Links in der Merkel-Falle

Wie sehen die Chancen der „linken“ Parteien in diesem deutschen Wahljahr aus?maus
Der erste Test im Saarland ist bereits voll in die Hose gegangen: alle drei Parteien haben verloren, die Grünen sogar ein sehr entscheidendes Prozent. Aber auch der hochgejubelte Schulz-Effekt hat sich bereits in Luft aufgelöst.
Die Enttäuschungen dürften weitergehen, denn die Misere hat tiefere Ursachen: den fundamentalen Mangel an Orientierung und eigenem Profil. Die Linken haben sich schlicht von Angela Merkel eintüten lassen. Und diese handlichen Päckchen versucht sie jetzt im Wahljahr in ihre Schubladen zu entsorgen, mit einiger Aussicht auf Erfolg.

Drei dicke Themen

Bei mindestens drei Themen sind die drei linken Parteien Merkel voll auf den Leim gegangen, unfähig eine eigenständige Position einzunehmen und zu halten:

  • Energiewende
  • Euro-Rettung
  • Willkommens-Kultur alias Willkommens-Trick

Die Grünen

Dass die Grünen nicht fundamental gegen die Energiewende opponiert haben, die Angela Merkel 2011 nach der Kernschmelze in Fukushima über Nacht eingefallen ist, ist verständlich. Schließlich war der Atomausstieg ihr Gründungsmythos. Ein bisschen mehr Kritik an der 180-Grad-Kehre der Kanzlerin wäre aber durchaus angemessen gewesen, weniger als ein Jahr nach einer lausig begründeten Laufzeitverlängerung, mit der sie den mühsam ausgehandelten und besseren  Atomkompromiss von Schröder und Fischer in ihrer alternativ- und einfallslosen Art einfach zur Seite geschoben hatte. Auch in den Folgejahren hätte es für eine grüne Partei jeden Grund gegeben, CDU, FDP und SPD bei der Umsetzung auf die Finger zu sehen, denn schließlich waren die Grünen immer in der Opposition. Stattdessen haben sie sich der Selbstzufriedenheit hingegeben und tatenlos zugeschaut, wie Merkel ihnen das Kernthema abgenommen und auch noch seine Umsetzung hat vermurksen lassen. Das Ende vom Lied könnte wieder eine Laufzeitverlängerung für die übriggebliebenen Kernreaktoren sein, denn wenn die Stromversorgung noch teurer und gleichzeitig auch noch unsicher wird, ist irgendwann alles wieder offen, und Merkel wird eine dahergemümmelte Begründung für eine neuerliche Volte nicht vermissen lassen. Möglicherweise hat sie sich aber auch schon vom Acker gemacht, wenn eine andere CDU die Revision ihrer Fehlentscheidungen betreibt. Wenn die Grünen glauben, dass bis dahin der Murks steigender EEG-Umlagen

EEG-Umlage

und wachsender Blackout-Gefahren ganz bei CDU und SPD hängen bleibt, täuschen sie sich: als Ideengeber stehen sie in der Mithaftung, denn vielen Konservativen und Kernenergieunterstützern gilt Merkel „nur“ als grüne Verräterin, als gut getarnter Claudia-Roth-Klon, den sie einfach zu lange nicht erkannt (LOL!) haben.

Es wird auf immer das Geheimnis der Grünen bleiben, warum sie als Oppositionspartei allen Vertragsbrüchen und Rosstäuschereien im Zusammenhang mit der Euro-Rettung zugestimmt haben, selbstverständlich immer mit viel Scheinkritik und Vorbehalten, an die sich kaum ein Mensch noch  erinnert. Ein bisschen mehr Kritik und mindestens Enthaltung wäre billig zu haben gewesen und eine glänzende Option für den Tag, an dem das vertagte Problem offensichtlich wird.

Das Meisterstück der Grünen war aber ohne jeden Zweifel die übergroße Freude über Merkels Willkommens-Kultur: „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich drauf!“ Man muss Frau Merkel zugutehalten, dass sie nie etwas Vergleichbares gesagt hat. Sie hat nur mal wieder etwas Alternativloses getan, von dem sie vorher nie gesprochen hatte, an das sie vorher wahrscheinlich noch niemals gedacht hatte. Verglichen mit KGE ist die Einäuige aber immer noch Königin, und KGE wurde trotzdem Spitzenkandidatin.

So bangen die Grünen (und nicht nur sie allein) inzwischen um ihre Existenz. Die Abgesänge haben bereits begonnen: Warum ich die grüne Anti-Freiheits-Partei nicht wählen kann, Inbegriff des Uncoolen. Es könnte eng werden, zunächst in NRW und dann im Bund.

Mein Fazit: Kein Problem. Die Grünen können weg.

Die SPD

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Die alte Tante SPD taugt nur noch zur Satire:GenossenSPD läutet traditionelles linkes Halbjahr vor wichtigen Wahlen ein

Es ist ihr egal, dass in erster Linie verarmte Mieter in NRW die explodierte EEG-Umlage (siehe oben) für die staatlich garantierte Solarrendite von wohlhabenden Eigenheimbesitzern in Baden-Württemberg und Bayern bezahlen. Die SPD unterstützt den Sozialismus für Reiche, zu dem sich Grüne und CDU zusammengefunden haben. Im linken Spektrum sind es allein unabhängige und entschieden linke Ökonomen wie Heiner Flassbeck, die die Sinnhaftigkeit dieser Energiewende bezweifeln. Ich habe als Physiker und Anhänger der Energieeffizienz dazu schon lange eine eigene Meinung[1].

Die SPD und die Willkommenskultur: eine grob verpasste Chance

Das hätte eine Riesenchance sein können. Die Sachlage war klar: Merkel hat die SPD überraschend „links“ überholt (aus Gründen, über die wir letztlich immer noch spekulieren). Gabriel stand vor der Frage, ob er im Gegenzug nach „rechts“ ausweichen sollte. Er hätte sich mittig zwischen Seehofer und Merkel stellen können. Er hätte Verständnis für beide äußern können und sie in seiner Mitte zusammenführen können, zu Kontingenten oder Obergrenzen. Wie man diese irre Masseneinwanderung von 2015 von links kritisiert, ohne Fremdenfeindlichkeit zu schüren, kann man bei Emmanuel Todd nachlesen.
Gabriel (der nicht so unfähig ist wie oft behauptet) hat nach meiner Einschätzung gezuckt, aber er hat sich nicht getraut. Vermutlich war ihm klar, dass der Funktionärsklüngel der SPD nicht mitspielen und ihn stürzen würde. Der Mittelbau der ideologischen und unqualifizierten Funkionäre ist das große  Problem der SPD. Deshalb hat Gabriel die Riesenchance, Merkel eiskalt zu erledigen und die SPD wieder zu einer Partei für das Volk zu machen, fahren lassen.  Dabei hat die SPD Merkel und die CDU auch sträflich unterschätzt, denn längst sind die Grenzen wieder zu, die CDU setzt auf Abschiebungen (was bei dem Gesindel, das eben auch ins Land geströmt ist, völlig unvermeidlich ist). Und die Büchsenspanner der Kanzlerin haben längst angekündigt, dass sie die SPD und den Messias Schulz mit dem Migrationsthema vorführen werden:
Ein zentrales Wahlkampfthema wird die Rolle der SPD in der Flüchtlingsfrage sein; dazu ist inzwischen eine Menge gesammelt worden – und Schulz wird gefragt werden – vor allem zu seiner Rolle und seinen Aussagen früher. Er wird „hart arbeitende Berater“ brauchen.

Dabei kommen dann Plakate heraus, die es locker mit Posts von besorgten Bürgern aufnehmen können:
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Quelle
Das ist totale Verhöhnung. Das ist grob, das ist frech – und gut. Wer den Dachschaden hat, muss für den Spott nicht sorgen. Man stelle sich nur einen Moment vor, da würde nicht ‚CDU‘, sondern ‚AfD‘ auf dem Plakat stehen! Es würde keinen Tag so unversehrt dastehen. Auch irgendein kleiner Twitterer oder Facebooker müsste befürchten, dass ein solcher Post von der Maas-Zensur gelöscht werden würde: zweierlei Maas im Stasi-Kahane-Staat.

Mein Fazit: Es ist hart für jemanden, der aus einer Handwerkerfamilie stammt, in der früher jeder SPD gewählt hat. Nachdem ich schon seit vielen Jahren nicht mehr SPD wähle, ist aus dieser Gleichgültigkeit jetzt offene und bittere Feindschaft geworden. Die hemmungslose Diffamierung der Gegner der Grenzöffnung von 2015 durch die SPD und die pauschale Zensur von Regierungskritik durch Maas und seine Stasi-Kohorten werde ich der SPD nicht verzeihen. Im Übrigen tippe ich darauf, dass Schulz froh sein kann, wenn er im September die 25% von Steinbrück erreicht. Es kann auch weniger werden. Hoffentlich.

Die echte Linke

Die Linke ist ein wild zusammengewürfelter Haufen. Bei Landtags- und Kommunalwahlen bei uns in Bayern finde ich regelmäßig kaum jemanden auf der Liste, den ich wählen könnte, aber jede Menge Chaoten, Ideologen, Sektierer und Spinner. Nicht wirklich meine Wellenlänge.
Aber im Bund habe ich mich immer über eine gute Rede von Gregor Gysi oder Sahra Wagenknecht gefreut. Tatsächlich haben die beiden regelmäßig das Beste abgeliefert, was der ansonsten durch und durch dröge Bundestag zu bieten hatte, zum Beispiel diese hervorragende Rede zu dem Murks, der Eurorettung genannt wird. Und so kommt es, dass inzwischen auch kluge konservative Freidenker ganz offen zugeben: Wagenknecht hat Anmut und sie kann Analyse. Und auch Oskar Lafontaine konnte immer Analyse (und Opposition).
Neben diesen Führungsleuten gibt es aber eine Menge Leute, die mindestens unglaublich naiv sind. Die Vorsitzende Kipping fragte sich beispielsweise vor einem guten Jahr öffentlich, ob sie Angela Merkel kritisieren darf. Was ist das für eine Oppositionspartei, die fragt, ob sie die Regierung kritisieren darf? Und so kommt es dann eben, dass die Fraktionsvorsitzende von ihrer eigenen Partei kritisiert wird, wenn sie die Mutter Theresa für schlichte Gemüter, die Bundeskanzlerin Angela Merkel, kritisiert. Die große Frage an die Linke lautet: wie stark ist der Einfluss der Wagenknecht-Linie in dieser Partei? Ist die Partei zu weniger oder mehr als 70% in den Händen von Dummies und Böswilligen?

Mein Fazit: Ich sehe mich heute nicht in der Lage, diese Frage zuverlässig zu beantworten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich im Laufe der Monate noch klärt und ich die Partei wieder wählen kann, aber eher unwahrscheinlich.

Die Kündigung

Mit dem zuletzt genannten kleinen Vorbehalt verabschiede ich mich hiermit von der deutschen Linken. Ihr klebte in der gesamten deutschen Geschichte immer wieder so viel Pech am Schuh – oder war es doch schon immer Unvermögen?

Natürlich kann man von einer volksnahen freisinnigen Partei träumen, in der auch eine Sahra Wagenknecht eine gute Rolle spielen könnte. Was aber macht man im Hier und Heute, in den kommenden Landtags- und Bundestagswahlen, um das kleinste Übel zu identifizieren, das man als macht- und staatskritischer Freisinniger wählen könnte? Dieser Frage werde ich auch in künftigen Blogbeiträgen nachgehen.

 

[1] Technisch und ökonomisch betrachtet ist heute eine eingesparte Kilowattstunde  immer noch erheblich einfacher und billiger zu haben als eine zusätzlich erzeugte Kilowattstunde, vor allem aber als eine erneuerbar erzeugte Kilowattstunde. Deshalb empfehle ich jedem, seinen privaten Verbrauch zu optimieren durch LEDs und andere vernünftig sparsame Geräte. In Zeiten der exorbitanten EEG-Umlage und eines Strompreises von fast 30 Cent/kWh macht das richtig Spaß, gerade auch im Geldbeutel. Der Jahresverbrauch meiner je nach Konstellation 4-6-köpfigen Familie liegt bei unter 2200 kWh, also bei weniger als der Hälfte des deutschen Durchschnitts. Wir zahlen dafür nur gut 50 Euro im Monat. Würden Millionen Privatverbraucher dieser Strategie folgen, würden wir gemeinsam reicher werden, die Umwelt schonen und das unökonomische EEG-System in kürzester Zeit zu einem ökonomischen Kollaps führen.
Sachlich betrachtet hätte die EEG-Umlage mit der Verbreitung erneuerbarer Stromerzeugung radikal heruntergefahren werden müssen. Sie war nur als Starthilfe konzipiert, ist aber durch mächtige Lobbygruppen und korrupte Politiker zu einem Selbstbedienungsladen umgebaut worden. Das kann ökonomisch, sozial und auch ökologisch nicht nachhaltig sein. Das System wird in jedem Fall zusammenbrechen. Wir haben es gemeinsam in der Hand, den Todeskampf zu verkürzen.

Nachtrag 1.5.2017:
FAZ: Union geht mit dem Thema Sicherheit auf Wählerfang
und kennt bei den Plakaten kein Halten mehr.
„Asylchaos stoppen. Zuwanderung einschränken“ lautete ein Slogan der AfD im Berliner Wahlkampf. Das war für manche empörend, aber wenn jetzt die CDU damit Wahlkampf gegen #NRWIR macht, ist das ganz unbedenklich — meint die SPD, die dümmste Partei Deutschlands.

Nachtrag 5.5.2017:
Die Spannung ist großGespannteDrahtfalle

 

 

 

 

 

Nachtrag 7.5.2017:
Ich habe heute Abend einen metallischen Schlag gehört:
gefangenWer genau hinschaut, erkennt auf dem Bild die gefletschten Zähne des armen Ralf Stegner. Elend, wie er da in der Falle hängt mit gebrochenem Rückgrat!
Er ist ein Unsympath durch und durch und der allerbeste Wahlkämpfer für Rechts.
Oder ist das auf dem Bild schon der Hoffnungsträger Schulz? Am nächsten Sonntag in NRW wird es genau so weitergehen.
Die SPD hat fertig.

