalanische Kultur sagen. Das ist eine Tatsache: gewisse Kulturen sind so. Frankreich hat andere Qualitäten. Es hat die Ideen von der Gleichheit und der Freiheit hervorgebracht, eine Lebensart, die den Planeten fasziniert, und es macht von nun an mehr Kinder als seine Nachbarn und bleibt dabei ein fortschrittliches Land auf dem intellektuellen und technologischen Feld. Es ist wahrscheinlich, dass man am Ende, wenn man wirklich urteilen müsste, zugeben müsste, dass Frankreich eine ausgeglichenere und befriedigendere Vision von der Welt hat. Aber es geht hier nicht um Metaphysik oder Moral: wir sprechen von internationalen Kräfteverhältnissen. Wenn ein Land sich auf die Industrie oder den Krieg spezialisiert, muss man das berücksichtigen und zusehen, wie diese wirtschaftliche, technologische und Macht-Spezialisierung kontrollierbar wird.

Olivier Berruyer: Welches ist das zweite Land in der Verleugnung?

Emmanuel Todd: Die USA. Die amerikanische Verleugnung war im ersten Stadium der Emanzipation Deutschlands zur Zeit des Irakkriegs im Jahr 2003 und des Bündnisses Schröder-Chirac-Putin formalisiert worden. Gewisse amerikanische Strategen hatten damals gesagt: „Man muss Frankreich bestrafen, Deutschland (also, was es gemacht hat) vergessen und Russland verzeihen“ (“Punish France, forget Germany, forgive Russia“). Warum? Weil der Schlüssel zur Kontrolle Europas durch die USA, das Erbe des Sieges von 1945, die Kontrolle Deutschlands ist. Die Emanzipation Deutschlands von 2003 schriftlich niederzulegen, hätte bedeutet, den Beginn der Auflösung des amerikanischen Imperiums schriftlich niederzulegen. Diese Vogel-Strauß-Strategie hat sich begründet, verfestigt und scheint heute den Amerikanern eine korrekte Sicht auf die deutsche Entpuppung zu verbieten, eine neue Bedrohung für sie, nach meiner Meinung auf Dauer sehr viel gefährlicher für die Integrität des Imperiums als Russland, das außerhalb des Imperiums liegt. Deutschland spielt eine komplizierte, ambivalente Rolle, treibt aber die Krise an. Häufig erscheint die deutsche Nation als pazifistisch und Europa, das unter deutsche Kontrolle steht, als aggressiv. Oder umgekehrt. Deutschland hat von nun an zwei Hüte auf: Europa ist Deutschland, und Deutschland ist Europa. Es kann also mit mehreren Stimmen sprechen. Wenn man die psychische Instabilität kennt, die historisch die deutsche Außenpolitik charakterisiert, und seine Bipolarität im psychiatrischen Sinn in seiner Beziehung zu Russland, ist das ziemlich beunruhigend. Ich bin mir bewusst, dass ich hart spreche, aber Europa befindet sich (Anmerkung des Übersetzers: das Interview fand im Sommer 2014 statt) am Rande des Krieges mit Russland und wir haben nicht mehr die Zeit, höflich und glatt zu sein. Bevölkerungen russischer Sprache, Kultur und Identität werden in der Ostukraine angegriffen mit Billigung, Unterstützung und wahrscheinlich schon mit Waffen aus der EU. Ich denke, dass die Russen wissen, dass sie in der Tat im Krieg mit Deutschland sind. Ihr Schweigen über diesen Punkt ist nicht wie in den französischen und amerikanischen Fällen eine Weigerung, die Realität zu sehen. Es ist gute Diplomatie. Sie brauchen Zeit. Ihre Selbstkontrolle, ihre Professionalität, wie Putin oder Lavrov sagen würden, ringen Bewunderung ab.

Bisher war es die Strategie der Amerikaner in dieser Krise, hinter den Deutschen her zu laufen, damit man nicht sieht, dass sie die europäische Situation nicht mehr kontrollieren. Dieses Amerika, das nicht mehr kontrolliert, aber die regionalen Abenteuer der Vasallen genehmigen muss, ist ein Problem geworden, das geopolitische Problem Nr. 1. Im Irak muss Amerika schon mit dem Iran kooperieren, seinem strategischen Gegner, um sich den Jihadisten entgegenzustellen, die von Saudi-Arabien subventioniert werden. Saudi-Arabien hat wie Deutschland den Status eines wichtigen Alliierten, sein Verrat darf deshalb nicht schriftlich festgehalten werden… In Asien beginnen die Südkoreaner aus Ressentiment gegen die Japaner, mit den Chinesen krumme Geschäfte zu machen, den strategischen Rivalen der Amerikaner. Überall, und nicht nur Europa, bekommt das amerikanische System Risse, löst sich auf oder Schlimmeres.

