Übersetzung aus dem Buch “L’invention de l’Europe” von E. Todd
Religion und Moderne
Kapitel 3: Reformation und Gegenreformation
Im Jahr 1500 war Europa noch zusammengeschweißt durch die Einheit des Glaubens. Als sich das Zeitalter der Moderne ankündigt, zwischen der Erfindung des Buchdrucks und der Entdeckung Amerikas, ist es einfach christlich, erkennt die Existenz der einen geistlichen Autorität an, der katholischen Kirche, und das trotz der politischen Fragmentierung seines Gebietes, trotz der Vielfalt seiner Familien- und Agrarstrukturen. Von Italien bis Schweden, von Portugal bis Sachsen sind Glaubenselemente und Rituale dieselben und werden von einer religiösen Elite getragen, die sich in einer einzigen Sprache, Latein, ausdrückt.
Diese Einheit ist das Ergebnis einer langen Geschichte, die von der frühzeitigen Entwicklung des Christentums im römischen Teil des Kontinents vom 1. bis 4. Jahrhundert bis zur verspäteten Bekehrung Finnlands am Ende des 13. Jahrhunderts führt. Im Jahr 1500 sind die südlichen Regionen Europas seit mehr als 1200 Jahren christlich, einige Teile Nordeuropas sind es erst seit ein wenig mehr als 200 Jahren. Aber man hätte Unrecht, das Christentum des Nordens a priori für weniger solide als jenes des Südens zu halten. Manche Aspekte seiner Geschichte würden vielmehr dazu tendieren, es stärker zu machen. In Finnland, in Schweden, in Norwegen, in Dänemark, in Schottland, in Irland, im Norden der Niederlande, in Nord- und Zentraldeutschland hat die religiöse Bekehrung den Zugang zur Zivilisation dargestellt. Die Gründung der Kirchen in der barbarischen Welt hat die Einführung der Schrift in Gesellschaften ermöglicht, die damals nur die mündliche Kommunikation kannten. Das lateinische Alphabet begnügt sich nicht damit, die lateinische Sprache zu transportieren: es erlaubt die Transkription der eingeborenen Sprachen, seien diese skandinavisch, finnisch, deutsch oder keltisch. Die Schrift macht die Entstehung von Institutionen möglich, das heißt von sozialen Gedächtnissen: im Norden Europas wie anderswo markiert ihre Einführung das Ende der Vorgeschichte. Die Kirche gewährleistet also in Skandinavien, in einem Teil der germanischen (Anmerkung des Übersetzers: gemeint ist hier wohl konkreter die deutsche) Welt, im Norden und Westen der britischen Inseln den Eintritt der Völker in die Geschichte. Sie ist die Begründerin. Im Süden, in Frankreich, in Italien oder in Spanien erscheint das Christentum, das ja älter ist, nur als ein verspätetes Element der Zivilisation in Gesellschaften, die die diffuse Erinnerung an eine vorangegangene römische Geschichte bewahren, die nicht christlich war, sondern heidnisch. Das hohe Alter des südeuropäischen Christentums und der Begründungscharakter des nordeuropäischen Christentums halten sich die Waage. Im Jahr 1500 ist Europa einfach christlich.
Die protestantische Reformation bricht den Kontinent entzwei. Mittel- und Nordwestdeutschland, Skandinavien, ein Teil der Niederlande und der Schweiz, Schottland und schließlich England nach vielem Zögern bilden eine reformierte Welt, die von Rom getrennt ist. 1517 von Luther eröffnet, führt die protestantische Krise sehr schnell zu einer stabilen Teilung des europäischen Raumes. Wie Pierre Chaunu[1] anmerkt, nimmt das reformierte Europe schon 1560-1580 seine endgültige geografische Form an. Seine Karte ist festgelegt und wird sich bis ins 20. Jahrhundert kaum noch bewegen. Im Angesicht der neuen protestantischen Welt definiert sich der Katholizismus – von nun an ein italienischer, französischer, spanischer, portugiesischer, österreichischer, flämischer, irischer, süd- und westdeutscher, zentral- und südschweizerischer durch das Konzil von Trient zwischen 1545 und 1563 neu. Zwei religiöse Systeme stehen sich bis zum Ende des 17. Jahrhunderts gegenüber und geben sich dann damit zufrieden, getrennt zu leben.