Die Grünen hatten das Glück eines populären Spitzenkandidaten und haben trotzdem leicht verloren. Die Linke hat auf sehr niedrigem Niveau ein wenig gewonnen, zu wenig.
Aus den Zugewinnen von AfD, FDP und CDU errechne ich einen Rechtsruck von fast 11 Prozentpunkten: Links steckt in der Merkel-Falle.

Nachtrag 8.5.2017:
Wer den Schaden hat, muss für den Spott nicht sorgen: Immer dieser Postillon. LOL!

Nachtrag 10.5.2017:
Ferdinand Knauß: Hannelore Kraft ignoriert die Realität. Die Presse ist aktuell überwiegend mies für die SPD. Am Sonntag könnte es in NRW ein echtes Ereignis geben.

Nachtrag 12.5.2017:
Die Nachdenkseiten nehmen jetzt das Thema Energiewende ebenfalls von links unter die Lupe: Das Ende des deutschen Solarzeitalters? Der Autor Reinhard Lange hat das Thema auch schon für Makroskop bearbeitet. Die grün-linke Allianz wird endlich auch von links in Frage gestellt. Gut so: Die Grünen sind ja schon lange treulos und nutzen die Linken brutal aus.
Und noch ein Menetekel für die SPD: Das Büro Schulz erklärt den ‚Nachdenkseiten‘ den Krieg. Das dürfte die SPD in NRW unter 30% drücken und „Die Linke“ sicher über 5%. Das war es dann auch für eine Ampel-Koalition in NRW. Die Niederlage der SPD am Sonntagabend dürfte markerschütternd ausfallen. Solche Zeitenwenden kündigen sich oft jahrelang an, dann gibt es nochmal einen Hüpfer (Schulz-Effekt), bevor der Crash doch kommt, den irgendwie keiner mehr wirklich erwartet hat. Im Gesicht von Hannelore Kraft lässt sich das kommende Desaster ablesen: ich lese da keinerlei Kraft, sondern Resignation. Laschet dagegen spürt (und zeigt an), dass er die Nase vorn haben wird.

Nachtrag 13.5.2017:
Auch die ZEIT ahnt etwas: Wutwahlkampf
Auch diese Meldung stammt ursprünglich aus der ZEIT: Oberbürgermeister reagiert ungehalten, als Reporter ihn auf Problemviertel ansprechen. Die offziellen Botschaften von Kraft und SPD haben also ganz wenig mit der Lage ‚im Kiez‘ zu tun. Die SPD weiß das ganz genau, und sie weiß auch, dass sie in alle Richtungen verliert: Linke, CDU, FDP, AfD. Nur die Grünen scheinen nicht zu profitieren.
Passend dazu: Ein geiler Ratgeber für Verhinderungswähler.

Nachtrag 14.5.2017:
Das Ergebnis in NRW passt sauber ins Bild: ca. 42% für alle drei Parteien zusammen. Mehr wird es auch bei den Bundestagswahlen nicht werden, eher weniger. Und das ist auch gut so. Der Rechtsruck aus den Zuwächsen von FDP, CDU und AfD summiert sich übrigens auf satte 18 Prozentpunkte!
Die Linken werden noch eine Weile brauchen, bis sie verstehen, dass sie einer langen mageren Zeit entgegengehen und vor allem: warum sie das verdient haben.
Cicero: Warum die Schulz-SPD ein Opfer ihrer eigenen Blindheit ist
Tichy: „Die SPD erhält die Quittung: Sie wird abgestraft, weil sie den Merkel-Kurs vom Sommer 2015 fortsetzt. Nur Merkel ist schon wo anders, wenigstens pro forma. Die SPD aber steht Schmiere, und wird als Schmierensteher festgenommen.“

Nachtrag 15.5.2017:
Friedensblick hatte dieses Ergebnis schon vor mehr als einem Jahr auf dem Radar:
Bei der Bundestagswahl 2017 werden SPD, Linke, Grüne abgestraft werden“
Spitzenanalyse: Pokemon Schulz.

Nachtrag 18.5.2017:
Fritz Goergen: Die SPD rüstet bei Innerer Sicherheit auf
Peinlich, wie die SPD jetzt sich selbst Lügen straft. Wie dumm darf man sein?

Nachtrag 25.05.2017:
Dieser Tweet war einfach gutSozialdemokratNazi

Nachtrag 31.05.2017:
Die gestrige Personalrochade bei der SPD und der „neue“ Generalsekretär Heil  zeigen die ganze Not der SPD. Das schlechte Ergebnis von 2013 (25%) wird von nun an die Hoffnung sein, die Erwartung stellt sich auf Heils Ergebnis von 2009 (23%) ein, aber auch ein Fall unter 20% ist absolut drin. Die Erinnerung an den Schulz-Hype vom Jahresanfang wird die Depression verstärken. Das wird richtig, richtig bitter für die SPD: kein Personal, kein Programm, keine Ideen und einen unmöglichen Kandidaten.

Nachtrag 9.6.2017:
Hätte die deutsche Linke einen Anarcho wie Corbyn im Angebot, würde ich sie wählen.
Apropos: Hat irgendjemand gehört, dass Corbyn seine Landsleute als „Nazis“ bezeichnet hat, weil sie sich (zu Recht) vor dem islamischen Terror fürchten?

Nachtrag 21.6.2017:
Exzellente Analyse von Merkels Taktik: Die erfolgreichste sozialdemokratische Kanzlerin der Geschichte. Passt exakt zu meinem Verständnis der Funktionsweise ihrer Fallen.

Nachtrag 24.6.2017:
Norbert Häring bringt das Problem von Schulz, Maas und der ganzen SPD ganz trocken auf den Punkt.

Nachtrag 10.7.2017:
Bei der Wahl Hamburgs als Veranstaltungsort des G20-Gipfels ist die SPD wieder Merkel in eine Falle gegangen:  Der rechtschaffene Prügelknabe.
Christoph Schwennicke gehärt zu denjenigen Journalisten, die Merkels Politik am kühlsten analysieren. Wann lernen SPD-Politiker dazu?

Nachtrag 24.7.2017:
Schulz hat versucht, aus der Falle auszubrechen – vergeblich. Das Foto spricht Bände über die Erkenntnisprozesse, die bei ihm ablaufen: Ein Desaster vor Augen. Je mehr er jetzt in dieser Frage strampelt, umso stärker vertreibt er die Wähler nach rechts und links. Für seine Partei kann er nichts mehr retten, aber er kann interessante Debatten anstoßen und Wählerbewegungen in Gang setzen, völlig unfreiwillig natürlich. Die Wahl ist noch nicht gelaufen, ein Rolling Stone wie Schulz kann viel Bewegung verursachen.

Nachtrag 9.8.2017:
Nachdenkseiten über Schulz-Hype und Mediennebel: In sieben Wochen wird Bilanz gezogen. Dann ist Schluss mit Martin Schulz und der gesamten SPD-Führung.

Nachtrag 19.8.2017:
Wolfgang Kubicki: „Diese moralische Impertinenz [von Frau Göring-Eckardt] geht mir auf den Senkel“. Exakt das.

Ein Märchen aus Deutschland

Der französische Journalist Luc Rosenzweig war u.a. von 1987 bis 1991 Deutschlandkorrespondent für Le Monde. Zum Abschied hat er damals diesen Text in der ZEIT veröffentlicht. Jetzt hat er im Meinungsmagazin ‚Causeur‘ einen sehr spöttischen Beitrag über die deutsche Berichterstattung zu al Bakr, dem Terroristen von Chemnitz, geschrieben, den ich hier in Auszügen übersetzt wiedergebe:

Flüchtlinge gegen Terroristen:
ein Märchen aus Deutschland

Uff, die Merkel’sche Moral  ist unbeschädigt

Bevor er sich in seiner Zelle erhängte, war der syrische Migrant, der wegen der Vorbereitung eines Terroraktes verhaftet wurde, von einigen seiner Landsleute überwältigt und angezeigt worden. Die „guten“ Syrer neutralisieren den bösen: das ist die schöne Geschichte, die (sich) die deutschen Behörden erzählen…

(zuerst beschreibt er die Abläufe, die zur Festnahme führten und die in Deutschland überwiegend bekannt sein dürften)
….
Für die Behörden ist das ein Geschenk des Himmels in Sachen Kommunikation: die Boulevard-Presse fing an sich darüber aufzuregen, dass die Polizei unfähig war, einen Terroristen auf der Flucht zu „schnappen“ und die Opposition von rechts gegen die Regierung Merkel sah sich in ihren Anschuldigungen von Inkompetenz im Kampf gegen die Terroristen gestärkt. Indem sie massiv syrische Flüchtlinge ins Land gelassen habe, habe die Regierung laut ihren Kritikern die terroristischen Wölfe in den deutschen Schafstall gelassen. Bingo! Die „guten“ Syrer neutralisieren den bösen. Die Merkel’sche Moral ist unbeschädigt! Das Heldentum des Mohammed A. und seiner Freunde wird von den politisch Verantwortlichen hochgespielt, und Letzterer spricht in den Medien, um ihre Heldentaten zu erzählen, bevor er ein wenig spät merkt, dass ihnen das Unstimmigkeiten mit al Bakrs Freunden einbringen kann…
Angela macht einen Punkt in der öffentlichen Meinung, aber es ist nicht gewiss, dass Mohammed und seine Freunde dabei auf ihre Kosten kommen…
Aber hatten sie überhaupt eine Wahl? Al Bakr laufen zu lassen, hätte aus ihnen Komplizen gemacht und ihr Projekt der Eingliederung in Deutschland zerstört in dem (sehr wahrscheinlichen) Fall, dass die Polizei seinen Fluchtweg rekonstruiert hätte. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, den 13. Oktober, nimmt sich der „am besten überwachte Gefangene Deutschlands“ das Leben durch Erhängen in seiner Zelle im Gefängnis von Leipzig, und beraubt die Ermittler dadurch der Hinweise auf seine Ziele und sein eventuelles Terrornetzwerk, die er hätte geben können. Die Polemik geht wieder los und manche böse Zungen jenseits des Rheins meinen, dass es sinnvoller gewesen wäre, al Bakr in der Obhut seiner Denunzianten zu belassen. Es gibt keine Moral in dieser Geschichte!

Kommentare:

  • Rosenzweig ist heute definitiv nicht mehr das, was er in dem ZEIT-Artikel von 1991 immer bleiben wollte: ein Linker. Er ist vielmehr ein typischer Vertreter der islamkritischen Intelligenz jüdischer Abstammung in Frankreich, keiner von den ganz polemischen (wie sie in Deutschland von Henryk Broder repräsentiert werden), sondern gemäßigt, aber doch deutlich.
  • Wichtiger für diesen Beitrag: Rosenzweig veröffentlicht weiterhin viele Beiträge über Deutschland und kennt sich hierzulande gut aus. Die scharfe Kritik an der deutschen Politik und insbesondere der Regierung Merkel ist dabei unübersehbar. Da hat sich in den letzten 25 Jahren sehr viel Entfremdung angesammelt, und es lohnt sich den oben verlinkten ZEIT-Beitrag zum Abschied aus dem wiedervereinigten Deutschland nochmals zu vergleichen.
  • Insbesondere hört man aus dem Beitrag jede Menge Erstaunen heraus, mit was für rührenden Geschichten, Politiker der deutschen Öffentlichkeit kommen können, ohne ausgelacht zu werden: „Märchen aus Deutschland“, Kindergartengeschichten.
  • Rosenzweig deutet beispielsweise ganz kühl darauf hin, dass al Bakr das Wissen um Ziele und Hintermänner des geplanten Anschlags mit ins Grab nimmt. Daraus folgt unmittelbar die Frage, ob andere als er selbst ein Interesse an seinem Tod gehabt haben könnten. In Deutschland stellen diese Frage nur sehr wenige „Verschwörungstheoretiker“, dafür gibt es jede Menge Anklagen gegen die „rassistischen“ Sachsen, die mal wieder einen irgendwie doch bedauernswerten Möchtegernterroristen wenn nicht gemeuchelt, dann eben nicht am Selbstmord gehindert haben. Ist Deutschland tatsächlich in diesem Ausmaß ein Kindergarten der dummen Betroffenheit, dass es praktisch jedem wachen ausländischen Beobachter auffallen muss?
  • Ceterum censeo Angelam esse mittendam (Im übrigen bin ich der Ansicht, dass Angela Merkel gefeuert werden muss)

Nachtrag 9.9.2017:
Passend dazu ein Interview mit Douglas Murray in der Basler Zeitung:
„Jedes Mal, wenn es in Deutschland einen Anschlag gibt, ist Angela Merkel, die deutsche Bundeskanzlerin, darauf angewiesen, dass die Schuld daran nicht ihr angelastet wird. Der jeweilige Attentäter darf also keiner sein, der vor Kurzem auf ihre Einladung hin nach Deutschland gekommen ist. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern eine simple Beobachtung.“

Nachtrag 24.07.2018:
Luc Rosenzweig ist gestorben

Europa in die Luft gejagt

Es gibt da einen deutschen Sozialwissenschaftler, der richtig gute Analysen abliefert, die der deutschen politischen Klasse nicht schmecken dürften. Ich hatte bis Mai nichts von ihm gehört, eine Bildungslücke, dann aber diesen erstklassigen Beitrag in der FAZ gelesen. Schaut genau hin, Ihr jungen Leute: so haben früher Linke geschrieben als sie noch kritisch waren! Ja, ja, man glaubt es nicht mehr, aber die waren wirklich mal analytisch und nicht gläubig-moralisch.Trotzdem durfte Streeck nach dem Brexit-Votum seine scharfe Meinung in der ZEIT kundtun, ein bisschen.
Dieser Wolfgang Streeck hatte bereits im März in der London Review of Books einen Artikel veröffentlicht, in dem er Merkels Politik und ihren Politikstil frontal angegangen ist. Dazu ist jetzt ein Update in einem Organ der University of Sheffield erschienen, in dem er das Brexit-Votum in diesem Licht wesentlich detaillierter analysiert als im ZEIT-Artikel. Dieses Papier ist so voller schlauer und ausgearbeiteter Einsichten in die europäische, deutsche und englische Politik, dass ich es hier in Auszügen wiedergebe:

Europa zur Explosion bringen: Deutschland, die Flüchtlinge und das Brexit-Votum

Es ist nun klar, dass Einwanderung ein sehr gewichtiger, wenn nicht der wichtigste, Grund war, warum die Briten dafür stimmten, die Europäische Union zu verlassen.
…Die Osterweiterung im Jahr 2004 brachte eine Welle der Einwanderung aus Polen und anderen Ländern, gefördert von der „New Labour“ Regierung jener Zeit, die die von den Verträgen erlaubte Übergangsperiode vorbeiwinkte und die Freizügigkeit in den britischen Arbeitsmarkt sofort in Kraft treten ließ. Es gibt Gründe anzunehmen, dass das als Antwort auf lange bestehende Qualifikationsdefizite bei den heimischen Arbeitskräften geschah, zurückzuführen auf zu geringe Investitionen in Ausbildung, und ganz allgemein, um Druck auf britische Arbeiter besonders am unteren Ende der Lohnskala auszuüben, „wettbewerbsfähiger“ zu werden. Das Ergebnis war ein wachsendes Ressentiment beim einfachen Volk gegen die Einwanderungs- und Arbeitsmarktpolitik der Regierung einschließlich der kosmopolitischen moralischen Rhetorik zu ihrer Verteidigung.