Die deutsche Macht und Hegemonie in Europa verdienen also eine Analyse, in einer dynamischen Perspektive. Man muss explorieren, hochrechnen, voraussehen, um sich in der Welt zu orientieren, die in Entstehung begriffen ist. Man muss akzeptieren, diese Welt so zu sehen, wie sie die realistische strategische Schule sieht, diejenige von Henry Kissinger zum Beispiel, das heißt, ohne sich die Frage der politischen Werte zu stellen: diejenige von reinen Kräfteverhältnissen zwischen nationalen Systemen. Wenn man so nachdenkt, stellt man fest, dass Russland nicht das Problem der Zukunft ist, dass China noch nicht viel darstellt, was die militärische Macht angeht. In unserer globalisierten wirtschaftlichen Welt, können wir die Entstehung einer neuen Frontstellung zwischen zwei großen Systemen vorausahnen: der amerikanischen Kontinent-Nation und diesem neuen deutschen Reich, einem ökonomisch-politischen Reich, das die Leute aus Gewohnheit weiterhin Europa nennen. Es ist interessant, das Kräfteverhältnis zwischen den beiden zu bestimmen.

Wir wissen nicht, wie die Ukraine-Krise enden wird. Wir müssen aber die Anstrengung unternehmen, uns hinter diese Krise zu versetzen. Das Interessanteste ist zu versuchen, sich vorzustellen, was ein Sieg des „Westens“ hervorbringen würde. Und wir gelangen so zu etwas Erstaunlichem: wenn Russland in die Knie gehen oder nur nachgeben würde, würde das Ungleichgewicht der demografischen und industriellen Kräfte zwischen dem deutschen System, erweitert um die Ukraine, und den USA wahrscheinlich zu einem Umschlagen des Schwerpunkts des Westens und zum Zusammenbruch des amerikanischen Systems führen. Was die Amerikaner heute am meisten fürchten müssten, ist der Zusammenbruch Russlands. Aber eine der Charakteristiken der Situation ist, dass die Akteure inkompetent sind und sich dessen sehr wenig bewusst, was sie tun. Ich spreche nicht nur von Obama, der von Europa nichts versteht. Er ist in Hawai geboren, hat in Indonesien gelebt. Nur die pazifische Zone existiert für ihn.
Aber die klassischen amerikanischen Geopolitiker der „europäischen“ Tradition sind ebenfalls überholt. Ich denke besonders an Zbigniew Brzezinski, der jetzt alt ist, aber der Theoretiker der Kontrolle Eurasiens durch die USA bleibt. Besessen von Russland hat er Deutschland nicht kommen sehen. Er hat nicht gesehen, dass die amerikanische Militärmacht durch die Erweiterung der NATO auf die baltischen Staaten, auf Polen und auf die früheren Volksdemokratien für Deutschland ein Reich schneiderte, ein ökonomisches zu Anfang, aber heute schon ein politisches. Deutschland beginnt, sich mit China zu verstehen, dem anderen großen Exporteur der Welt. Erinnert man sich in Washington, dass das Deutschland der 30er Jahre lange gezögert hat zwischen der chinesischen und der japanischen Allianz und dass Hitler damit begonnen hatte, Tschiangkaischeck zu bewaffnen und seine Armee aufzubauen? Die Erweiterung der NATO nach Osten könnte letztendlich eine Version B des Alptraums von Brzezinski realisieren: eine Wiedervereinigung Eurasiens unabhängig von den USA. Seinen polnischen Ursprüngen treu fürchtete er ein Eurasien unter russischer Kontrolle. Er läuft in das Risiko, in die Geschichte einzugehen als „einer dieser absurden Polen, die aus Hass gegen Russland die Größe Deutschlands gewährleistet haben“.

Olivier Berruyer: Wie Sie mich gebeten haben, schlage ich vor, dass Sie die nachfolgenden Grafiken analysieren, die das um Deutschland zentrierte Europa mit den USA vergleichen:

Bevölkerung

BIP

IndustrielleWertschöpfung(eine 4., weniger wichtige Grafik weggelassen)

Emmanuel Todd: Was diese Grafiken zeigen, ist die potenzielle industrielle Überlegenheit Europas. Gewiss ist das deutsche Europa heterogen und intrinsisch zerbrechlich, potenziell instabil, aber der wirkende Mechanismus der Hierarchisierung der Bevölkerungen beginnt, eine kohärente und manchmal effiziente Struktur von Dominanz zu definieren. Die junge deutsche Macht hat sich dadurch gebildet, dass ehemals kommunistische Bevölkerungen kapitalistisch an die Arbeit gebracht wurden. Das ist vielleicht eine Sache, derer sich die Deutschen wahrscheinlich selbst nicht bewusst genug sind, und gerade dort könnte ihre wahre Zerbrechlichkeit sein: die Dynamik der deutschen Wirtschaft ist nicht nur deutsch. Ein Teil des Erfolgs unserer Nachbarn von der anderen Rheinseite stammt daher, dass die Kommunisten sich sehr für Bildung interessiert haben. Sie haben nicht nur überholte Industriesysteme zurückgelassen, sondern auch überdurchschnittlich gebildete Bevölkerungen.
Die Bildungssituation Polens in Europa vor dem Krieg mit der von heute zu vergleichen, die sehr viel  besser ist, bedeutet zuzugeben, dass es einen Teil seines aktuell guten wirtschaftlichen Zustands dem Kommunismus, schlimmer vielleicht, Russland verdankt. Wir werden sehen, in welchem Zustand das deutsche Management Polen hinterlassen wird. Es bleibt, dass sich Deutschland in der Tat an die Stelle Russlands gesetzt hat als Macht, die den europäischen Osten kontrolliert und daraus eine Kraft gemacht hat. Russland seinerseits war geschwächt worden durch seine Kontrolle der Volksdemokratien, indem die Militärkosten nicht durch den ökonomischen Gewinn kompensiert wurden. Dank der USA sind die Kosten der militärischen Kontrolle für Deutschland nahe bei Null.