[1] P. Chaunu, Le Temps des Réformes, 2. Auflage, S. 473-474
Das Wesen des Protestantismus: ein Widerspruch
Wie jedes religiöse System existiert der Protestantismus auf zwei Ebenen gleichzeitig. Er ist Teil der erfassbaren Welt, und er definiert auch ein Jenseits. Er ist eine irdische Praxis und eine Metaphysik. Im Geist der Angehörigen des Systems sind die beiden Ebenen nicht verschieden, sondern durch die Gewohnheit vermischt und durch eine Theologie zusammengeschweißt. Um das Wesen des Protestantismus zu verstehen, seine Entstehung in nur einigen Regionen des europäischen Kontinents, seine historischen Implikationen und seine theologischen Variationen, ist es notwendig, die beiden Ebenen, die irdische und die metaphysische, zu trennen und sei es um den Preis gewisser Schematisierungen. Im Herzen der protestantischen Botschaft, die die Geschichte beschleunigt und Europa zerteilt, findet man tatsächlich einen Widerspruch, einen fundamentalen, zwischen irdischen und metaphysischen Zielvorstellungen. In der irdischen Welt schlägt die Reformation eine Demokratisierung vor und verwirklicht sie auch. In der metaphysischen Ordnung proklamiert sie die Knechtschaft und die Ungleichheit der Menschen.
Die irdische Komponente des Protestantismus:
Demokratisierung des religiösen Gewissens
Das entscheidende irdische Ziel der lutherischen Reformation ist die Abschaffung des Kleriker-Monopols im religiösen Leben. Der Protestantismus will das Ende einer gespaltenen Religion, die intensiv von einem spezialisierten Stand gelebt, aber einer Gemeinschaft passiver Gläubiger nur in Form diverser Rituale verabreicht wird, die taub und stumm gehalten werden durch den liturgischen Gebrauch des Lateins, das sie nicht verstehen. Im Appell „An den christlichen Adel deutscher Nation“, der 1520 veröffentlicht wurde und Deutschland in Bewegung setzt, bezeichnet Luther die Unterscheidung zwischen Laien und Klerikern als erste Mauer, die von Rom erbaut sei und die Deutschland niederreißen müsse. Mit diesem starken Ausdruck, der die Vorstellung seiner Zeitgenossen fesselt: „Wir sind alle Priester.“
„Man hat‘s erfunden, dass Papst, Bischöfe, Priester und Klostervolk der geistliche Stand genannt wird, Fürsten, Herrn, Handwerks- und Ackerleute der weltliche Stand. Das ist eine sehr feine Erdichtung und Trug. Doch soll niemand deswegen schüchtern werden, und das aus dem Grund: alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes und ist unter ihnen kein Unterschied außer allein des Amts halber, wie Paulus I. Kor. 12, 12 ff. sagt, dass wir allesamt ein Leib sind, (obwohl) doch ein jegliches Glied sein eigenes Werk hat, …“
Gegen die von Rom etablierten Gesetze fordert Luther „gleyche Christenn“. Von diesem fundamentalen Streben nach Gleichwertigkeit des christlichen Volkes leiten sich sehr viele Aspekte des protestantischen Programms her: Zugang für alle zu den Heiligen Schriften, die Übersetzung der religiösen Texte und Messen in die Volkssprache, die Ehe für Priester, die Abschaffung der Klosterorden, die Ablehnung der Autorität des Papstes, die als Schlussstein des Priesterstandes angesehen wird. Ein einfaches Ziel fasst die Vielfalt der Angriffslinien zusammen: im irdischen religiösen Leben weist die Reformation die Autorität der Priester und die Ungleichheit der Menschen zurück.