David Camerons Initiative, kosmetische Änderungen an den Europäischen Verträgen auszuhandeln und dann ein Referendum anzusetzen über die britische EU-Mitgliedschaft war teilweise eine Reaktion auf das sich aufbauende Anti-Einwanderungs-Ressentiment. Die Hoffnung war, genug Konzessionen von Brüssel bei der Freizügigkeit zu gewinnen, damit die Regierung den Euro-Separatismus besiegen konnte, der besonders von einer neuen politischen Partei, UKIP, vertreten wurde. Ein Votum für ‚Remain‘ sollte auch eine dauerhafte Legitimität für einen offenen nationalen Arbeitsmarkt mit einem effektiv unbegrenzten Nachschub an Arbeitskräften schaffen. Camerons Gegner, die von seinem langjährigen Rivalen Boris Johnson angeführt wurden, sahen das Referendum als eine Gelegenheit, die Labour Party entlang des Risses zwischen ihrer traditionellen Basis aus der Arbeiterklasse und ihren Unterstützern aus den liberal-kosmopolitischen Mittelklassen zu spalten und sowohl UKIP als auch einwanderungsfeindliche Wähler aus der Arbeiterklasse in das konservative Lager zu holen.

Dass, zur Überraschung beider, Cameron verlor und Johnson gewann, darf zu einem guten Teil der Entfaltung der „Flüchtlingskrise“ von 2015 in Europa zugeschrieben werden, wie sie von Deutschland und der Regierung von Angela Merkel gehandhabt wurde. Die speziellen Pathologien der deutschen Politik, wie sie sich besonders aber keinesfalls ausschließlich in der deutschen Asyl- und Einwanderungspolitik zeigen, mit ihrem Potenzial ohne Absicht, aber umso effektiver die Europäische Union in die Luft zu jagen, waren schon Anfang 2016 erkennbar, als mein ursprünglicher Artikel geschrieben wurde, zu dem dieser ein Nachtrag ist. Dass die massive Kontraproduktivität des deutschen Pro-Europäismus für den europäischen Zusammenhalt nur wenige Monate später so dramatisch ans Licht kommen würde, in einem so schicksalhaften Ereignis wie dem britischen Votum, wollte sogar ein „Euro-Pessimist“ damals kaum vorhersagen. Aber die Zutaten zu einer langen Serie von Unfällen, die nur darauf warteten zu passieren, waren vorhanden wie in dem Artikel beschrieben: im Besonderen eine spezifisch deutsche politische Weltsicht, die sich auf eine moralistische Leugnung der Existenz legitimer nationaler Interessen gründet und die deutsche politische Klasse zwingt und es ihr auch erlaubt, deutsche Interessen und Politik als allgemein europäische darzustellen, zu denen es weder deutsche noch irgendwelche anderen nationalen Alternativen geben könne; ein tief wurzelndes ethnozentrisches Missverständnis mit der Wirkung, dass die Signale aus der deutschen Innenpolitik und der deutschen Öffentlichkeit an die Politik europäische Signale seien und dass deutscher Common Sense gleichzeitig auch europäischer wenn nicht sogar globaler Common Sense sei; ein deutsches politisches System parlamentarischer Regierung, dass von einem Kanzler in der Art eines unparteiischen Präsidenten kontrolliert wird und so schnelle und unvorhersehbare 180-Grad-Kehren erlaubt, wenn es Gelegenheiten erlauben oder Notwendigkeiten erfordern; sowie die Abwesenheit einer Opposition, die unangenehme Fragen stellt und auf diese Weise auch für die Außenwelt die Interessen offenlegt, die an der Basis politischer Entscheidungen liegen, die als humanitäre Pflichten jenseits politischer Wahlmöglichkeiten dargestellt werden.

Historiker werden in den kommenden Jahren die Motive hinter der Öffnung der deutschen Grenzen im Spätsommer 2015 auseinanderpflücken müssen. Eines scheint der Wunsch gewesen zu sein, die Aufmerksamkeit abzulenken von dem von Deutschland betriebenen Massaker an der griechischen Syriza-Regierung…
Auf der weniger emotionalen Seite standen der chronische Hunger der deutschen Wirtschaft nach Arbeitskräften, besonders die Furcht unter deutschen Arbeitgebern vor einem Arbeitskräftemangel, der die Löhne nach oben treiben oder Produktionsverschiebungen ins Ausland zur Verteidigung des internationalen Marktanteils erzwingen würde….

Das Ergebnis war eine unwiderstehliche Versuchung, Flüchtlings- und Asylpolitik als Ersatz für eine wirkliche Einwanderungspolitik zu nutzen – eine Einwanderungspolitik durch die Hintertür…Anders als konventionelle Einwanderung, für die die Regierung hätte die Verantwortung übernehmen müssen, hatte Einwanderung wegen Asyl- und Flüchtlingsschutz den Vorteil, dass sie als humanitäre Pflicht dargestellt werden konnte, und sogar als eine, die vom internationalen Recht in einen Schrein eingeschlossen wurde, zu der es „keine Alternative“ gab, weder moralisch noch rechtlich. Ökonomische Argumente für Einwanderung hätten bestritten werden können und hätten Fragen über Löhne und Arbeitsmöglichkeiten für gegenwärtige und künftige deutsche Arbeiter provozieren können, während humanitäre Argumente die Unterstützung der Kirchen und derjenigen erhalten würden, die an eine besondere deutsche Verantwortung  in humanitären Fragen glauben. Darüberhinaus konnten das deutsche, europäische und internationale Recht zum Asyl und zur Behandlung von Flüchtlingen so gelesen werden, also ob sie keine Obergrenze für die Zahl der Einwanderer erlaubten, die ein Land aufnehmen müsse, so dass die Entscheidung über das Ausmaß der Einwanderung externalisiert und Merkels Behauptung zusätzliche rechtliche Bedeutung gegeben werden konnte, dass in einem Zeitalter der „Globalisierung“ Grenzen nicht länger kontrolliert werden könnten – einer Behauptung, die in europäischen Hauptstädten auf vollständiges Erstaunen gestoßen war.

Einwanderungspolitik, die als Asyl- und Flüchtlingspolitik getarnt war, hatte den zusätzlichen Vorteil, dass sie „europäisiert“ werden konnte, womit die Brüsseler Maschine für die Umsetzung und Legitimierung genutzt werden konnte. Dafür mussten die anderen Mitgliedsstaaten dazu gebracht werden, die deutsche Interpretation internationalen und europäischen Rechts zu teilen oder wenigstens so zu tun als ob

Niemand sonst war jedoch bereit, das zu unterschreiben. Also wurde Ungarn, ein kleines Mitgliedsland, dessen Regierung zufällig in liberalen Kreisen unpopulär war, als Sündenbock ausgewählt und öffentlich niedergemacht, als es tat, was es unter Schengen für seine Pflicht hielt, d.h., seine Grenzen zu überwachen. Europäisierung, und sei es nur auf dem Papier, sollte Merkels Flüchtlings-mit-Einwanderungspolitik in Deutschland unangreifbar machen, insbesondere weil sie die Weigerung der Regierung, eine „Obergrenze“ festzulegen, mit Quoten für die Zuweisung von Flüchtlingen und Asylbewerbern an Mitgliedsländer abzuschwächen versprach…

Wie Merkels Trick auseinanderfiel und wie es dazu kam, dass die europäische Integration, wie wir sie kennen, endete, kann hier nicht im Detail nachgezeichnet werden… (es folgt eine lange Beschreibung des bekannten Stimmungsumschwungs und der Probleme in Deutschland und Europa)…
Darüberhinaus haben die deutsche Regierung und ihre weitverzweigte Maschine in Brüssel jede Authorität über die Flüchtlingspolitik der Mitgliedsländer verloren mit dem Ergebnis, dass sie jetzt effektiv renationalisiert sind.

Nicht alles, was Deutschland Europa als europäische Politik aufdrängt, wird von anderen EU-Ländern ernst genommen, heute weniger denn je. Um zu vermeiden, der deutschen Kanzlerin öffentlich zu widersprechen, ihr Ansehen in ihrer heimatlichen Öffentlichkeit zu beschädigen und Vergeltung dafür zu provozieren, schweigen europäische Anführer und wahren für sich selbst die Option, ihr eigenes Ding zu machen, wenn es schließlich unvermeidlich wird, etwas zu tun. Sich gegenseitig zu helfen, das Gesicht zu wahren, ist die erste und oberste Verpflichtung für die Mitgliedschaft im Club europäischer Regierungschefs, bei weitem wichtiger als die Verfolgung gemeinsam beschlossener Politik, sofern es diese überhaupt gibt….
Britische Wähler verfolgen die europäische Politik nicht eng genug, um die subtilen Unterschiede zwischen europäischem Anschein und europäischer Realität zu erkennen, wie sie von europäischen Regierungen gepflegt werden, und nicht die ausgeklügelten Techniken, mit denen man von einem zum anderen und wieder zurück kommt. Als sie von der Flüchtlingspolitik hörten, die der deutschen Öffentlichkeit von der Merkel-Regierung als europäische Politik verkauft wurde, müssen sie befrüchtet haben, dass sie früher oder später auch von ihrem Land  wird übernommen werden müssen…Der Slogan „Die Kontrolle zurück gewinnen“ der Leave-Kampagne muss in einem erheblichen Maß gelesen werden als ein Wunsch, nicht den mysteriösen Eigentümlichkeiten einer deutschen Regierung unterworfen zu sein, die von ihrem politischen System mit beinahe grenzenloser Manövrierfreiheit ausgestattet ist und der von einer geschickt in die Ecke gedrängten Opposition erlaubt wird, ihre heimischen Bedürfnisse als europäische Interessen darzustellen, die von europäischen Werten gespeist werden…
Die Aussicht, mit der Art und Weise mitspielen zu müssen, in der Deutschland mit seiner  besonderen politischen, demografischen und Arbeitsmarktlage sich entschieden hatte, das internationale Recht zu interpretieren, mit Neuinterpretation, wann immer es deutsche Wirtschafts- und politische Interessen erfordern, war ohne Zweifel eine gewichtige Kraft hinter dem historischen Schlag für die gewohnte europäische Integration, die der Brexit war.
Kommentare:
  • Die Passagen über das Verhältnis der europäischen Regierungen (gegenseitige Hilfe beim Gesichtwahren ist die höchste Pflicht, echte Gemeinsamkeit aber die Ausnahme) sind einfach zu gut, um erfunden zu sein: That’s it!
  • Streecks Sicht auf den Brexit und die deutsche Rolle dabei ist kompatibel bzw. in großen Teilen deckungsgleich mit derjenigen, die Emmanuel Todd in einem langen Interview dargelegt hat. Todd spannt aber zeitlich und geografisch einen viel größeren Zusammenhang auf.
  • Auch Streeck weist auf die ungeheuer autoritäre Art und Weise hin, in der Deutschland gewohntheitsmäßig regiert wird: „schnelle und unvorhersehbare 180-Grad-Kehren„,“Abwesenheit einer Opposition„, harte Worte wie bei Gertrud Höhler.
    Für Deutsche, die sich von klein an an diesen autoritären Stil und den allgegenwärtigen illiberalen Moralismus gewöhnt haben, klingt das befremdlich oder gar absurd, aber in liberaleren Gesellschaften wittert man das allgegenwärtige deutsche Von-Oben-nach-Unten-Denken sehr intensiv. Besonders in England:
    „Es ist nicht das Ding der Engländer, den Deutschen zu gehorchen“ (E. Todd).
  • Todds Prognose von 1990, also vor dem Euro, dass  die Einwanderungsfrage Europa zur Renationalisierung zwingen  könnte, bleibt bemerkenswert hellsichtig.Streeck hat zwar heute viel mehr Durchblick als der deutsche Mainstream, aber gleichzeitig einen viel kürzeren Atem als Todd.
  • Dieser Meinungsbeitrag aus dem Telegraph (einem Tory-Blatt) vom März passt exakt zu Streecks Analyse.
  • Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass Deutschland in Europa zunehmend isoliert ist, was die „ethnozentrische“, deutschtümelnde Rechthaberei seiner Eliten aber nicht mindert, sondern eher steigert. Es hat sein Blatt einfach extrem überreizt und muss irgendwann die Hosen runterlassen.
  • Wenn es so weit ist, würde ich nicht gerne derjenige/diejenige sein wollen, der/die  vor das entmündigte und betrogene Volk treten muss. Genau deshalb geht es weiter wie gehabt, bis es nicht mehr weiter geht.Man erhöht einfach den Einsatz und zockt weiter, was die Schlussrechnung nicht kleiner macht.
  • Der Brexit könnte weitere Überraschungen bringen.Das ist eine ganz heiße Kiste, die sich nicht ewig schönschreiben lässt.