Teil III enthielt den letzten Beitrag zum „Deutschen Europa“

Danach der Teil IV:

Das industrielle Ungleichgewicht zugunsten der EU im Vergleich mit den USA ist spektakulär

Olivier Berruyer: Die Grafiken erlauben, die relativen Stärken der amerikanischen Nation und dieses neuen deutschen Reiches zu vergleichen:

(erste Grafik ausgelassen, kann im Original eingesehen werden)
BeschäftigungIndustrie

BeschäftigungIndustrie2

Emmanuel Todd: die interessanteste Grafik ist nach meinem Verständnis diejenige, die die in der Industrie tätigen Bevölkerungen darstellt. Das industrielle Ungleichgewicht zugunsten der EU im Vergleich mit den USA ist spektakulär. Die Tatsache, dass es in Europa noch unterentwickelte industrielle Sektoren gibt, ist nicht negativ, im Gegenteil: im industriellen Bereich in Europa gibt es Erweiterungskapazitäten in Zonen mit niedrigen Gehältern. Es ist wahrscheinlich dieses Ungleichgewicht, das das Töten des amerikanischen Industriesystems durch Deutschland erlauben würde. Im aktuellen Stadium ist es Deutschland, das TTIP am meisten will.

Olivier Berruyer: Man stellt klar einen europäischen Absturz beim realen BIP bezogen auf Deutschland fest:

(Grafiken mit absolutem BIP pro Kopf habe ich weggelassen)

BIPpE1

BIPpE2

BIPpE3BIPpE4

Emmanuel Todd: Man sieht auf diesen Grafiken auch die unerbittliche Hierarchisierung Europas um das deutsche Epizentrum ab 2005: das Abfallen der europäischen Länder im Vergleich mit Deutschland, eingeschlossen die großen Länder wie Frankreich oder das Vereinigte Königreich. Man kann auf allen diesen Kurven die Schnelligkeit einer Entwicklung sehen, die gerade erst begonnen hat. Vielleicht leidet ein Teil des deutschen Volkes an seinen geringen Gehältern, aber global betrachtet endet es immer damit, dass das BIP pro Kopf sich zugunsten Deutschlands absetzt. Wir bewegen uns auf ein System zu, in dem die Deutschen davon profitieren werden, dass die Industriesysteme des Rests des Kontinents in die Knie gehen.

Wir stellen ebenfalls fest, dass die USA im Vergleich mit diesem Kontinent unter deutscher Kontrolle nicht mithalten können, was die Bevölkerung betrifft.

Kommentare:

  • Dieser Beitrag hat sich im Original auch viel Kritik von Lesern zugezogen. Exemplarisch für Kritik, die ich bedenkenswert finde, sei hier der von vielen Lesern empfohlene Kommentar von ‚Kellhus‘ wiedergegeben:
    „Todd sagt interessante Dinge, besonders zur Wirtschaft (Kritik des Euro), aber täuscht sich schwer über andere (wir erinnern uns an das, was er über den ‚revolutionären Hollandismus‘ gesagt hat). Hier wiederum habe ich den Eindruck, dass er sich täuscht, indem er Deutschland ins Visier nimmt und indirekt die Rolle der USA kleinredet. Welches ist der Staat, der am meisten verantwortlich ist für das aktuelle finanzialisierte Wirtschaftssystem, das von Krise zu Krise eilt und uns in die Katastrophe führt? Derjenige des rheinischen Industrie- und Familienkapitalismus oder derjenige der Wall Street? Welches ist der Staat, dessen Handeln in der Ukraine das schädlichste war? Derjenige von Merkel, die, selbst wenn sie nicht enorm viel zur Beruhigung der Dinge beigetragen hat, sich mehr folgend als führend gezeigt hat und in einem relativen Pragmatismus bleibt? Oder doch jener von Nuland und anderen neokonservativen Extremisten, bekennende Anhänger des amerikanischen Exzeptionalismus und des Schlimmsten fähig, um ihre Hegemonie zu konsolidieren?
    Gewiss befindet sich Deutschland heute auf dem wirtschaftlichen Feld in einer Position der Stärke in Europa und es nutzt sie, um Gewicht für sein Eigeninteresse auszuüben in den europäischen Orientierungen. Aber das Europa des Euro ist ein immer zerbrechlicherer Verbund, und Deutschland kann in seinen Forderungen nicht allzu weit gehen. Man sieht auch bereits die Grenzen seines wirtschaftlichen Erfolgs (..). Schließlich verfügt Deutschland weder über die militärische Macht, noch über die Soft Power, die aus ihm einen Rivalen der USA machen würde (ganz zu schweigen von einer imperialen Ideologie, die es mit dem US-Exzeptionalismus aufnehmen könnte). Es ist deshalb nach meiner Meinung ein Missbrauch, von einem ‚Deutschen Reich‘ zu sprechen.“
  • Trotz dieser berechtigten Kritik an Todds Übertreibung bleibt ein wahrer Kern an seiner Beobachtung, dass sich Deutschland ein wirtschaftliches und politisches Imperium gebaut hat, das nicht für alle Völker Europas positiv wirkt. Es macht deshalb Sinn, sich auch mit diesem Konstrukt zu beschäftigen, seinen Absichten und seiner Mechanik, insbesondere auch mit seiner brutalen und anti-demokratischen Mechanik, die sehr wohl registriert wird.
  • Die Grafiken über die seit 2003 oder 2007 stark abfallende Wirtschaftsleistung der meisten europäischen Volkswirtschaften im Vergleich mit Deutschland sind absolut schockierend, gerade auch dann, wenn man die großen Länder UK, Italien und Frankreich betrachtet. Das kann nicht gutgehen.
  • Es gibt aber auch Punkte, in denen ich eine ganz andere Wahrnehmung habe als Todd: Juncker war nicht Merkels Mann für Brüssel. Falls doch, hat sie es gut verborgen. In deutschen Medien habe ich das so gelesen, dass sie Juncker nach langem Zögern notgedrungen akzeptiert hat. Auch in der Spionage-Affäre war die deutsche Binnensicht so, dass Merkel abgewiegelt und die Amerikaner gedeckt habe.
  • Die Frage „Deutsches Europa“ oder „Europäisches Deutschland“ wurde auch hierzulande ab 2009/2010 intensiv diskutiert. Zahlreiche Bekenntnisse der Art „kein deutsches Europa“ helfen aber nicht gegen die Realität der Machtverhältnisse in Europa. Es gibt andere Autoren, die diese Realität klar sehen.