Die metaphysische Komponente des Protestantismus:
Knechtschaft und Ungleichheit der Menschen
Im metaphysischen Herzen der Reformation findet man ein verschärftes Bewusstsein für die Anwesenheit des Bösen in der Seele der Menschen, eine verfeinerte Wahrnehmung der Rolle des Satans in ihren Leben und ein erneuertes Interesse für das Konzept der ewigen Verdammnis. In diesem Europa des 16. Jahrhunderts wird das Topos der Ursünde, von Adams Fall, der den der Menschheit nach sich zieht, zu einem Problem der Gegenwart. Der Fall wird nicht als alte Geschichte wahrgenommen, sondern als ein Hauptereignis und als ein Element des täglichen Lebens. Nachdem er die Verdammnis des Menschen festgestellt hat, legt Luther die Bedingungen für seine Errettung fest, d.h. des Freikaufs von seiner Schuld und seines Eingangs in das ewige Leben. Zwei Aussagen sind fundamental. Die erste lautet, dass der Mensch seine Errettung nicht selbst sicherstellen kann ohne die Hilfe (den Willen, die Gnade) Gottes. Die zweite lautet, dass nicht alle Menschen gerettet werden.
Das Topos der Machtlosigkeit des Menschen, gegenwärtig in vielen Texten, ist zentral für die Abhandlung „Über den geknechteten Willen“ (De servo arbitrio, 1525), einer Antwort auf die Verteidigung des freien Willens, die von Erasmus[1] vorgestellt wurde. Das Problem ist offensichtlich nicht das der Allmacht Gottes, in dem in der Theorie alle Christen übereinstimmen, sondern das der Auswirkung dieser Allmacht auf die menschliche Freiheit. Ist der Mensch in der Lage, selbst seine Errettung zu gewährleisten, indem er während seines irdischen Lebens frei das Gute wählt und das Böse zurückweist? Die Frage ist schmerzhaft in der ganzen christlichen Problematik präsent seit ihren Ursprüngen. Die Antwort Luthers ist klar und negativ:
„Wenn aber Gottes Vorherwissen und Allmacht zugegeben wird, so folgt daraus natürlich mit unantastbarer Folgerichtigkeit, dass wir nicht durch uns selbst geschaffen sind oder leben oder irgend etwas vollbringen, sondern alles geschieht nur durch Gottes Allmacht. Da er aber im Voraus wusste, dass wir so sein würden und uns auch jetzt so erschafft, lenkt und regiert, was kann dann, so frage ich, überhaupt erdacht werden, das in uns frei sei, dass es so oder anders geschehe, als Gott es vorausgesehen hat und nun ins Werk setzt? So steht also Gottes Vorherwissen und Allmacht im schärfsten Gegensatz zu unserm freien Willen. Denn entweder irrt Gott in seinem Vorherwissen und wird sich dann auch in seinem Tun irren – was doch unmöglich ist – oder wir handeln und werden geleitet nach seinem Vorherwissen und Handeln. Als Allmacht Gottes aber bezeichne ich nicht jene Macht, durch die er vieles nicht tut, was er wohl könnte, sondern jene handelnde Kraft, durch die er machtvoll alles in allem wirkt; und in diesem Sinne nennt ihn auch die Schrift allmächtig. Und diese Allmacht und dieses Vorherwissen Gottes zerstört – so sage ich – von Grund aus die Lehre vom freien Willen.“
Dieser allmächtige Gott kennt und wählt seine Erwählten. In der systematisierten und radikalisierten Form des protestantischen Denkens, das Calvin vorstellte, wählt sich Gott aus, bestimmte Menschen zu retten und die anderen zu verdammen. Das ist die doppelte Prädestination. Aber dieser Dualismus, diese Ungleichheit der Menschen angesichts des Heils ist eine logische Notwendigkeit. Wenn nur Bestimmte gerettet werden, sind die anderen verdammt. Es gibt also zwei Sorten von Menschen, ein Konzept, das mit einer extremen Klarheit aus manchen Werken Luthers hervorgeht, manchmal in Sätzen, die wie direkt vom Heiligen Augustinus übernommen scheinen:
„Hier müssen wir Adams Kinder und alle Menschen in zwei Teile teilen: die ersten zum Reich Gottes, die andern zum Reich der Welt. Die zum Reich Gottes gehören, das sind alle Rechtgläubigen in Christus und unter Christus[2].“
Das ist die augustinische Thematik der zwei Reiche, die tatsächlich das Problem der Erwählung einiger und der Zurückweisung der anderen betrifft. Theoretisch betrachtet kann der unterscheidende Blick Luthers sich auf die umgebende Welt richten:
„Aber schau Dich um und beginne damit, Dir vorzustellen, dass die Welt voll sei von echten Christen, bevor Du so tust, als ob du sie christlich und nach dem Evangelium regierst. Aber Du wirst es niemals schaffen, denn die Welt und die Masse sind und bleiben Nichtchristen, obwohl alle getauft sind und den Namen Christen tragen.[3] “
Eine biblische Episode macht die Wirkung der göttlichen Vorsehung besonders offensichtlich, die auswählt, d.h. gleichzeitig erwählt und zurückweist: die Geschichte von Jakob und Esau, in der der väterliche Segen und das Erstgeburtsrecht ohne Prozess und Berufung vom Älteren auf den Jüngeren übertragen werden. Nur die Nachkommen Jakobs, des Jüngeren, werden das Volk Israel sein, erwählt vom Ewigen. Die Episode ist im „Reich Gottes“enthalten, wird aber im „Geknechteten Willen“ ausgiebig genutzt[4].
„Inwiefern hat der freie Wille Jakob geholfen? Inwiefern hat er Esau geschadet? Kraft der göttlichen Vorsehung und Vorbestimmung (praescientia et destinatione) war ja festgelegt, sogar schon, bevor sie geboren wurden und etwas getan haben, was das Schicksal jedes von ihnen sein müsse, nämlich dass der eine dienen müsste und der andere dominieren[5].“
Calvin verschärft in dem Kapitel, das er der Prädestination in der „Unterweisung in der christlichen Religion“ widmet, die Ausdrucksweise, fügt aber dem Sinn nicht viel hinzu. Wie hätte er das machen können? Die ganze Problematik der Gnade, der Erwählung und der Vorbestimmung ist beim Heiligen Augustinus[6] bereits vorhanden. Calvin gibt sich damit zufrieden, die Konzepte symmetrischer zu gestalten:
„Wir nennen Prädestination den ewigen Rat Gottes, durch den er bestimmt hat, was er aus jedem Menschen machen will. Denn er erschafft sie nicht alle im gleichen Zustand, sondern ordnet den einen das ewige Leben an, den anderen die ewige Verdammnis. So sagen wir je nach dem Ende, für das der Mensch erschaffen ist, dass er für den Tod oder das Leben vorbestimmt ist[7].“
Aber Calvin ist hier nur ein getreuer Exeget Luthers: die Geschichte von Jakob und Esau bildet ebenfalls den Kern seiner Demonstration[8].Verzögert und geboren inmitten der Auseinandersetzungen ist die calvinistische Theologie durch die katholische Kritik geklärt, die die inegalitären Folgen des Konzepts der Erwählung deutlich macht. In der Defensive, ist Calvin in der „Unterweisung in der christlichen Religion“ gezwungen, das Konzept der Ungleichheit zu nutzen, um es zurückzuweisen:
„Es ist also falsch und bösartig, dass manche Gott der Ungleichheit in der Gerechtigkeit anklagen, weil er in seiner Vorsehung nicht allen Menschen Dasselbe tut[9].“
Er verneint, dass es so sei, aber das Wort ist ausgesprochen: Ungleichheit.