 

Im sozial schwierigen Bezirk

Am 18. Juli ist folgendes Interview im Spiegel [1] und zeitgleich auch im Onlineportal uebermedien.de [2] erschienen:

Schwimmbäder

Dieser Blogbeitrag widmet sich vor allem einer Antwort aus diesem Interview:
Frage: „Es gibt aber auch Fälle, wo nicht nur einer die andere zufällig unsittlich berührt hat. Auch mit Beteiligung von Flüchtlingen.“
Antwort von Matthias Oloew, Unternehmenssprecher der Berliner Bäder:
„Ja, gibt es. Zum Beispiel der Fall in München, als sich jugendliche Flüchtlinge an Mädchen rangemacht haben sollen in einem Außenbecken eines Schwimmbades, das in einem sozial schwierigen Bezirk liegt.“

Die Übergriffe

Der Fall, um den es ihm hier offensichtlich geht, hat im Januar im Michaelibad im Münchner Stadtteil Berg am Laim stattgefunden. Die Süddeutsche Zeitung [3] hat berichtet:Michaelibad_SZ

Was Oloew als „an Mädchen rangemacht“ bezeichnet, war ein eindeutiger sexueller Übergriff. Der Münchner Merkur [4] griff bei der Tatbewertung nicht so hoch wie die Süddeutsche Zeitung, benannte aber syrische Flüchtlinge als Täter, ebenso die WELT [5]. In der Folge gab es noch mehrfach ähnliche Übergriffe [6][7][8]. Diese Übergriffe an sich, die Abwiegelung in den Berichten durch begleitende Anmerkungen und angebliche Umfrageergebnisse sollen nicht Thema dieses Beitrags sein, obwohl sie sich offensichtlich in eine bundesweite Serie ähnlicher Vorfälle einreihen. Ebenso soll das Für und Wider einer Nennung der Täterherkunft [9] hier nicht nochmals thematisiert werden.
Nein, hier geht es in erster Linie um die Frage, wie sachlich fundiert die Behauptung ist, dass das betroffene Schwimmbad in einem „sozial schwierigen Bezirk“ liegt, und was das mit den Taten zu tun haben könnte.

Der Bezirk

Auf der nachfolgenden Karte [10] erkennt man den Ostpark in der Mitte, an seinem Nordrand das Michaelibad, um das es in den Berichten geht:

LagenKarte

Nördlich und östlich des Michaelibads liegt ein „bürgerliches“ Wohngebiet  des Stadtteils Berg am Laim. Westlich des Ostparks ein „bürgerliches“ Wohngebiet von Ramersdorf. Am Südrand des Ostparks sind gelb die als „einfach“ eingestuften Wohngebiete von Neuperlach Nord zu sehen. Die Wohnungspreise sind übrigens im gesamten Bezirk nicht „einfach“, sondern happig [10].

Ich wohne hier

Wie der Zufall so will, wohne ich seit 17 Jahren in einer Straße, die in die oben gezeigte Karte eingezeichnet ist. In dieser ganzen Zeit habe ich mich dort sicher bewegt, bin zu jeder Tages- und Nachtzeit sicher U-Bahn gefahren und von einer der beiden eingezeichneten U-Bahn-Stationen „Michaelibad“ oder „Innsbrucker Ring“ zu Fuß ca. eine Viertelstunde nach Hause gegangen. Meine 4 Kinder gehen zu Fuß in Schulen und Kindergärten, die auf der Karte abgebildet sind und besuchen am Nachmittag Freunde überall auf der Karte, auch im „gelben“ Neuperlach. Ich bin in Elternbeiräten und sonstigen Schulvereinen aktiv, und weiß deshalb über die Sicherheitslage in den Einrichtungen und auf den Schulwegen subjektiv gut Bescheid. Auch von zahlreichen Freunden und Bekannten, die im Bezirk wohnen, habe ich nie gehört, dass in diesem Bezirk ein erhöhtes Risiko besteht, Opfer von Gewalt im Allgemeinen oder von sexueller Gewalt zu werden.
Kurz: die Sicherheitslage war hier für ein Wohnviertel einer Millionenstadt bisher so gut, dass man nur hoffen kann, dass sie so gut bleibt.

Die Kriminalstatistik

Wer eine Schwäche hat für Fakten, nutzt natürlich diese Gelegenheit, das oben beschriebene subjektive Sicherheitsgefühl mit harten Zahlen zu vergleichen. Das sagt die offizielle Kriminalitätsstatistik für München, die beiden auf der Karte gezeigten Stadtteile und Berlin:

Tabelle 1 Kriminalstatistik 2015
Absolute Fallzahlen
München Berlin
Gesamt Ramersdorf-Perlach Berg am Laim Gesamt
Einwohnerzahl
Ende 2014
1.430.000 110.000 44.000 3.470.000
Alle Straftaten 133 670 4 883 3 226 569.549
Rohheitsdelikte 14 348 748 729 60.287
Davon schwere und gefährliche Körperverletzung 3 044 10.029
Davon Raub, räuberische Erpressung, … 560 5.407
Diebstahl ingesamt 33463 1775 964 267.123
Davon schwerer Diebstahl 11.377 644 325 114.316
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung 717 56 20 2.792
Straftaten gegen
das Leben
30 1 0 193
davon Mord+Totschlag 23 <=1 0 112
Quelle [11] [12] [12] [13]

So richtig aussagekräftig und vergleichbar werden diese Zahlen erst dann, wenn man sie auf die Einwohnerzahlen [14][15] bezieht:

Tabelle 2
Kriminalstatistik
2015
umgerechnet auf 100.000 Einwohner
München Berlin Deutsch-
land
Häufigkeit
Berlin / München
Gesamt Ramers-
dorf-
Perlach
Berg am Laim Gesamt Gesamt
Alle Straftaten 9348 4439 7331 16413 7796 175%
Rohheitsdelikte 1003 680 1657 1737 942 173%
Davon schwere und gefährliche Körperverletzung 213 289 157 135%
Davon Raub, räuberische Erpressung, … 39 156 55 398%
Diebstahl ingesamt 2340 1614 2191 7698 3059 328%
Davon schwerer Diebstahl 796 585 739 3294 1397 414%
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung 50 51 45 80 57 160%
Straftaten gegen
das Leben
2,1 0,9 0 5,6 3,7 265%
davon Mord+Totschlag 1,6 <=0,9 0 3,2 2,6 200%
Quelle Tabelle 1 Tabelle 1 Tabelle 1 [16] Tabelle 1

Fazit: Die Bezirke Ramersdorf-Perlach und Berg am Laim liegen bei fast allen hier betrachteten, für das persönliche Sicherheitsgefühl der Einwohner wichtigen Delikten im oder sogar unter dem Münchner Durchschnitt. Insbesondere das Risiko sexueller Übergriffe liegt auch niedriger als im Bundesdurchschnitt.
Es handelt sich also nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv (und vor allem nach Berliner Maßstäben!) um alles andere als einen kriminellen Bezirk. Wenn Teile des  Bezirks bzw. seiner Einwohner „sozial schwierig“ (auf Deutsch: relativ arm) wären, würde dieser objektive Befund umso mehr für sie sprechen.

Das Schwimmbad

Das Michaelibad kenne ich ebenso lange, wie ich in diesem Stadtteil wohne. Es ist ein großes und beliebtes [17] Münchner Hallenbad mit mehreren Becken, einer Rutsche, Whirlpools, einem Dampfbad und dem in den Zeitungsberichten erwähnten Außenbecken. Daneben gibt es noch (separat zugänglich) einen Saunabereich und ein großes Freibad [18]. In den vergangenen 17 Jahren war ich dort regelmäßig und gerne Schwimmen, mit und ohne Kinder.
Ich habe aber mitbekommen, dass andere dort weniger gern zum Baden gehen. Bekannte nannten das gechlorte Wasser als Grund, dass wir lieber zusammen in ein Bad vor den Toren der Stadt in Ottobrunn fahren sollten, wo es eine Ozon-Wasseraufbereitung gebe. Münchner der älteren Generation haben mir gegenüber offen ausgesprochen, dass es „für ihren Geschmack dort zu viele Ausländer“ gebe. Ich habe immer vermutet, dass die erste Begründung die politisch-korrekte Variante der zweiten sein könnte. Die Älteren sind ehrlich, was ich gut finde, auch wenn ich ihre Bedenken in diesem Fall nicht teile. Tatsächlich sind türkisch- und russischstämmige junge Leute im Bad gut vertreten [8]. Ein auswärtiger Besucher von mir hat es nach einem Besuch des Bades wie folgt zusammengefasst: „Es ist wie überall sonst auch: im Dampfbad sitzen die Russen“.
Für mich war das nie ein Grund das Bad zu meiden. Übergriffe irgendeiner Art habe ich in 17 Jahren weder erlebt noch auf Umwegen mitbekommen. Insbesondere  sexuelle Übergriffe waren nie ein Thema. Man vergleiche dazu in der Kriminalstatistik oben „Übergriffe gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ im Stadtteil Berg am Laim, in dem das Bad liegt: 20 Fälle im ganzen Stadtteil im Jahr 2015, leicht unterdurchschnittlich für die Einwohnerzahl. Probleme im Michaelibad hätten sich hier niederschlagen müssen, was sie aber nicht taten.

Tatrelevanz

Wenden wir die Richtlinie 12.1 des Deutschen Presserats [9] Richtlinie121doch ausnahmsweise statt auf die Täter einmal auf den „Bezirk“ an und beantworten die beiden folgenden Fragen:

  1. Gab es bei diesen Taten einen begründbaren Sachbezug für die Erwähnung des Bezirks?
  2. Könnte die Nennung des Bezirks Vorurteile gegen Minderheiten schüren?

Die Täter hatten in allen Fällen [3][4][5][6][7] als „Flüchtlinge“ mit dem Bezirk nichts zu tun und auch nichts mit den russisch- und türkischstämmigen Einwohnern, die das Bad sehr schätzen. Wie Quelle [6] zeigt, sind sogar mindestens 2 Opfer als französische Austauschschülerinnen nur vorübergehend im Bezirk gewesen. Es ist also offensichtlich, dass es keine relevante Beziehung der Taten zum „Bezirk“ gibt und Frage 1 damit eindeutig mit ‚Nein‘ zu beantworten ist.
Frage 2 ist dagegen tendenziell mit ‚Ja‘ zu beantworten, weil ja gewisse Vorurteile gegen die ortsansässigen  „Ausländer“ im Michaelibad bestehen, die aber objektiv nicht ohne Weiteres begründet sind, wie ich oben bereits diskutiert habe. Solche Vorurteile werden dadurch geschürt, dass die sexuellen Übergriffe durch Flüchtlinge mit dem Bezirk in Zusammenhang gebracht werden.

Warum hat Herr Oloew, der Pressesprecher der Berliner Bäderbetriebe, also diesen Zusammenhang ohne jeden Sachbezug in wenigen lässigen Worten hergestellt?

Der eigentliche Zweck und die Nebenwirkungen

Es lässt sich relativ leicht erklären, welchen Zweck die Nennung des Bezirks als „sozial schwierig“ in diesem Fall verfolgt:

  1. Beruhigung des durchschnittlichen Lesers:
    Weil die meisten Deutschen (logischerweise) nicht das Gefühl haben, in einem sozial besonders „schwierigen Bezirk“ zu leben, wird ihre Sorge vor solchen Übergriffen reduziert, wenn ein solcher Fall einem entsprechenden Bezirk zugeordnet wird. Da entsteht leicht die Illusion, dass so etwas nur da passiert, wo es sowieso soziale Schwierigkeiten gibt. Dass das eine (der Politik willkommene) Illusion ist, zeigt die Kriminalstatistik in diesem Fall.
  2. Stigmatisierung des betroffenen Bezirks und seiner Einwohner:
    Einwohner eines betroffenen Bezirks werden sich über solche für sie bisher ungewohnten Übergriffe eher nicht öffentlich beschweren, wenn sie befürchten müssen, mit einem „sozial schwierigen“ Bezirk in Verbindung gebracht zu werden.

Die Nennung des Bezirks dient also ganz offensichtlich dem Hauptzweck, die Politik vor dem Unmut der Bürger über die Folgen einer verfehlten Flüchtlingspolitik zu schützen. Für dieses Ziel ist es (im Gegensatz zu sonst hochgehaltenen Prinzipien) in Ordnung, ohne faktische Grundlage auch Vorurteile gegen einen Bezirk und in ihm unauffällig lebende Bevölkerungsgruppen subtil zu schüren.
In dieser Konstellation muss man sich dann auch nicht wundern, wenn genau solche Minderheiten die schlimmsten Befürchtungen haben, dass Probleme mit den Neumigranten ihre eigene Lage in der Gesellschaft verschlechtern. So ist es bekannt, dass Deutschrussen bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg besonders häufig AfD gewählt haben [21] und dass die „deutschen Ausländer“ jetzt verstärkt Angst um ihre Integration haben [22].

Warum über Vergewaltigung reden?

Es wurde wegen des Verdachts einer Vergewaltigung ermittelt, erwiesen ist sie keineswegs. Die Bewertung auch im Titel des SZ-Beitrags [3] erscheint etwas reißerisch. Ein anderer Bericht [4] war von Anfang an bei der Tatbewertung wesentlich zurückhaltender. Ein Polizeipraktiker hat mir gegenüber privat auch früh die Ansicht geäußert, dass das Ermittlungsverfahren wahrscheinlich im Sande verlaufen wird. Tatsächlich ist eine vollendete Vergewaltigung in einem Schwimmbad wegen der zahlreichen Zeugen und der Aufsicht eher unwahrscheinlich, die meisten ähnlichen Übergriffe dürften deshalb über Belästigungen oder Nötigungen nicht hinauskommen, auch wenn diese recht  zahlreich auftreten. Die Konzentration der Debatte auf die wenigen Fälle einer Vergewaltigung erlaubt es deshalb, das tatsächliche Ausmaß der Probleme in Schwimmbädern herunterzuspielen.
Das ist so ähnlich, wie wenn man die Sicherheitslage in einem Stadtteil allein auf der Basis der eher seltenen Fälle von Mord- und Totschlag diskutiert. Ein solches Vorgehen würde beispielsweise die Sicherheitslage im Stadtteil Berg am Laim als rundherum rosig erscheinen lassen, siehe Tabelle 1. Dass sie das nicht ist, zeigt zumindest in Tabelle 1 für das Jahr 2015 allein die Häufigkeit der Vorfelddelikte, z.B. der Rohheitsdelikte wie Körperverletzung und Raub. Diese häufen sich in Berg am Laim vor allem im Nachtleben im „Kunstpark“ am Ostbahnhof, weitab vom Michaelibad, und führen dann in anderen Jahren regelmäßig auch zu Todesfällen [19][20].
Wer bei sexueller Belästigung in Schwimmbädern nur über die Extremfälle wie Vergewaltigung spricht, verharmlost das tatsächliche Problem mit Hilfe der Statistik kleiner Zahlen.
Umgekehrt muss auch jeder, der sexuelle Übergriffe geringerer Tragweite unsachlich und hetzerisch als Vergewaltigung bezeichnet, wissen, dass er dieser Strategie der Verharmlosung unterstützt, weil jede nicht bestätigte Vergewaltigung auch genutzt werden kann, um wirklich vorkommende Übergriffe gleichzeitig als Hirngespinst zu diffamieren. Es gibt letztlich keine bessere Strategie als eine offene und sachliche Berichterstattung. Die fahrlässige oder gar wahrheitswidrige Verbreitung von Gerüchten ist kein Gegenmittel gegen eine beschönigende oder auch verdummende Berichterstattung [23].