Fortsetzung: ein deutsch-amerikanischer Konflikt?

Nachtrag 4.4.2017:
German Foreign Policy: „Vor dem Hintergrund drastischer Warnungen vor einem möglichen Zerfall der EU bemüht sich Berlin, die Bildung von Gegenmacht in der Union zu verhindern.“ Gegenmacht! In dem Artikel wird praktisch alles bestätigt, was Emmanuel Todd über die Funktionsweise des „Deutschen Europa“ behauptet.

Nachtrag 28.7.2017:
Thomas Fazi erläutert in Makroskop, warum er das „Deutsche Europa“ für planmäßig konstruiert hält: Deutschlands „neues Imperium“

Warum sind die Amerikaner sauer?

Textauszüge entnommen aus Emmanuel Todds „L’illusion économique“ von 1998 (Deutscher Titel: „Die neoliberale Illusion“). In der Endphase des US-Wahlkampfs 2016 zusammengestellt auf der Suche nach der Antwort auf die Frage, warum so viele Amerikaner so wütend sind auf das Establishment. Stimmen die Vorwürfe, dass die US-Wirtschaft für einen großen Teil der Bevölkerung schlechtere Ergebnisse liefert, als die Statistiken behaupten? Emmanuel Todd bejahte das bereits im Jahr 1998:

Ist die US-Wirtschaft dynamisch?

Die amerikanische Wirtschaft ist für die Zukunftsforscher ein Objekt der Perplexität geworden: Ist sie oder ist sie nicht dynamisch? …

Güter produzieren … oder Arbeitsplätze?

Die Natur der Leistungen der amerikanischen Wirtschaft ist an und für sich problematisch. Wenn man den Höhenflug der Börsenwerte außer Acht lässt, der keinen Reichtum erzeugt und deshalb nicht zum Bruttoinlandsprodukt gerechnet werden kann, ist ihr großer Erfolg die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die 5% amerikanischen Arbeitslosen stellen für die heutzutage dominierende Theorie eine Art Vollbeschäftigung dar in einer mobilen, flüssigen Wirtschaft, die ohne Unterlass Arbeiter verschieben muss. …Das Problem der Arbeitslosigkeit scheint unter dem Strich mehr oder weniger gelöst zu sein in den Vereinigten Staaten, aber im Kontext einer globalen Produktivität pro Arbeiter, die im internationalen Maßstab sehr bescheiden wirkt, 1994 um 25% niedriger als in Japan und 20% niedriger als in Deutschland. Innerhalb der G5 liegen die USA nur vor dem Vereinigten Königreich, das seit den Jahren 1880-1900 von einer Krankheit der wirtschaftlichen Lustlosigkeit betroffen ist, der englischen Krankheit, von der wir uns heute ernsthaft fragen müssen, ob es sich nicht um eine angelsächsische Krankheit handelt. Amerika produziert Arbeitsplätze eher als Güter, eine Leistung, die von einem liberalen Standpunkt betrachtet nicht wirklich orthodox ist. Diese Dynamik erinnert auch ein wenig, selbst unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit, an diejenige der Sowjetunion der 1970er Jahre. Auch der Kommunismus litt in seinem reifen Alter an einer niedrigen Produktivität, während er von einer niedrigen Arbeitslosigkeit profitierte, die in der Theorie gar nicht existierte. Es ist ziemlich einfach, die niedrige Produktivität der Arbeiter in einem ideologischen System des leninistischen Typs zu rechtfertigen, vor allem im Stadium der Diktatur des Proletariats, denn wie ein jeder weiß „arbeitet ein Diktator nicht“.  Aber es ist von einem liberalen Standpunkt, klassisch oder neoklassisch,  aus unmöglich, die Idee zu akzeptieren, dass es das Ziel der wirtschaftlichen Aktivität sei, Arbeitsplätze zu produzieren.  Ein Europa, das von der Massenarbeitslosigkeit geplagt wird, kann es sich gewiss nicht leisten, über den amerikanischen Erfolg in Sachen Arbeitsplätzen zu lachen. Aber es bleibt dabei, dass für ein intellektuelles System, dessen Grundaxiom die Existenz eines berechnenden Homo oeconomicus ist, der ein Maximum an Gewinn mit minimalem Aufwand sucht, der große Erfolg des amerikanischen Produktionssystems anti-ökonomisch ist.