Die metaphysische Komponente der Reformation führt also zur Knechtschaft und Ungleichheit der Menschen vor Gott. Sie ist eine veritable konzeptionelle Negation ihrer irdischen Komponente, die die Freiheit und Gleichheit der Christen gegenüber dem Klerikerstand einfordert.
Auf der irdischen Ebene sind die Begriffe der Gleichheit und Freiheit logisch verbunden. Die Zurückweisung der Autorität der Priester macht nur Sinn, weil die Christen gleich sind: sie sind alle Priester. Auf der metaphysischen Ebene bilden die Begriffe von Autorität und Ungleichheit ebenfalls eine logische Gesamtheit: im Mechanismus der Vorsehung, wie er insbesondere in der Geschichte von Jakob und Esau aufscheint, ist die ungleiche Auswahl der privilegierte Ausdruck der absoluten Autorität des Ewigen. Trotz der Existenz dieser globalen logischen Strukturen, die Gleichheit mit Freiheit und Ungleichheit mit Autorität kombinieren, ist es möglich, die „metaphysischen“ Konzepte von Autorität und Ungleichheit, die „irdischen“ Konzepte von Freiheit und Gleichheit zu trennen, um zu beobachten, wie das protestantische Denken die Begriffe von irdischer Gleichheit und himmlischer Ungleichheit, von Freiheit gegenüber der Kirche und von Unterwerfung unter Gott versöhnt.
[1] „De libero arbitrio“ von Erasmus stammt von 1524.
[2] „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ S. 79.
[3] „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ S. 87.
[4] „Das Reich Gottes“, Buch XVI, Kapitel 36.
[5] Der geknechtete Wille, S. 156.
[6] Und besonders in seinen Antworten an die Mönche von Adrumète und der Provence, Gesammelte Werke, Band 24, S. 311-323, 359-363, 573-585, 715-729, etc.
[7] Institution de la religion chrétienne, Band 3, S. 62.
[8] Ebd. Band 3, S. 66-71.
[9] Ebd. Band 3, S. 83.
Protestantismus und Freiheit: dem Körper entflohener Autoritarismus
Schon in der Eröffnung der „Freiheit eines Christenmenschen“, eines frühen Textes, da er ja von 1520 datiert, gibt Luther preis, dass die Beziehung des Protestantismus zur Autorität nicht einfach sein wird. Er bringt nach und nach zwei Sätze vor:
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.“
„Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Der Rest des Textes ist ein Nachdenken über diesen Widerspruch. Die Lösung liegt für Luther im Dualismus der menschlichen Natur, der körperlichen und der spirituellen, in der Koexistenz eines äußeren Menschen und eines inneren Menschen[1]. Aber entgegen einigem rhetorischen Anschein stellt dieser Dualismus nicht einen äußeren Menschen als Diener einem inneren freien Menschen gegenüber. Der innere Mensch ist frei nur von der äußeren Welt. Er ist Gott durch den Mechanismus des Glaubens unterworfen, dieses Glaubens, der allein vor der Verdammnis bewahrt, dieses Glaubens, der eine Wahrnehmung der Allmacht Gottes und der Kleinheit des Menschen verlangt.