Der Verteiler für Vergewaltigungen

Nachdem die generelle Zielrichtung des Interviews verstanden ist, wollen wir uns dem Leitmotiv des Interviews zuwenden: „Bitte nehmen Sie mich in Ihren Verteiler für Vergewaltigungen auf“. Dieses steht nicht nur prominent in der Überschrift [1][2], sondern wird im Interview auch frühzeitig eingeführt, dann in einem Spannungsbogen bis zur letzten Frage gehalten, wo der Interviewer darauf zurückkommt: „Wie ist die Sache mit dem MDR ausgegangen?“. Damit kann es im letzten Satz ganz lässig und mit Knalleffekt abgeschlossen werden. Die Geschichte von diesem Verteiler ist wie aus dem Lehrbuch für maximale Wirkung regelrecht in das Interview hineinkomponiert.
Es bleibt eine einzige Frage: Gibt es diesen MDR-Kollegen wirklich, der so scharf auf Vergewaltigungen in Schwimmbädern ist? Eine erste Antwort liefert die Google-Suche nach „site:mdr.de Vergewaltigung“. Was man findet, ist eine ganz harmlose und ausgewogene Berichterstattung über echte und auch vorgetäuschte Vergewaltigungen. Jeder kann sich selber aussuchen, ob es den MDR-Mann vielleicht gar nicht gibt oder ob er das mit dem Verteiler mit einem Grinsen im Gesicht gesagt hat, weil er genau wusste, dass es einen solchen Verteiler kaum geben wird. Im ersten Fall wäre die Geschichte gut erfunden, im zweiten nur grob falsch dargestellt. Raffiniert!

Nachtrag 17.08.2016, das passende Gezwitscher dazu:MDRtwittert

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass an mehreren Punkten klar erkennbar ist, dass das Interview in ausgeklügelter Weise und gekonnt die öffentliche Debatte beeinflussen will. Die Beeinflussung geht in Richtung einer Beruhigung der breiten Öffentlichkeit, gerne auch auf Kosten harmloser Bezirke und Minderheiten. Daneben schafft es das Interview, Berichte über solche Vorfälle abzuschrecken. Abgeschreckt werden Betroffene und Schwimmbadbesucher durch die subtile Drohung, unbegründet, aber wirksam mit einem „sozial schwierigen Bezirk“ in Verbindung gebracht zu werden. Journalisten, die über ähnliche Vorfälle berichten, müssen dagegen mit dem Verdacht rechnen, sensationsgierig solche Vorfälle zu suchen und grob aufzubauschen. Selbstverständlich liegt beides voll im Interesse Berlins, das nun fürwahr genug „sozial schwierige“ Bezirke vor der Haustür haben soll, um sie nicht in anderen Städten und Bundesländern erfinden zu müssen.

Quellen

[1] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/schwimmbaeder-und-fluechtlingskrise-interview-a-1103552.html
[2] http://uebermedien.de/6532/bitte-nehmen-sie-mich-in-ihren-verteiler-fuer-vergewaltigungen-auf/
[3] http://www.sueddeutsche.de/muenchen/ramersdorf-jaehrige-schuelerin-im-michaelibad-sexuell-missbraucht-1.2813802. Gezeigt ist ein Scan des Print-Artikels im Lokalteil (R3) der SZ vom 12.1.2016.
[4] http://www.merkur.de/lokales/muenchen/ost/maedchen-belaestigt-15-jaehriger-michaelibad-festgenommen-6023833.html
[5] http://www.welt.de/vermischtes/article150889697/Polizei-ermittelt-wegen-Vergewaltigung-durch-Syrer.html
[6] http://www.sueddeutsche.de/muenchen/neuperlach-franzoesische-austauschschuelerinnen-im-michaelibad-sexuell-belaestigt-1.2849383
[7] http://www.sueddeutsche.de/muenchen/polizei-zwei-schuelerinnen-im-michaelibad-belaestigt-1.2927442
[8] http://www.merkur.de/lokales/muenchen/ost/jugendliche-belaestigen-maedchen-neuperlacher-schwimmbad-6263420.html
[9] http://uebermedien.de/6054/auch-deutsche-unter-den-taetern/
[10] http://immobilien-kompass.capital.de/muenchen#
[11] http://www.muenchen.de/aktuell/2016-05/kriminalstatistik-muenchen-2015.html
[12] http://www.muenchen.de/rathaus/dam/jcr:6291ac42-463d-4267-b436-c4b1a3313454/jt160904.pdf
[13] http://www.berlin.de/polizei/_assets/verschiedenes/pks/polizeiliche-kriminalstatistik-berlin-2015.pdf
[14] http://de.statista.com/statistik/daten/studie/164790/umfrage/einwohnerzahl-deutscher-millionenstaedte/
[15] https://de.wikipedia.org/wiki/Ramersdorf-Perlach, https://de.wikipedia.org/wiki/Berg_am_Laim
[16] http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/05/pks-und-pmk-2015.html
[17] http://www.focus.de/regional/muenchen/schwimmbaeder-in-muenchen-das-sind-die-beliebtesten-muenchner-hallenbaeder_id_4985855.html
[18] http://www.muenchen.de/freizeit/orte/119388.html
[19] http://www.merkur.de/lokales/muenchen/stadt-muenchen/straftaten-meisten-passiert-2657436.html
[20] http://www.tz.de/muenchen/stadt/berg-am-laim-ort43346/nach-auseinandersetzung-kultfabrik-36-jaehriger-gestorben-6017014.html
[21] http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.die-afd-hochburg-pforzheim-alternative-fuer-russlanddeutsche.51efff3c-6783-47c4-9828-b597daeb9994.html
[22] http://www.pressreader.com/germany/muenchner-merkur/20160730/281599534868647
[23] http://www.rolandtichy.de/daili-es-sentials/ein-maerchen-aus-koeln/

Nachtrag 19.06.2017:
Die kleine lokale Stichprobe im Michaelibad geht weiter: heute berichtet die Süddeutsche wieder über einen sexuellen Übergriff am Wochenende: kein Flüchtling. Der Artikel erwähnt einen weiteren im Spätsommer 2016: damals war es wieder ein Afghane. Auffällig ist in beiden Fällen die Betonung eines Rückgangs der Fälle (nach dem März 2016) und die deutliche und sogar intensive Erwähnung der Täterherkunft, Zitat:  „60 Prozent der ermittelten Täter sind keine Deutsche“.  Letzteres steht im Widerspruch zur einst offiziellen Politik der Süddeutschen Zeitung. Nicht nur der Pressekodex hat sich geändert, sondern er wird auch anders angewendet, wie die SZ eingesteht.
Inzwischen habe ich bei einer Plauderei mit einem Mitarbeiter der Bäderbetriebe auch erfahren, dass das Michaelibad intern wegen dieser Art von Problemen nicht erst seit gestern einen Ruf als ihr schwierigstes Bad hat. Die Leute, die das Bad meiden, tun das demzufolge nicht ohne eine rationale Grundlage. Man lernt also dazu, wenn man an einem solchen Thema dranbleibt.

Deutschland im manischen Modus

Brexit, was nun? Der Historiker und Demograf Emmanuel Todd äußert sich exklusiv in einem langen  Gespräch im Atlantico (Text auch hier), um in der Tiefe die Bedeutung der britischen Abstimmung zugunsten eines Austritts aus der Europäischen Union zu analysieren. Ich gebe das hier in mehreren Teilen wieder.

Teil 1: „Den Engländern folgen“

Teil 2: „Das Ende des Westens“

Teil 3: „Einwanderung als Chaos heißt das Projekt Deutschlands

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Atlantico: Sie erwähnen das Einwanderungsproblem, das zentral war in der Abstimmung über den Brexit. Ist das kein Zeichen, dass diese Abstimmung (für den Brexit) durch andere Faktoren ermöglicht wurde als die Rückkehr zur politischen Freiheit?

Emmanuel Todd : Laut den Wahlnachfragen war die erste Motivation der Engländer, die Entscheidungsmacht nach London zurückzuholen: das ist ein demokratisches Erfordernis. Die zweite Motivation war tatsächlich die Einwanderungsfrage. Aber das ist nicht dieselbe Einwanderung wie bei uns, es geht um die Polen. Die Regeln der Gemeinschaft geben den Europäern das Recht, sich auf dem Kontinent frei zu bewegen.

Das ist eine Frage, über die wir klar sprechen müssen. In diesem Kontext bin ich besonders froh, dass ich mich letztes Jahr von der französischen politisch-medialen Klasse habe scharf durchbraten lassen, weil ich in meinem BuchWer ist Charlie?“ die Idee verteidigt habe, dass unsere islamischen Landsleute ein Recht auf Frieden haben. Das gibt mir ideologisch freies Feld, um über Einwanderung ausgewogen zu sprechen, ohne dass ich mich wie ein  Anhänger von Le Pen behandeln lassen muss. Ich bin ein vernünftiger Freund von Einwanderung: Einwanderung ist eine gute Sache. Die Assimilation der Eingewanderten ist eine gute Sache. Man muss den Leuten Zeit geben und zugeben, dass es nicht gut ist, den Islam zu verteufeln.
Für die Verteidigung dieser schlicht und einfach humanen Konzeption habe ich die Hälfte meiner Freunde verloren und mich von unserem Premierminister Manuel Vals als schlechten Franzosen behandeln lassen. Aber jetzt kann und muss ich sagen:

Das Recht von der Einwanderung ohne Bremse, das dabei ist sich als europäische Ideologie zu konstituieren, die die Rechte der mobilen Ausländer, polnische oder mittelöstliche, über diejenigen der Landsleute stellt, die also die Bevölkerungen in einen Zustand der Unsicherheit versetzt, ist  ein Anti-Humanismus, der sich hinter guten Gefühlen versteckt.

In den Menschenrechten, in der Basis der Demokratie selbst, die national sein muss, um funktionieren zu können, gibt es implizit ein Recht auf territoriale Sicherheit, ein Recht auf die Regulierung der Einwanderung. Indem man dieses Recht verneint, organisiert man in Wirklichkeit den Absturz der westlichen Welt in die Barbarei. Es ist verantwortungslos zu behaupten, dass es ausländerfeindlich sei, Einwanderung zu regulieren. Auch da haben die Engländer Recht.

Aber hier befinden wir uns im frontalen Zusammenstoß mit einem strukturell wilhelminischen, abenteuerlichen Deutschland, das den Kontinent destabilisiert.

Die fundamentale Sorge Deutschlands – man muss seine Presse lesen, wir können das dank Google Translate – ist es, Einwanderer in außerordentlichen Mengen anzuziehen, obwohl das Land es bereits nicht geschafft hat, die türkischen Bevölkerungen korrekt zu assimilieren. Das Loch, das sich am Fuß seiner Alterspyramide auftut, ist seine Obsession. Für die Deutschen ist die Personenfreizügigkeit in Europa und darüber hinaus essentiell da unersetzlich für seine Einwanderungspolitik. Es will, ich habe es schon gesagt, die qualifizierten jungen Leute absorbieren, die in der Eurozone der Arbeitslosigkeit ausgeliefert sind. Es will über das hinaus, was anthropologisch vernünftig ist, Bevölkerungen aus dem Mittleren Osten absorbieren, deren Rate an Ehen unter Cousins und Cousinen bei 35% liegt.

Einwanderung als Chaos heißt das Projekt Deutschlands.

Ich würde gerne jedes Missverständnis vermeiden. Ich bin kein Befürworter radikaler Konflikte, ganz im Gegenteil. Für mich ist das Offensichtlichmachen dieser Widersprüche eine Hilfe bei der Bewusstseinsbildung, um zu vermeiden, dass schwere Konflikte heranreifen, damit Franzosen, Briten, Deutsche, Italiener, Spanier und Schweden sich, ohne die anderen zu verlieren, einig werden über

  • die Perspektiven einer vernünftigen Einwanderung
  • die friedliche Koexistenz der Nationen
  • die Verteidigung der Demokratie

Es reicht vor allem nicht aus, im Wesentlichen zu antworten, dass „Europa die Demokratie ist“. Seien wir ehrlich: ohne die Engländer ist Europa schon heute nicht mehr der Ort der Demokratie.

Schauen wir in die 1930er Jahre zurück: Salazar, Franco, Mussolini, Hitler und in Osteuropa, mit Ausnahme der Tschechoslowakei, auch nur Diktaturen. Das Leugnen führt zu einem brutalen Realitätsschock. Wenn die Probleme nicht angegangen werden, wird es natürlich zu einer Rückkehr der Konflikte kommen.

Kommentar:

  • Bravo, Emmanuel Todd, c’est très bien dit!!!
  • Vor einigen Wochen hat sich Todd erstmals öffentlich zu Merkels Einwanderung geäußert. Der Tenor ist derselbe, aber inzwischen hat er die Aussage in einen größeren Kontext eingebettet.

Teil 4: Brexit – wie geht es weiter?