Die Metaphysik des Bruttoinlandsprodukts

Die Ungewissheit über die Natur des amerikanischen Wachstums herrscht umso mehr, als das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das als Basis seiner Messung und für internationale Vergleiche dient, heutzutage wieder ein umstrittenes Konzept wird. Die Berechnung des amerikanischen BIPs war übrigens in den letzten Jahren das Objekt ziemlich suspekter Revisionen, sowohl in seiner Summe als auch in der Aufteilung auf Investitionen und Konsum. Wir wollen daran erinnern, dass das BIP ein hochgradig konventionelles Maß ist, das die Summe bildet über alle erwirtschafteten Mehrwerte aller Sparten der Wirtschaft. Dieser Index triumphierte unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg im Gefolge der keynesianischen makroökonomischen Analyse, von der er das Prinzip der Aggregation der Aktivitäten auf nationaler Ebene übernimmt. Das Verwerfen des Keynesianismus hätte vielleicht dasjenige des BIP nach sich ziehen müssen; aber man muss feststellen, dass man in diesem besonderen Fall das Badewasser aufbewahrt hat, nachdem man das Kind ausgeschüttet hatte.

Um die Werte auf internationaler Basis zu addieren und zu vergleichen, müssen in Wahrheit internationale Werte für Güter und Dienstleistungen existieren. Nun aber…muss man mit Demut zugeben, dass ein Wert nur dort existiert, wo es einen Markt gibt. Die einzigen wirklichen internationalen Werte werden durch die internationalen Märkte definiert. Die Güter und Dienstleistungen, die sich nicht auf internationalen Märkten handeln lassen (non tradables) haben buchstäblich keinen internationalen Wert. Ein Haus in Boston, ein Haarschnitt in Chicago, eine Busfahrt in Milwaukee, die Bezahlung eines Anwalts von Los Angeles, der in Scheidungssachen spezialisiert ist, das Gehalt eines privaten Wächters eines Wohnkomplexes für Rentner in Florida, haben in den allermeisten Fällen keinerlei Wert für einen Deutschen, einen Japaner, einen Franzosen oder einen Schweden. Wenn wir uns abgewogen ausdrücken wollen, können wir uns damit zufriedengeben zu behaupten, dass der größte Teil dieser Dienstleistungen keinen direkten internationalen Wert hat. Im Gegensatz zu Autos, Weizen oder Videorekordern. Nun aber machten die Dienstleistungen 1993 72.1% des BIP der Vereinigten Staaten aus gegenüber nur 64.7% in Deutschland, 57.6% in Japan und 65.6% in Italien. Frankreich, durch die Politik „des starken Franc“ desindustrialisiert, liegt mit 70.5% nahe bei den Vereinigten Staaten. Wie immer liegen die anderen angelsächsischen Länder nahe beim Weltanführer: 71.3% des BIP im Tertiärsektor im Vereinigten Königreich, 72.1% in Kanada, 69.1% in Australien[1]

Das Beispiel der Gesundheitsausgaben, die sich in weiten Teilen aus Dienstleistungen zusammensetzen, selbst wenn sie einen nicht vernachlässigbaren Anteil an ausgefeilten medizinischen Materialien einschließen, zeigt das Ausmaß der Ungewissheit, wenn es um den wirklichen amerikanischen Reichtum geht. In den USA erreichen sie 14.2% des BIP gegen nur 7.7% in Schweden, 7.3% in Japan, 8.6% in Deutschland und 9.7% in Frankreich, Länder, die von ihren Führungen jedoch als furchteinflößend ausgabefreudig in diesem Bereich angesehen werden. Die Ausweitung der öffentlichen und privaten Gesundheitsausgaben ist ein wesentliches Element des amerikanischen „Wachstums“. Sie liegt im Herzen aller grundlegenden wirtschaftlichen und soziologischen Interaktionen. Sie erklärt zum Teil die Fortdauer einer ausreichenden globalen Nachfrage in einer entwickelten Welt, die virtuell in der Deflation steckt. Die gesundheitliche „Misswirtschaft“ drückt die Fähigkeit der betagten Amerikaner aus, ihr Geld auszugeben, ohne zu sparen, ohne Sorge um das Erbe der Kinder, die ihnen nachfolgen. Sie ist damit typisch für ein anthropologisches Kernfamiliensystem, das relativ gleichgültig ist gegenüber dem Schicksal der nachfolgenden Generation. Aber welche konkreten, materiellen, physischen Resultate kann man im Anschluss an diese 14.2% „Wertschöpfung“ messen, die im Gesundheitssektor erwirtschaftet werden? Eine weibliche Lebenserwartung von 79 Jahren im Jahr 1996, gleich wie im Vereinigten Königreich, aber niedriger als diejenige in Deutschland (80 Jahre), in Schweden (81 Jahre), in Frankreich (82 Jahre) oder in Japan (83 Jahre). Die Wertschöpfung verschafft offensichtlich kein längeres Leben. Wo ist unter diesen Umständen die „Produktion“? Die Lebenserwartungen der Männer würden die gleichen Unterschiede zum Vorschein bringen, aber sie sind a priori weniger aussagekräftig, weil sie den wesentlich stärkeren Effekt von Todesfällen durch Gewalt und damit spezifischer medizinischer Probleme einschließen. Die amerikanische Rate von Mord und Totschlag, von 10 Getöteten pro 100000 Einwohnern in 1993, ist mehr als 10 Mal höher als diejenige in Europa oder in Japan, die alle niedriger sind als 1 Getöteter pro 100000 Einwohner.  Es bleibt zu erwähnen, dass die Gewalt so aussehen kann, als ob sie Werte schöpft im Dienstleistungssektor, in Form von Gefängniswärtern, privaten Wachmännern oder Anwälten. Da schaut her: Europa und Japan sind erneut gekniffen beim Absatz und dem BIP im Dienstleistungssektor, weil sie einfach zu friedlich sind! Aber die Vervielfältigung der juristischen und Polizeidienstleistungen, die sich vom Verfall des amerikanischen Bildungsniveaus ableitet, hat für die europäischen und japanischen Gesellschaften keinen Wert, wo die Scheidungen zivilisierter sind und wo man in den meisten Straßen Spazierengehen kann, ohne sein Leben zu riskieren.
Um zu vermeiden, dass uns die anthropologischen Besonderheiten jeder Gesellschaft in die Welt der Illusion entführen, müssen wir uns bewusst bleiben, dass nur die Produktion industrieller Güter, die auf internationalen Märkten handelbar sind, mit Sicherheit einen Wert darstellt.