„Daß du aber aus dir und von dir, das ist aus deinem Verderben, kommen mögest, so setzt er dir vor seinen lieben Sohn Jesum Christum und läßt dir durch sein lebendiges, tröstliches Wort sagen: DU sollst in denselben mit festem Glauben dich ergeben und frisch auf ihr vertrauen. So sollen dir um desselben Glaubens willen alle deine Sünden vergeben, all dein Verderben überwunden sein und du gerecht, wahrhaftig, befriedet, fromm und alle Gebote erfüllet sein, von allen Dingen frei sein“
Diese Freiheit wird als eine Unterwerfung unter die göttliche Autorität erlebt. An dieser Stelle stößt sich der protestantische metaphysische Autoritarismus an einem praktischen Problem: der Zurückweisung der äußeren Autorität der Kirche von Rom, wie sie durch ihren Papst, ihre Bischöfe und ihre Priester verkörpert wird, durch den inneren Menschen. Der Protestantismus will eine mächtige göttliche Autorität, lehnt aber die Delegation dieser göttlichen Autorität an eine menschliche Institution ab. Luthers Doktrin zeichnet also ein weißes Feld über dem Menschen, besser im tiefsten Inneren des Menschen, eine furchterregende Kontrollinstanz, deren Ausdrucksmöglichkeiten nicht definiert werden. Ein Protestant wird sagen, dass er die Anordnungen Gottes empfängt, ein laizistischer Philosoph wird es so sehen, dass der Protestant seinem Gewissen gehorcht; ein Psychoanalytiker wird eine Kontrolle des Individuums durch das Über-Ich zur Sprache bringen. Aber wie die Interpretation auch immer sei: Der Lutheranismus ist niemals liberal; er ist autoritär, verweigert aber die irdische Ausübung der religiösen Autorität durch Menschen.
[1] Luther erscheint hier wie ein wirklicher Erbe der rheinischen mystischen Tradition und besonders von Meister Eckhart. Zur Unterscheidung zwischen „innerem Menschen“ und „äußerem Menschen“ siehe besonders „vom edlen Menschen“ von Meister Eckhart in den Abhandlungen, S. 144-153.
Gleichheit in der Gegenwart, Ungleichheit in der Zukunft
Die Koexistenz der Begriffe von irdischer Gleichheit und metaphysischer Ungleichheit macht dem Protestantismus in der Praxis wenig Probleme, weil sich die Gleichheit in der Gegenwart aufhält, die Ungleichheit, d.h. das Paar Verdammnis/Errettung , dagegen in der Zukunft. Der zeitliche Abstand stellt die Kompatibilität der Konzepte sicher. Gewiss, wenn man sich an den Buchstaben des Protestantismus hält, hält sich die metaphysische Ungleichheit der Menschen genau genommen nicht in der Zukunft auf, sondern außerhalb der Zeit. Gott ist das Ewige. Seine Vorsehung ist absolut. Die Zeit ist für ihn eine zweitrangige Variable. Die Erwählung der einen und die Zurückweisung der anderen sind, auf der Skala Gottes, in der Ewigkeit angesiedelt. Nach Luther gehen die Erwählung Jakobs und die Zurückweisung Esaus ihrer Geburt voraus.Die Theologie gibt sich Mühe, den Standpunkt des Ewigen zu erfassen. Aber die gewöhnlichen Menschen sind bescheidener: das Heil und die Verdammnis sind für sie Perspektiven, gewiss metaphysische, aber auch zukünftige, die ihre möglichen Schicksale nach dem Tod beschreiben.
Die Ablehnung der irdischen religiösen Ungleichheit, der Überlegenheit des Priesters über die Laien, ist im Gegensatz dazu eine gegenwärtige, unmittelbare Forderung. Aber diese Gleichheit der religiösen Bedingungen in der Gegenwart verhindert in keiner Weise die künftige Ungleichheit.
Das Wesen des Katholizismus: ein umgekehrter Widerspruch
Die lutherische Abspaltung zwingt den aufrechterhaltenen Katholizismus, sich neu zu definieren. Wie der Protestantismus, aber gegen den Protestantismus muss der Katholizismus zwei Komponenten des religiösen Lebens stabilisieren: die eine eine irdische, die andere eine metaphysische. Weil sie nun aber die Reformation auf den beiden Feldern verneint, kommt die Gegenreformation, in aller Logik, auch bei einem Widerspruch zwischen irdischen und metaphysischen Zielen heraus, aber beim Gegenteil von dem, bei dem die Reformation angekommen war.