Brexit – den Engländern folgen

Brexit, was nun? Der Historiker und Demograf Emmanuel Todd äußert sich exklusiv in einem langen  Gespräch im Atlantico (Text auch auf diesem Blog), um in der Tiefe die Bedeutung der britischen Abstimmung zugunsten eines Austritts aus der Europäischen Union zu analysieren. Ich gebe das hier in mehreren Teilen wieder.

Teil 1: „Die 4. Etappe, nach dem Erwachen von Deutschland, von Russland und des Vereinigten Königreichs, muss das Erwachen Frankreichs sein. Den Engländern zu folgen, entspricht unserer revolutionären Tradition.“

e-todd

Atlantico: Am 23. Juni hat sich das Vereinigte Königreich entschieden, aus der Europäischen Union auszutreten. Emmanuel Todd, man kann sich vorstellen, dass Sie sehr zufrieden sind mit diesem Ergebnis.

Emmanuel Todd : Das ist offensichtlich, aber nicht wirklich das Problem. Ich interessiere mich als Historiker der französischen Schule von Fernand Braudel und meines Lehrers Emmanuel Le Roy-Ladurie für das, was auf lange Sicht passiert. Ich versuche, mich der Kurzfristigkeit der Aufregung der Politiker zu entziehen.

Der Brexit gehört zu einem globalen Phänomen, über das ich arbeite und das alle am weitesten entwickelten Gesellschaften betrifft, einschließlich Amerika, Kanada, Australien, Japan: die Divergenz. Die Demografen wissen, dass die Fruchtbarkeiten sehr verschieden sind, dass manche Bevölkerungen sich reproduzieren, dass andere das nicht schaffen. Die Arbeiten von Atkinson und von Piketty zeigen, dass die Geschwindigkeit und das Ausmaß des Anstiegs der Ungleichheiten verschieden sind.

Die Anthropologie der Familienstrukturen erlaubt es, den Ursprung dieser Unterschiede und dieser allgemeinen Divergenz zu verstehen. Was gerade im Zusammenhang mit der Globalisierung passiert, ist nicht nur, dass die nationalen Kulturen Widerstand leisten, sondern dass der Stress und die Leiden der Globalisierung die Gesellschaften dazu bingen, sich nicht mehr zu öffnen und zu konvergieren, sondern im Gegenteil in sich selbst, in ihren Traditionen und anthropologischen Fundamenten die Kraft zu finden, sich anzupassen und neu aufzubauen. Das ist das, was ich beobachte, und zwar über den europäischen Kontext hinaus.

Japan ist in einer Periode der Rückbesinnung auf sich selbst. Die Leute träumen von der Edo-Zeit, in der sich das Land auf autonome Weise entwickelte, ohne dass Europa etwas davon wusste.

Es sind Kräfte derselben Ordnung, die es erlaubt haben, Kandidaten wie Bernie Sanders oder Donald Trump in den Vereinigten Staaten hervorzubringen, die einen Ausstieg aus dem „Washingtoner Konsens“ und aus dem Globalisierungsdiskurs verlangen mit einem Traum der Neugründung der amerikanischen Nation.

In Europa ist das noch interessanter, weil wir ein System von alten Nationen sind. Europa hat diesen Prozess als Erstes gestartet, weil Deutschland zuerst ausgestiegen ist. Die Problematik der Rückkehr der Nation ist Deutschland 1990 durch seine Wiedervereinigung aufgezwungen worden. Das war seine Pflicht, es musste seinen östlichen Teil wieder aufbauen. Es hat eine Art Vorsprung gehabt, der es seit ungefähr 2010 beinahe durch Zufall in seine Vormachtstellung auf dem europäischen Kontinent gebracht hat. Das zweite Land in Europa, das sich nach vielen Wirren auf ein nationales Ideal rückbesonnen hat, ist Russland. Das sowjetische Imperium hat sich aufgelöst, Russland hat zwischen 1990 und 2000 eine Periode furchtbarer Leiden durchlebt, aber die Machtübernahme von Putin hat schließlich diese Rückkehr Russlands zu einem nationalen Ideal verkörpert, Rückbesinnung auf eine neo-gaullistische Idee von Unabhängigkeit. Es hat die Russen 15 Jahre gekostet, um in eine ökonomische, technologische und militärische  Situation zu kommen, in der sie keine Angst mehr vor den Vereinigten Staaten haben müssen. Das ist, was man schrittweise in Georgien, auf der Krim und dann in Syrien feststellen konnte. Man kommt zu einer Situation, in der die westlichen Armeen, die Syrien überfliegen wollen, Russland um Erlaubnis fragen müssen.

Dieses Referendum über den Brexit ist in dieser Logik der Schritt 3:
Die Neuentstehung des Vereinigten Königreichs als Nation.

Parliament

Atlantico: Und was wäre die Besonderheit des Vereinigten Königreichs in dieser Dynamik der Rückkehr zur Nation?

Sie sind nicht die ersten, aber das ist wahrscheinlich die wichtigste Etappe, weil es eines der zwei Länder ist, die die Globalisierung angeführt haben.
Mit Margaret Thatcher hatten sie ein Jahr Vorsprung vor den Vereinigten Staaten bei der neoliberalen Revolution. Sie gehören zu den Ländern, die als erste diese Logik angetrieben haben. Eine anglo-amerikanische Rückkehr zum nationalen Ideal ist wichtiger als das deutsche Heraustreten oder die russische Stabilisierung. Seit dem 17. Jahrhundert wird die ökonomische und politische Geschichte der Welt von der anglo-amerikanischen Welt angetrieben.
Die englische Nation hat zwei kombinierte und widersprüchliche Besonderheiten: Es handelt sich zunächst um die individualistischste und offenste Kultur Europas: das ist das Land, das die politische Freiheit erfunden hat. Dann ist es paradoxerweise auch eine nationale Identität auf ethnischer Basis, die praktisch ebenso solide ist wie die japanische. Wie die Japaner wissen die Engländer, wer sie sind.

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Atlantico: Wenn man ihrem Gedankengang der Rückkehr zur Nation folgt, welches Land ist dann das nächste nach Deutschland, Russland und nun dem Vereinigten Königreich?

Um zu akzeptieren, was ich Ihnen sagen werde, muss man sich von den Gemeinplätzen über England lösen, diese merkwürdigen Engländer, die zweistöckige Busse haben, die links fahren, die Humor haben, eine respektierte Königin, etc. Alles das ist wahr. Aber man muss die Engländer vor allem als Anführer unserer Modernität sehen, in der langen Sicht nach Braudel.
Die industrielle Revolution ist aus England und Schottland gekommen und hat Europa ökonomisch umgestaltet. Die französischen, deutschen, russischen und anderen industriellen Revolutionen sind nur Folgen davon. Aber noch vor der wirtschaftlichen Transformation haben die Engländer unsere liberale und demokratische Moderne erfunden. Der wirkliche Ausgangspunkt war 1688, das, was die Engländer die „Glorious Revolution“ nennen, durch die die parlamentarische Monarchie etabliert worden ist. Wenn sie die „englischen Briefe“ von Voltaire von 1734 lesen, werden Sie seine Bewunderung für die englische Modernität sehen, mit sehr komischen Sachen über die Quaker oder die Abwesenheit eines Sexuallebens bei Newton. 1789 ist es der objektive Traum der französischen Revolutionäre England einzuholen, das Modell der politischen Modernisierung.  Das ist das Modell von Daron Acemoglu und James Robinson in ihrem Bestseller Why Nations Fail, das ich umso lieber akzeptiere, als sie sehr viel Sympathie für Frankreich haben. Sie unterstreichen, dass das, was die französische Revolution gebracht hat, für den ganzen Kontinent von größter Wichtigkeit war, dass unsere Revolution das Ideal der Volksbeteiligung allgemein verbreitet hat. Jedenfalls hat England  die repräsentative Regierung erfunden.
In diesem Kontext ist es nicht unlogisch festzustellen, dass das erste Referendum, das wirklich Konsequenzen für die Europäische Union haben wird, das historische Referendum, im Vereinigten Königreich stattgefunden hat. Ein Referendum ist eine ungewöhnliche Prozedur in England. Aber der Gegenstand dieses Referendums war, das ist ganz klar, dass die erste Motivation der Brexit-Wähler nach den Nachwahlumfragen noch vor der Einwanderung die Wiederherstellung der Parlamentssouveränität war. Denn bis zum Brexit war das englische Parlament nicht mehr souverän, obwohl das absolute Prinzip der politischen Philosophie für die Engländer die Parlamentssouveränität ist.

Ich schließe: logisch betrachtet muss die 4. Etappe nach dem Erwachen Deutschlands, Russlands und des Vereinigten Königreichs das Erwachen Frankreichs sein. Den Engländern zu folgen, entspricht unserer revolutionären Tradition.

Kommentar zu Teil 1:

  • Dass die Parlamentssouveränität ein wichtiger Brexit-Treiber war, ist korrekt. Auf diesen Beitrag hatte ich bereits an anderer Stelle verwiesen.
  • Den Rest von Teil 1 lasse ich einfach mal so stehen. Es ist immer Geschmackssache, wie man die Zukunft aus den großen Linien der Vergangenheit ableitet. Was Todd sieht, ist in der Realität nur eine Möglichkeit, aber eine Sichtweise, die in Frankreichs Opposition, auch bei rechten und linken Souveränisten und Gaullisten viel Unterstützung hat. Die regierenden Sozialisten sind geistig und politisch tot und haben für die Zukunft wenig Bedeutung. Frankreich ist ein Land, das auf Dauer die Unzufriedenheit seiner Bürger und ernsthaften Kritiker (anders als Deutschland) nicht unterdrücken und sich selbst deshalb neu erfinden wird, ohne viel Rücksicht auf das zu nehmen, was ein Hollande heute zusagt.
    Die deutschen Medien täuschen uns über diese Aussicht dadurch, dass sie diese Ideen allein im Front National ansiedeln und wahlweise dämonisieren oder lächerlich machen. Wer sich auf die deutschen Medien verlässt, ist aber verlassen.

Teil 2: Das Ende des Westens

Teil 3: Merkels Deutschland im manischen Modus

Teil 4: Brexit – wie geht es weiter?

 

 

E. Todd über Merkels Einwanderung

Beim Lesen und Übersetzen von Emmanuel Todds Arbeiten habe ich mich in den letzten Monaten mehr als einmal gefragt, was Todd wohl über Merkels „Willkommenskultur“ denkt. Beim wiederholten Googeln danach bin ich jetzt fündig geworden.
In dem Interview, das er ursprünglich mit Atlantico geführt hat, geht es zunächst um innerfranzösische Themen, den aktuellen Streik der CGT und insbesondere seinen vielbeachteten Vorwurf, dass die sozialistische Regierung Hollande die faschistischste französische Regierung seit 1944 sei: „rosa Faschismus“. Er beklagt, dass die Linke in Frankreich nicht mehr links sei und damit auch die liberale Rechte in Schwierigkeiten bringe (In Deutschland beobachten wir ja gerade ein ähnliches Phänomen mit vertauschten Rollen). Der Sozialistischen Partei und Hollande wirft er konkret vor, dass sie sich um den Willen der Wähler in keinster Weise mehr scheren und sogar der Bedeutung von Wahlen und der Meinungsfreiheit ans Leder wollen: „Die sozialistische Partei ist wahrscheinlich gefährlicher für die Meinungsfreiheit als die Rechte„. Dieser Gedanke ist bei ihm nicht neu, sondern findet sich in den letzten 20 Jahren immer wieder in Büchern wie „Nach der Demokratie“ oder „Die ökonomische Illusion“ (dazu demnächst mehr auf diesem Blog). Explizit hatte er früher schon sozialistischen Politikern wie Lionel Jospin und Jacques Delors (früherer Chef der EU-Kommission) antidemokratisches Denken vorgeworfen.

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In der allerletzten Frage des Interviews kommt aber die Merkel’sche Einwanderungswelle zur Sprache:
Die deutsche demografische Schwäche war ein Motor der Entscheidung Angela Merkels, die die massive Ankunft von Migranten im Land begünstigt hat. Der Brexit wird genährt von der Furcht der Briten, dass sie immer mehr innereuropäische Migranten in ihr Land kommen sehen. Sind die demografischen Tendenzen dabei, Rache an der EU zu nehmen?

Die Antwort Emmanuel Todds:
Die Europäische Union war ein verrücktes Projekt, alle Demografen wissen genau, dass die Gesellschaften nicht konvergieren. Es genügt, die Kennzahlen der Fruchtbarkeit zu betrachten. Und wenn es Konvergenz gibt, dann nach unten, hin zum Mangel (an Kindern), außerhalb der Inselchen, die Frankreich, England und Skandinavien sind. Dort wo die Frauen das Recht haben, Kinder und eine interessante Arbeit zu haben.
Die Demografie sagt zunächst, dass die europäischen Nationen immer noch existieren und dass die Vereinigung über die Währung nicht funktionieren wird. Es lohnt sich nicht einmal weiter zu gehen, allein schon deshalb hatte ich das Scheitern des Euro vorausgesagt. Es handelt sich sehr wohl um die Rache der Demografie. Die Variablen der Demografie haben die Eigenheit, langsam aber irreversibel zu sein mit Phänomenen der Beschleunigung, wenn sich Generationenbrüche vollziehen. Das läuft sehr langsam, bevor es offensichtlich wird, aber im Allgemeinen ist es zu spät, wenn es offensichtlich wird, sind die Probleme von einer solchen Massivität, dass keinerlei Migration sie lösen können wird. In Frankreich sieht man es nicht, weil das Land kein demografisches Problem hat. Deutschland ist bei all seiner Rationalität dem kurzfristigen ökonomischen Denken in die Falle gegangen. Es wird das wahre Land der Einwanderung in Europa sein, besessen von seinem Arbeitskräfteproblem. Die Verwüstungen, die durch die Austerität in Südeuropa angerichtet worden sind, spielen unter diesem Gesichtspunkt Deutschland in die Hände, das versucht, die qualifizierten Arbeitskräfte aus Volkswirtschaften in Auflösung zu gewinnen. In Deutschland fehlt praktisch jedes Jahr ein Drittel der Kinder. Aber nun, mit dieser massiven Einwanderung aus Syrien, aus dem Irak und aus Afghanistan, patrilinearen Systemen mit vom Start weg erhöhter Endogamie, wird das für Deutschland nicht zu bewältigen sein. Das wird Phänomene der Segregation, der Schichtenbildung und der Gewalt produzieren. Aber man darf den deutschen Pragmatismus nicht unterschätzen. Die deutsche Gesellschaft wird Möglichkeiten haben, sich zu organisieren, aber der Preis, der zu bezahlen sein wird, wird die Entstehung einer Kastengesellschaft sein, mit einem extrem harten politischen und polizeilichen System. Alles ist möglich.