Reichtum und Stärke der Währung

Wenn wir zunächst das Problem der Währungsparitäten außenvorlassen und unseren Glauben an die  Wahrhaftigkeit der Märkte und an ihre Fähigkeit, die wahren wirtschaftlichen Werte zu bestimmen, über alles stellen, können wir, wenn wir den Reichtum der Nationen ermessen wollen, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner und, wenn wir die Effizienz der Systeme erfassen wollen, das BIP pro Beschäftigtem berechnen. Dabei benutzen wir für den Vergleich die laufenden Wechselkurse der Währungen:

Tabelle 9: Reichtum und Produktivität

BIP 1994
(in Milliarden Dollar)
BIP pro Kopf BIP pro
Beschäftigtem
USA 6650 25512 54038
Vereinigtes Königreich 1020 17468 40380
Kanada 544 18598 40926
Australien 322 18072 40831
Neuseeland 51 14513 32692
Japan 4590 36732 71129
Deutschland 2046 25134 57001
Deutschland ohne DDR 1880 29800 67000
Schweden 198 22504 50433
Niederlande 334 21733 50369
Italien 1018 17796 50900
Frankreich 1328 22944 60889

Quelle für die BIPe: OECD, rückblickende Statistiken 1996

Diese Art von Berechnung macht den relativen Niedergang der Vereinigten Staaten offensichtlich sowie den Reichtum und die Produktivität Japans und Deutschlands.

… Die mittelmäßige Produktivität der USA erinnert ihrerseits an eine vollständig beschäftigte  Bevölkerung, die aber viel arbeitet für wenig Ergebnisse….

Die Kaufkraftparitäten im Wunderland

Diese Art der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts ist also von Ökonomen in Frage gestellt worden, die angeblich orthodox waren und sehr aktiv auf diesem Gebiet bei der OECD, aber auf einer ziemlich seltsamen theoretischen Basis: Durch eine Verneinung der Werte und Preise, wie sie von Märkten definiert werden. Unzufrieden damit zusehen zu müssen, wie sich die japanischen und deutschen BIPs aufblähen, beunruhigt durch die Tendenz einiger BIPs, pro Kopf dasjenige der USA zu überholen, wollten die „liberalen“ Ökonomen in der Stärke der Währungen und in der Überhöhung der inneren Preise die Manifestation eines illusorischen Reichtums erkennen. Die Umrechnung in Kaufkraftparitäten (PPP, purchasing power parity) hat also krampfhaft versucht, die Preise zu „korrigieren“, um die wirklichen Werte zu erhalten.

„Die Kaufkraftparitäten sind diejenigen Währungsumrechnungsverhältnisse, die die Kaufkraft verschiedener Währungen egalisieren. Auf diese Weise wird eine gegebene Summe Geldes in einer Währung, die mit Kaufkraftparitäten in verschiedene Währungen umgerechnet wurde, erlauben, denselben Warenkorb von Gütern und Dienstleistungen in allen betreffenden Ländern zu kaufen. In anderen Worten, die Kaufkraftparitäten sind die Umrechnungsverhältnisse zwischen Währungen, die alle Unterschiede im Preisniveau eliminieren, die zwischen den Ländern existieren….“[2].

In der Zeit, als dieser Modus der Berechnung sich verbreitet hat, in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, hatten die USA einen schwachen Dollar, der, so glaubte man, das Ausmaß der amerikanischen Produktion und Konsumtion maskierte. Solche Berechnungen brachten die Welt wieder in Ordnung: Die USA rückten wieder an den ersten Platz beim Reichtum und bei der Produktivität. Ohne in die Details der Berechnungskonventionen einzusteigen, müssen wir feststellen, dass ihre Logik antiliberal ist, um nicht zu sagen sowjetisch. Sie leugnet die Werte, wie sie von internationalen Märkten definiert werden, ob es sich um Güter handelt oder Währungen….
Die Berechnung in Kaufkraftparitäten wertet neben dem amerikanischen BIP pro Kopf, und im Verhältnis sogar noch stärker, diejenigen der meisten schwach entwickelten Länder auf, wie Mexiko, China, die Türkei oder Russland. Die Berechnung mit Kaufkraftparitäten gewährt eine Prämie für technologische Rückständigkeit….

Der Beweis durch die Kindersterblichkeit

Eine endgültige Schlussfolgerung über die Gültigkeit dieses oder jenes Indikators für die Produktion,  den Reichtum oder den Lebensstandard kann jedoch nicht erreicht werden, ohne aus der verzauberten Welt der ökonomischen Messung herauszutreten, die naturgemäß von den konventionellen und schwankenden Begriffen abhängt, die Preise und Währungen nun einmal sind.  Der Rückgriff auf einen demografischen Parameter, der ebenso quantitativ ist, die Rate der Kindersterblichkeit, eine wesentliche Komponente der Lebenserwartung, erlaubt es, zu einiger Gewissheit zu kommen.

Tabelle 10: Kindersterblichkeit und Reichtum

BIP pro Kopf 1992
(laufender Dollarkurs)
BIP pro Kopf nach Kaufkraft 1992 Kindersterblichkeit 1994
Japan 29460 19604 4
Schweden 28522 16526 4.4
Finnland 21100 14510 4.7
Norwegen 26386 17664 5.2
Schweiz 35041 22221 5.5
Deutschland 27770 20482 5.6
Niederlande 21089 16942 5.6
Dänemark 27383 17628 5.7
Frankreich 23043 18540 5.8
Australien 16959 16800 5.9
Irland 14385 12763 6
Spanien 14745 12797 6
Vereinigtes Königreich 17981 16227 6.2
Österreich 23616 18017 6.3
Kanada 19823 19585 6.4
Italien 21468 17373 6.6
Neuseeland 11938 14294 7.1
Belgien 21991 18071 7.6
Griechenland 7562 8267 7.9
Portugal 8541 9743 7.9
USA 23228 23291 7.9

Quelle für das BIP pro Kopf: OECD

Durch die Beobachtung eines leichten Anstiegs der Kindersterblichkeit in der Sowjetunion zwischen 1970 und 1974 konnte ich 1976 alle ökonomischen Statistiken der Epoche widerlegen, diejenigen der Gosplan-Behörde ebenso wie jene der CIA[3]. Alle beschrieben eine wachsende Wirtschaft, wenn auch mit einer Verlangsamung des Wachstums. Durch seine grausame Einfachheit durchstieß der demografische Parameter den Schleier der Preiskonventionen, die typisch waren für die zentralisierten Volkswirtschaften. Die Verzerrungen durch die Verwendung der Kaufkraftparitäten sind nicht von solcher Schwere, aber sie führen geradewegs in ein Universum des Absurden.
Die amerikanische Kindersterblichkeit geht weiterhin zurück. Man muss daraus im ersten Anlauf die Gewissheit herausziehen, dass die amerikanische kulturelle Stagnation und der Anstieg der sozialen Ungleichheit, dank des technologischen Fortschritts, weder eine Regression noch sogar eine Stagnation der gesundheitlichen und medizinischen Leistungen mit sich gebracht haben. Aber der Rhythmus des Rückgangs des Kindersterblichkeit ist in den USA seit dem Krieg sehr viel geringer als das, was in Westeuropa und Japan beobachtet werden kann.
kindersterblichkeit1950 hatten die USA, die reichste Nation des Globus, eine der niedrigsten Säuglingssterblichkeitsraten und wurden nur von Schweden, Norwegen, den Niederlanden und Neuseeland übertroffen. Sie wurden 1955 vom Vereinigten Königreich, 1963 von Japan, 1964 von Frankreich und 1987 von Italien überholt. In einem Ensemble von 22 Ländern rutschen die USA zwischen 1950 und 1994 vom fünften auf den letzten Platz, gleichauf mit Portugal und Griechenland. Die Unterschiede sind gering wie immer, wenn man die Todesfälle von Kindern im niedrigen Alter in entwickelten Gesellschaften analysiert, aber signifikant. Die Reduzierung der Kindersterblichkeit unter eine gewisse Schwelle, von nun an unter 10 von 1000, setzt das ins Werk, was es am Modernsten in einer Gesellschaft gibt, auf allen Ebenen – technologisch, ernährungstechnisch oder medizinisch. Die schlechte Platzierung der USA bleibt erhalten, wenn man von der Sterblichkeit diejenige der 12% Schwarzen abzieht, deren Rate zweiundeinhalb mal so hoch ist wie diejenige der Weißen (16.5 statt 6.8 von 1000). Dann finden sich die USA bescheiden auf dem 15. Platz von 22 wieder und überholen nur Spanien, Griechenland, Portugal, Israel, Italien, Belgien und Neuseeland.