Mein persönliches Fazit:

  1. Todd kann sich durch die jüngste Entwicklung voll in dem bestätigt sehen, was er 1990 vorausgesagt hat: die Einwanderung wird das Thema werden, bei dem die europäischen Nationen jeweils ihre eigenen Wege suchen und finden werden, weil sie es müssen. Er hat dort schon geschrieben, dass die Demografie sie dazu zwingen wird. Bei aller notwendigen Kritik an einzelnen tagesaktuellen Aussagen führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass er eine unbestechliche langfristige Perspektive und Historie an richtigen Prognosen hat, zu der ihm absolut niemand auch nur das Wasser reichen kann.
  2. Todd hat meine eigenen Überlegungen und Urteile überraschend klar bestätigt:
  3. Fragesteller und der Interviewte gehen davon aus, dass Merkel kurzfristig nicht alternativlos gehandelt hat oder von den Ereignissen überwältigt worden ist. Sie sehen (wie viele andere in der französischen Öffentlichkeit) eine planmäßige Komponente, die in der katastrophalen deutschen Demografie und einem kurzsichtigen wirtschaftlichen Denken begründet liegt.In Deutschland wird dagegen eine überwiegend moralische, heuchlerische Erzählung gepflegt.
  4. Bei der Bewertung seiner Aussagen über die Probleme Deutschlands bei der Integration der Einwanderer aus Syrien, dem Irak und Afghanistan muss man berücksichtigen, dass er in Frankreich den Ruf hat, ein hoffnungsloser Islamversteher zu sein, der die Verantwortung für Probleme immer bei der Mehrheitsgesellschaft suche statt bei den Eingewanderten bzw. dem Islam. Er hält tatsächlich den Islam für zweitrangig und sieht die Ursache eher in den patrilinearen endogamen Familienstrukturen, wie im Zitat auch geäußert. Es ist sicherlich nicht falsch, das zu unterscheiden und auf die genaue Ursache der offensichtlichen Probleme zu verweisen. Und als Provokateur hält er natürlich auch gerne dagegen, wenn eine Mehrheit alle Probleme nur bei einer Minderheit sucht und zum Beispiel die soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung unterprivilegierter Franzosen und Einwanderer, insbesondere auch der jungen Leute, gleichzeitig unter den Teppich kehrt. Entscheidend ist jedenfalls, dass es geradezu absurd wäre, Todd als islamophob hinzustellen.
  5. Merkel und ihre Unterstützer von links und rechts sind wahlweise dumm oder unehrlich über das, was sie tun und was es für die deutsche Bevölkerung in der Zukunft bedeuten wird. Es hilft nicht weiter, diese Dummheit und die Lügen zur besseren Moral zu erklären.
  6. Meine Befürchtung, dass die Massenmigration aus dem Nahen und Mittleren Osten einen autoritären deutschen Polizeistaat hervorbringen wird, der skrupellos eine Gruppe einer ethnisch und sozial fragmentierten Bevölkerung gegen die andere ausspielen wird, ist von Emmanuel Todd voll bestätigt worden: Kastengesellschaft mit einem extrem harten politischen und polizeilichen System. Der weiterhin systematisch nicht aufgeklärte Fall des sogenannten NSU ist vielleicht nur ein erster Vorgeschmack darauf, wie das laufen könnte.
  7. Die deutsche Sozialdemokratie, die das nicht sieht oder nicht sehen will, ist ebenso autoritär und antidemokratisch, wie es Todd den französischen Sozialisten vorwirft.
  8. Eine autoritäre und zumindest teilweise xenophobe, teilweise wirtschaftsliberale  Rechte bietet an und für sich natürlich keine Hoffnung auf eine positive und liberale Zukunft in Deutschland. Das demografische Problem hat sie über Jahrzehnte mitverursacht, durch ihren Ökonomismus, sinnlose Exportweltmeisterei und Sparerei. Ein Teil der autoritären Rechten steht zudem weiter treu an Merkels Seite, leugnet Merkels Verantwortung für die aktuellen Probleme und nutzt diese gleichzeitig für neue Sicherheitsgesetze und Unfreiheiten gegen alle, Staatsbürger und Neueinwanderer gleichzeitig. Ein Teil des oppositionellen Rechtsspektrums stört sich an jedem Individuum, das die „falsche“ Hautfarbe hat, sei es Staatsbürger und gut integriert oder nicht. Das ist weder mit dem objektiven demografischen Problem noch mit meinen Wertvorstellungen kompatibel.
    Die Rechte ist aber gleichzeitig ein Gegengift gegen eine mindestens ebenso autoritäre, verkommene und in Teilen die eigene Nation zutiefst hassende Linke. Gegen eine Linke, die jedes Problem leugnet, das eine so massive Einwanderung aus archaischen Gesellschaften darstellt, und die wirklich jede Thematisierung von Problemen (die nicht von oben angestoßen wird) mit der Nazi-Keule beantwortet. Es bleibt mir gleichzeitig ein Mysterium wie man sich für „links“  halten und gleichzeitig die schlecht bezahlten Schichten der arbeitenden Bevölkerung so verachten kann, die durch Masseneinwanderung am meisten zu verlieren haben und sich deshalb auch am heftigsten dagegen wehren.
  9. Für einen eigentlich sozialliberalen Familienvater mit 4 Kindern bleibt in dieser toxischen politischen Konstellation die Frage nach einer Auswanderung auf der Tagesordnung, als letzte Option der Flucht vor einem autoritären Verfall der Freiheit oder sogar offenem Bürgerkrieg. Vorbild ist mir mein Ur-Ur-Großvater, der 1850 (nach dem Scheitern der Badischen Revolution) in die Westschweiz emigriert ist und den französischsprachigen Zweig meiner Verwandtschaft begründet hat. Um es ganz klar zu sagen: es gibt Nationen, die besser in der Lage sind, Einwanderung in ihrem Sinne zu steuern und dann, im zweiten Schritt, die Eingewanderten fair zu behandeln und wirklich voll als Staatsbürger zu akzeptieren. Niemand ist auf Gedeih und Verderb verpflichtet, den Dauermurks, den weltfremde Linksfrömmler (Kein Mensch ist illegal. Grenzen gibt es nicht, Sozialhilfe bei uns aber jederzeit. Geschenkte Menschen) und Rechtsspinner, die nicht neben einem Boateng wohnen wollen, den sie gar nicht kennen, IM ZUSAMMENWIRKEN anrichten.

Erfindung Europas: Europäer und Immigranten

Übersetzung aus dem Buch “L’invention de l’Europe” von E. Todd
Schlusskapitel

Europäer und Immigranten

Das Verschwinden der Makro-Ideologien bedeutet nicht die Auslöschung der fundamentalen Werte von Freiheit und Autorität, von Gleichheit und Ungleichheit. Ursprünglich von den Familienstrukturen getragen strukturieren diese Paare antagonistischer Werte weiterhin zahlreiche soziale Haltungen und organisieren das konkrete Funktionieren der Gesellschaften, nicht nur ihre Träume. Das Verschwinden des Sozialismus zieht nicht das Verschwinden von sozialen Klassen nach sich, das Verschwinden des Nationalismus bedeutet nicht das Verschwinden der Nation. Allein das Verschwinden des Himmelsreiches löst die Gemeinschaft der Gläubigen, die christliche Gruppe, auf. Die Arbeiter- und nationalen Gruppen bestehen weiter als objektive Entitäten, die durch den Beruf und durch die Sprache definiert werden.
Die Untersuchung der industriellen und politischen Transformationen der Jahre 1965-1990 hat die Fortdauer eines autoritären Zuges in bestimmten Gesellschaften zum Vorschein gebracht, der in der Lage ist, den Rückzug der Industrie zu bremsen, das Parteiensystem und die Liebe zum Staat zu stabilisieren, in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz und, was allein die Domäne der Politik angeht, in Italien und Schweden. Die Veränderungen der Jahre 1965-1990 offenbaren in anderen Gesellschaften die Fortdauer eines liberalen Zuges, der als Katalysator sozioprofessionelle oder politische  Entwicklungen besonders schnell macht, in Großbritannien, in Frankreich, in Dänemark, in Spanien, in den Niederlanden. Die Werte von Autorität oder von Freiheit, die die postindustrielle Moderne anführen, werden wahrscheinlich nicht mehr allein von den Familiensystemen getragen. Die Familie spielt eine Rolle, aber man kann vernünftigerweise einer Institution, die so sehr von demografischen Krisen geschüttelt wird, keine übertriebene Fähigkeit zur Transmission zusprechen. Die Schule, die Nachbarschaft und die Unternehmen dienen auch als Mittler. Man kann eine Diffusion der traditionellen Werte in die Gesamtheit des sozialen Körpers postulieren. Die ideale Gesellschaft, die endlich realisiert wurde, ist ebenso sicher durch diese Werte strukturiert wie die erträumte Gesellschaft  der Sozialisten, der Nationalisten oder der Christen.

Zum Abschluss dieses Buches habe ich mich entschieden, das dauerhafte Wirken dieser Werte in einem zentralen Bereich zu beobachten, dem der Einwanderung. Die Begegnung mit dem Fremden, der von draußen kommt, zwingt die vielfältigen europäischen Gesellschaften zu einer Selbstbestimmung. Europa, das demografisch durch seine geringe Fruchtbarkeit niedergedrückt wird, braucht Einwanderer. Die Beibringung von Fremden auf seinen Boden ist eine der Bedingungen für sein Überleben. Alle europäischen Gesellschaften werden in den kommenden Jahren für die Einwanderer eine soziale Eingliederung der einen oder anderen Art definieren, ihren Status in der Gesellschaft definieren müssen. Die Fremden sind meistens Arbeiter. Ihr Alphabetisierungs- und Qualifikationsniveau erlauben im Allgemeinen keine Eingliederung auf einem höheren Niveau der sozialen Struktur. In genau dem Moment, wo die Ideologien verschwinden, die vom Proletariat und von der Nation träumen, stellt das Niederlassen neuer Menschengruppen ganz konkret einige wesentliche Fragen, die die Definition der Klasse und der Nation betreffen. Die Geschichte könnte nicht listiger, boshafter oder perverser sein.

Die von den verschiedenen europäischen Gesellschaften gegebene Antwort ist nicht einheitlich. Sie hängt einmal mehr von den traditionellen Werten von Freiheit oder Autorität, von Gleichheit oder Ungleichheit ab. Die Wahl der drei Großen der Immigration in Europa – Frankreich, Deutschland und Großbritannien –  ist verschieden und diese Verschiedenheit spielt in einem neuen oder sogar künftigen Bereich wieder die unendliche Partie der Unterschiede zwischen europäischen Kulturen durch. Werden die Einwanderer frei und gleich sein? Werden sie eine abgetrennte Kategorie, ein Stand des Ancien Régime sein, das im Herzen der postindustriellen Gesellschaft wiederbelebt wird? Werden sie frei, aber verschieden sein? In der Annäherung an das Jahr 2000 scheinen die postindustriellen Gesellschaften den anthropologischen Zwängen noch nicht entkommen zu sein, die sie aus den Gründerzeiten geerbt haben.
Frankreich bleibt im Jahr 1990 der Erbe Roms. Die Werte von Freiheit und Gleichheit erlegen ihm  weiter das Dogma einer notwendigen Assimilation der eingewanderten Bevölkerungen auf, seien diese europäischen, islamischen, afrikanischen oder asiatischen Ursprungs, selbst wenn die statistischen Daten nicht erlauben, die Macht des assimilierenden Mechanismus zu belegen. Die Anwesenheit eines großzügigen Staatsbürgerschaftsrechts, das automatisch die Französisierung von 95% der in Frankreich geborenen Kinder sicherstellt, beweist alleine noch nicht, dass die Einwandererkinder wirklich freie und gleiche Bürger werden. Um zu assimilieren, reicht es nicht aus, die Gleichheit der Rechte und Pflichten zu dekretieren. Es ist auch notwendig, dass sich französische und eingewanderte Bevölkerungen durch Heirat und die Produktion von Kindern mischen, die nicht in der Lage sind, eine eindeutige und getrennte Herkunft zu definieren. Der Prozess hat höchstwahrscheinlich schon begonnen, aber die französische Verwaltungspraxis, die sich weigert, Individuen gemäß ihrer religiösen oder ethnischen Herkunft zu registrieren, verbietet jede empirische Analyse des Phänomens der Bevölkerungsmischung. Diese administrative Praxis illustriert übrigens aufs Schönste die Kohärenz der Gründungsprinzipien der Republik, die individualistisch und egalitär sind.

Es ist paradoxerweise die Existenz des Front National, die erlaubt hat, 1988 empirisch die Fortdauer der liberalen und egalitären französischen Tradition im Bereich der Assimilation zu verifizieren. Die Infragestellung des Staatsbürgerschaftsrechts, die die extreme Rechte gefordert hat und die die Regierung Chirac für einen Moment akzeptiert hat, wurde von der Bevölkerung verweigert. Das war die wahre Auskunft der Fieberanfälle in den Wahlen von 1988. Der Anstieg des Front National auf 14,5% darf das wesentliche Phänomen dieser Periode nicht verdecken: die Wiederwahl mit 55% der Stimmen eines sozialistischen Kandidaten, der beschuldigt worden war, Einwanderern das Wahlrecht geben zu wollen. Die zeitweilige Ausrichtung der Regierung Chirac auf die Thematik des Front National zum Ausschluss (der Einwanderer) hat nur ein konkretes Ergebnis gehabt: die Niederlage einer Rechten, die sich gegen die nationale Tradition positioniert hatte. Es bleibt abzuwarten, ob diese Tradition standhalten kann gegen ein dauerhaft erhöhtes Niveau von Einwanderung aus der Dritten Welt.

Die Bedrohung durch die extreme Rechte, eine Folge des Zerfalls der Arbeiterklasse, der kommunistischen Partei und der katholischen Kirche, hat also komischerweise zunächst das  traditionelle französische Konzept der Gleichheit der Menschen reaktiviert, das oberflächlich durch die Mode vom „Respekt vor dem Unterschied“ geschwächt worden war, die zwischen 1968 und 1980 aus der angelsächsischen Welt importiert worden war. Die Bewegungen der französischen  Wählerschaft entziehen sich der Kontrolle der kulturellen, politischen oder intellektuellen Eliten, d.h. der bewussten Sphären der Gesellschaft. Der Egalitarismus ist im nationalen Unbewussten angesiedelt. Die Wähler des Front National selbst sind wahrscheinlich verkannte Universalisten, ohne dass die Politiker der Rechten oder der Linken es bemerken. Sie fordern weniger die Vertreibung der eingewanderten Bevölkerungen ins Meer als ihre absolute Anpassung an die Sitten und Gewohnheiten der französischen Mehrheit. Die Unfähigkeit der politischen Eliten einen brutalen assimilatorischen Diskurs der Art „Die Einwanderer werden Franzosen wir alle anderen ein, ob sie es nun wollen oder nicht“ hat die Entstehung des Front National begünstigt. Das elitäre Gerede über das Recht auf den Unterschied erzeugt Inkonsistenz und Angst im Land des universellen Menschen.

Im Land der Ordnung und der Hierarchie, in Deutschland, führt die Anwesenheit von Einwanderern zu sehr verschiedenen Reaktionen. Das Staatsbürgerschaftsrecht wird weder in Frage gestellt noch geändert. Es stellt sicher, dass 95% der Kinder, die in Deutschland mit ausländischen Eltern geboren werden, auch Ausländer bleiben. Um 1989 waren 70% der in Deutschland lebenden Ausländer im Land geboren. Dieses sehr klare rechtliche System erlaubt übrigens zu verifizieren, dass Mischehen in Deutschland sehr selten sind. Die Gesamtheit der juristischen und sozialen Mechanik führt auf deutschem Boden zur Gründung eines Ausländerstandes, ein modernes Analogon der Stände des Ancien Régime, ein unfreiwilliger Nachfolger des Proletarierstandes im wilhelminischen Deutschland. Die Nichtintegration der Türken in Deutschland reproduziert in verschärfter Form die negative Integration des sozialdemokratischen Proletariats der Jahre 1880-1914. Der ethnische und religiöse Unterschied erneuert und steigert um ein Vielfaches eine Tradition der Separation der Arbeiterschaft, denn die Einwanderer sind natürlich mehrheitlich Arbeiter. Wenn sich das Einbürgerungsrecht und die Sitten in Deutschland nicht ändern, wird das Land seine traditionelle Ständestruktur wiederfinden. Die Homogenisierung der deutschen Gesellschaft, die Mischung der Klassen, die im Zweiten Weltkrieg gründlich umgesetzt worden ist[1], wird dann nur einige Jahrzehnte angedauert haben.  Die Repräsentation der Ausländer als Körperschaft auf der lokalen Ebene institutionalisiert den segmentierten und hierarchischen Charakter der deutschen Gesellschaft. Sie bestätigt, dass die Eingewanderten nicht als Individuen existieren. Die negative Integration erstreckt sich auf das religiöse Feld: gegen Ende der 80er Jahre führt das deutsche statistische Jahrbuch, das es gewöhnt war, Katholiken und Protestanten zu unterscheiden, eine neue Kategorie ein, die Moslems.

Deutschland und Frankreich, die an ihre jeweiligen autoritären und inegalitären bzw. liberalen und egalitären Werte gefesselt sind, verhalten sich weiterhin wie zwei gegensätzliche Pole in Europa.

Großbritannien macht seinerseits weiter mit einem Fahren auf Sicht und wird dabei von Konzepten geleitet, die dazwischen liegen. Sein nichtegalitärer Individualismus produziert eine bestimmte Wahrnehmung des Einwanderers. Während es am Anfang sehr offen war, verschließt sich Großbritannien nach und nach der Einwanderung  aus dem Neuen Commonwealth, d.h. aus den ehemaligen nicht-weißen Kolonien. Diese Schließung verhindert nicht die Stabilisierung einer bedeutenden Population mit britischer Staatsangehörigkeit auf britischen Territorium, die aber aus Afrika, von den Antillen, aus Pakistan oder Indien stammt. Wie in Frankreich stimmt die Nationalität bereits nicht mehr mit der ethnischen Herkunft überein. Umso mehr als Großbritannien im Gegensatz zu Deutschland bereitwillig Einbürgerung praktiziert. Aber es scheint so, dass man in Großbritannien mehr als in Frankreich der Entstehung ethnischer Ghettos beiwohnt, einem Rückzug der Gemeinschaften antillischen, muslimischen oder indischen Ursprungs auf sich selbst. Die Mechanik des Respekts vor dem Unterschied produziert unweigerlich diese Effekte. Die Sitten sind objektiv verschieden: die Assimilation erfordert die Zerstörung dieser Unterschiede, eine Anstrengung der Respektlosigkeit. In diesem Stadium der Analyse scheint die britische Praxis auch eine Trennung des deutschen Typs zu finden, weil sie ebenfalls das Prinzip der Gleichheit nicht kennt. Aber die englische Kultur ist zutiefst individualistisch und kann es nicht verhindern, das Individuum jenseits der Rasse, der Ethnie und der Religion wahrzunehmen. Sie erlaubt Anpassungen und individuelle Erfolgsgeschichten, die im autoritären System undenkbar sind. Der reine Individualismus erlaubt eine Häufigkeit von Mischehen, die nicht vernachlässigbar ist[2]. Der englische Liberalismus duldet auch eine große Autonomie der Immigranten. Insgesamt ermutigen diese Charakteristiken eine Selbstorganisation der ethnischen Gemeinschaften und ihre Teilnahme als Gruppe am Spiel der britischen Institutionen. Die islamischen oder farbigen Bevölkerungen wählen Repräsentanten in die  Kommunalräte und selbst ins Parlament. Die Anwesenheit in Großbritannien von Abgeordneten oder Kommunalräten, die aus „ethnischen Minderheiten“ hervorgegangen sind (ein Phänomen, das in Frankreich keine Entsprechung in derselben Größenordnung hat) zeigt gleichzeitig die Offenheit des britischen politischen Systems und die Geschlossenheit des sozialen Systems. Sie legt die Entstehung eines liberal-differenzierenden Modells nahe, das bereits in den USA im Vollausbau wirkt.

Die Entstehung einer spezifischen Repräsentation der ethnischen Minderheiten in Großbritannien erinnert seltsam an die Entwicklung einer spezifischen Repräsentation der Arbeiterschaft zu Anfang des (20.) Jahrhunderts. Die ersten Gewählten von Labour im House of Commons waren häufig Arbeiter, getreue Abbilder ihrer Gemeinschaften. Die geschlossenen Gemeinschaften der Bergarbeiter lieferten der Arbeiterbewegung besonders solide Stützpunkte. War die englische Arbeiterklasse vielleicht am Ende von fast 200 Jahren Industrialisierung eine eigene ethnische Gruppe geworden? Die antillischen oder pakistanischen Gemeinschaften scheinen an dem Punkt zu sein, dass sie diese Geschichte im Zusammenhang mit Wahlen wiederholen, die gleichzeitig auf Unterschieden bestehend und individualistisch ist.

Einer der Gemeinplätze der aktuellen soziologischen Literatur ist es, über die Fähigkeiten der verschiedenen Einwanderergruppen zu spekulieren, sich zu integrieren[3]. Man unterstreicht, dass die Einwanderer bis zu einem bestimmten Datum europäischen Ursprungs und christlich waren und dass die Existenz eines gemeinsamen kulturellen Hintergrundes den autochthonen und eingewanderten Bevölkerungen den Prozess der Integration erleichterte. Man unterstreicht auch, dass die Einwanderung aus der dritten Welt spezifische Probleme verursacht, weil sie Völker in Kontakt versetzt, die verschiedene familiäre und religiöse Traditionen mitbringen, manchmal gegensätzliche. Durch ganz Europa hindurch fokussiert sich die Aufmerksamkeit auf die eingewanderten islamischen Gruppen, die in Großbritannien, Frankreich und Deutschland stark vertreten sind. Die schwarzen Bevölkerungen in Großbritannien und Frankreich beunruhigen weniger, weil ihre Kultur schon bei der Abreise teilweise europäisch war. Die Bewohner der Antillen sprechen Englisch oder Französisch. Die familiären Gewohnheiten der afrikanischen und antillischen Bevölkerungen gewähren übrigens den Frauen eine sehr große Autonomie und passen sich sehr gut den französischen und britischen Sitten an. Die islamische Kultur erscheint den Europäern im Gegenzug essentiell antifeministisch: sie zieht alle Besorgnisse, alle Ablehnungen auf sich. Man kann einen gewissen Widerstand der islamischen Bevölkerungen gegen die Assimilation nicht leugnen, weil der familiäre Unterschied durch die Existenz eines alten und kohärenten religiösen Systems gestärkt wird.  Aber man muss auch feststellen, dass überall im Europa der Jahre 1985-1990 die Frauen islamischer Abstammung nach und nach ihre Fruchtbarkeit an die der umgebenden europäischen Bevölkerungen anpassen. Die algerischen Frauen haben immer weniger Kinder in Frankreich. Die türkischen Geburtenraten in Deutschland gehen zurück. Die Frauen pakistanischen Ursprungs entwickeln sich in Großbritannien  in Richtung der familiären und sexuellen Gewohnheiten des europäischen Typs. Kein Indikator bringt klarer ans Licht, dass der Widerstand der islamischen Bevölkerungen gegen die Assimilation zu einem erheblichen Teil ein Mythos ist. Die Wahrheit ist ganz einfach, dass keine Kultur, die aus der dritten Welt hervorgegangen ist, mehr als eine Generation der Auswalzung durch die postindustrielle europäische Kultur widerstehen kann, die übergriffig und dominierend ist. Der Widerstand kann nur ein letztes Ehrengefecht sein. Die islamische Religion selbst ist mehr als  bedroht. Sie hätte vielleicht in  einer gläubigen und verfolgenden christlichen Welt überleben können. Im gleichmäßig dechristianisierten, agnostischen Europa der Jahre 1990-2000, sind die Überlebenschancen des Islam ungefähr Null. Während wir uns dem Jahr 2000 nähern erscheinen Türken, Araber und Pakistani ganz und gar geeignet für die Assimilation. Das wirkliche Problem, da wo es existiert, befindet sich nicht auf der Seite der eingewanderten Bevölkerungen, sondern auf der Seite der aufnehmenden Bevölkerungen, von denen einige entsprechend ihrer Tradition fähig erscheinen zu assimilieren, während sich andere durch gegenteilige Traditionen daran machen auszugrenzen. Die britischen, französischen und deutschen Reaktionen zur islamischen Assimilation sind verschieden, wie es ein oder zwei Jahrhunderte zuvor die Reaktionen zur Assimilation der Juden waren – gefordert von Frankreich, akzeptiert von Großbritannien und verweigert von Deutschland. Die Juden stellen in Europa nicht mehr die Idee der Andersartigkeit dar. Auf der Ebene eines Planeten, der durch die Beschleunigung der Kommunikation und des Austauschs vereint wird, erscheint das Judentum nur noch als eine Komponente der jüdisch-christlichen Tradition unter anderen. Während wir uns dem Jahr 2000 nähern, ist es der Islam, der im kollektiven Unbewussten der diversen Nationen Europas die Idee des Unterschieds verkörpert. Ironischerweise ist der islamische Unterschied dabei, in einem Europa, das seine Einheit sucht, die Fortdauer fundamentaler Unterschiede zwischen europäischen Kulturen offen zu legen. Wenn das Kind des Algeriers französisch wird, wenn das Kind des Türken ein Türke bleibt, der in Deutschland lebt, wenn das Kind des Pakistaners ein besonderer Typ eines britischen Bürgers wird: wer wird dann im Jahr 2000 Europäer sein? Die Anwesenheit von Immigranten reaktiviert in Europa den Konflikt zwischen französischen, deutschen und britischen Konzeptionen der Staatsbürgerschaft. Für einen Kontinent, der versucht, eine gemeinsame Bürgerschaft zu definieren, ist das ein kapitales Problem. Von der Fähigkeit der europäischen Völker, diese tausendjährigen, eher anthropologischen als politischen Unterschiede zu überwinden, hängt die Form Europas ab, vielleicht sogar seine reelle Existenz.

Wird Europa universalistisch sein? Wird es Respekt vor dem Unterschied haben? Wird es ethnozentrisch sein? Die Europäer werden sich nicht definieren können, ohne sich über die Definition des Anderen einig zu werden.

[1] Zur Homogenisierung der deutschen Gesellschaft durch den Nationalsozialismus und den Krieg siehe die Zusammenfassung von David Schönbaum Die braune Revolution

[2] Für einige Zahlen siehe D. Coleman „Ethnic intermarriage in Britain“ Population Trends, 40, S.4-9. Ehen zwischen Antillischen und „Weißen“ sind häufiger als zwischen Pakistanis und „Weißen“. Ähnliche Studien gibt es für Frankreich nicht. Genaugenommen bringt die Existenz selbst von Untersuchungen in Großbritannien, die die Individuen nach der Ethnie klassifizieren, das Fortbestehen eines differenzierenden Modells zum Ausdruck, selbst wenn das Resultat der Untersuchung zeigt, dass Großbritannien sehr weit vom deutschen Trennungsmodell entfernt ist.

[3] Eine rituelle Übung, der ich in La Nouvelle France geopfert habe, wo man eine Beschreibung des arabischen Familiensystems vom endogamen Typs findet (S. 233). Die Studien zur islamischen Besonderheit übertreiben im Allgemeinen das Gewicht des religiösen Faktors und unterschätzen die Bedeutung der Endogamie als Widerstandsfaktor gegen die Assimilation.