Die Einordnung der Länder nach Kindersterblichkeit macht ebenso viel Sinn für die Bestimmung des wahren Lebensstandards wie das BIP pro Kopf, ohne die Korrektur nach Kaufkraftparitäten. Das führende Land ist in beiden Fällen in der Mitte der 90er Jahre Japan. Wenn der demografische Indikator eine Schlagseite hat, dann in Richtung einer Prämie für die technologische Modernität, weil er stark bestimmt wird durch den Fortschritt einer Medizin, die gleichzeitig Spitze und für die Masse verfügbar ist. Das ist der Grund für sein vorausblickendes Potenzial. Die technologische und soziale Effizienz produziert gleichzeitig positive Effekte im wirtschaftlichen und im medizinischen Feld. Es ist also normal, Anfang der 90er Jahre eine bedeutsame Korrelation zwischen dem BIP pro Kopf und der Kindersterblichkeit festzustellen, nämlich -0.67, negativ weil die Sterblichkeit ja umso niedriger ist, je höher das BIP ist. Im Gegenzug lässt die Berechnung (des BIP) nach Kaufkraftparitäten die Korrelation mit der Kindersterblichkeit auf das nicht signifikante Niveau von -0.29 fallen. Es gibt keine statistische Beziehung mehr zwischen Kindersterblichkeit und Reichtum, der in Kaufkraftparitäten berechnet wird. Die Abwesenheit einer solchen Verbindung ist eine Herausforderung für den gesunden Menschenverstand. Die Berechnung nach Kaufkraftparitäten, die vorgibt, die Güter der physischen Realität näher zu bringen, entfernt uns von der physischen Realität des Lebens. Eine Schlussfolgerung drängt sich auf: die massive Verbreitung der Berechnung in Kaufkraftparitäten in der zweiten Hälfte der 80er Jahre war eher ein ideologisches als ein wissenschaftliches Phänomen.

[1] OECD, Rückblickende Statistiken, 1960-1994 S. 67, Jahr 1992 für Kanada.

[2] OECD, Kaufkraftparitäten und wirkliche Ausgaben, Band 1, 1993, Seite 11.

[3] Vor dem Sturz. Das Ende der Sowjetherrschaft. 1976. Deutsche Ausgabe 1982.
vordemsturz

Kommentare:

  • Was amerikanische Wähler, vor allem diejenigen Trumps, im Jahr 2016 massiv zum Ausdruck bringen, nämlich, dass sie Grund haben, mit ihrer tatsächlichen Lage unzufrieden zu sein, hat Emmanuel Todd bereits vor 18 Jahren, also vor der DotCom-Blase, diagnostiziert. Die USA lagen bereits damals bei Reichtum und Produktivität hinter anderen westlichen Ländern. Peter Thiel hat in einer hervorragenden Rede zur Wahl gerade in dasselbe Horn geblasen.
  • Er hat ebenfalls gezeigt, dass das kein Phänomen „zurückgebliebener“ Minderheiten war, sondern sich in den Durchschnittswerten pro Kopf und in unbestechlichen demografischen Parametern wie der Kindersterblichkeit deutlich sogar seit den 1960er Jahren niedergeschlagen hat.
  • Er hat ebenfalls eindrucksvoll gezeigt, dass das Problem ökonomischen Eliten in den 80er Jahren bewusst war, so dass sie angefangen haben, die Statistiken um ominöse Kaufkraftparitäten zu korrigieren
  • Diese Berechnung nach Kaufkraftparitäten ist aber nicht nur anti-liberal, weil sie den Einfluss von Marktpreisen eliminiert, sondern sie ist regelrecht sowjetisch und entfernt die wirtschaftlichen Statistiken von der Realität des Lebens, wie sie jeder einzelne erfährt. Es ist kein Zufall, dass man den Verdacht frisierter Zahlen kaum in Mainstream-Medien, sondern vor allem in alternativen Medien wie zerohedge.com beinahe täglich findet.
  • Die in diesem Buch enthaltenen Beobachtungen zur wirtschaftlichen Gesundheit der USA haben ihn mutmaßlich zu seinem Bestseller von 2002 animiert:
    weltmachtusa
  • Dieses Buch macht Todd ebenso wenig zum Antiamerikaner wie ihn sein erster Welterfolg zum Ende der Sowjetunion zum Antirussen gemacht hat. Der Mann ist einfach ein kritischer Wissenschaftler, der sich aus der Sicht normaler Bürger die tatsächliche Lage einer Gesellschaft anschaut, ohne sich von Propaganda blenden zu lassen. Seine Überlegungen sind dabei ebenso einfach wie aussagekräftig.
  • Noch kritischer als die soziale und wirtschaftliche Lage der USA beschreibt er seit einigen Jahren die wirtschaftliche und menschliche Katastrophe, die der Euro für Südeuropa darstellt. Es wäre also ganz falsch, wenn wir Europäer ihn als Kronzeugen für einen billigen Antiamerikanismus betrachten würden: In Europa gibt es nicht weniger Probleme und Propaganda der Eliten gegen die eigene Bevölkerung als in den USA.

Nachtrag 22.3.2017:
Jetzt auch in der ZEIT: Kollaps im Hinterland

Nachtrag 25.3.2017:
Jetzt auch in der FAZ: Amerikas Arbeiterklasse kollabiert