Die Reformation forderte die Freiheit und Gleichheit der Christen auf Erden durch die Beseitigung der Macht der Priester, aber bejahte die metaphysische Ungleichheit der Menschen und die absolute Autorität Gottes.
Die Gegenreformation fordert die Unterwerfung und Ungleichheit der Christen auf Erden durch Annahme der Macht der Priester, aber sie bejaht die metaphysische Gleichheit der Menschen und ihre Freiheit bei der Erreichung des Heils oder der Verdammnis.
Die irdische Komponente des Katholizismus: religiöser Elitarismus
Das entscheidende irdische Ziel der katholischen Gegenreformation ist die Stärkung des klerikalen Monopols im religiösen Leben. Der Katholizismus vertieft in der Praxis die Unterscheidung zwischen Priestern und Laien, indem er, wahrscheinlich zum ersten Mal in der Geschichte der Christenheit, reihenweise Dorfgeistliche schafft, die dem Ideal entsprechen: gebildet und keusch. Schluss mit dem mittelalterlichen Pfarrer, der unkultiviert und (débauché) war, menschlich, dem Laien so nah. Aber man täusche sich nicht: die neue Anstrengung bei der Ausbildung katholische Priester ist eine praktische Umsetzung des Dogmas der Besonderheit des Priesters, die sich dem protestantischen Begriff eines Priesters entgegenstellt, der dem Laien ähnlich ist. Auf der Seite der Laien entwickelt die katholische Kirche als Reaktion auf den Protestantismus eine heftige Feindseligkeit gegen die Verbreitung der Heiligen Schrift, eine instinktive Verachtung des Buches. Ein Laie, der die Bibel liest oder irgendein anderes religiöses Buch, löst in der katholischen Welt einen Reflex des Misstrauens aus, ob er nun zu einem Akt der Unterdrückung führt oder nicht. Diese intellektuelle und soziale Polarisierung, die den Laien die Bücher verweigert und eine bessere Ausbildung der Priester sicherstellt, ist gut und gerne die Umkehrung der protestantischen Praxis. Die irdische Komponente des Katholizismus ist ungleich und autoritär.
Die metaphysische Komponente des Katholizismus: Gleichheit und Freiheit
Auf der metaphysischen Ebene definiert sich die Kirche auch gegen den Protestantismus, aber mit der notwendigen Vorsicht. Sie stellt sich nämlich als Bewahrerin einer Orthodoxie, einer Tradition dar, deren Mechanismus zur Herstellung von Dauer vom Prinzip der apostolischen Nachfolge abhängt. Sie kann offensichtlich nicht rückwirkend den heiligen Augustinus exkommunizieren, dessen Denken das protestantische Dogma von der Vorsehung vorgibt, weil er einer ihrer Heiligen ist und auch weil er ein Bischof war. Sie verwirft nicht einfach und hundertprozentig die augustinische Vorsehung, sondern begnügt sich damit, sie feinsinnig auf kleine Flamme zu stellen, wodurch sie den Theologen Arbeit für Jahrhunderte schafft. Von Molina bis zu den Autoren des „Wörterbuchs der katholischen Theologie“ werden sich die Denker der Kirche anstrengen, ein weiches Konzept der Vorsehung und eine klare Vision des freien Willens kompatibel zu machen. Aber jenseits aller traditionalistischen Vorsichtsmaßnahmen stellt das Konzil von Trient eine Theorie der Gleichheit der metaphysischen Chancen und des freien Willens solide auf, die die Vorsehung ablehnt.
Das Konzil bestätigt den universal-salvatorischen Charakter der Taufe, die die Ursünde abwäscht und die Gnade überträgt. „Ihr alle, die Ihr getauft seid, habt Christus angezogen[1].“ Die katholische Taufe, die unmittelbar nach der Geburt gespendet wird, steht für die Gleichheit der Chancen und die Annullierung von Adams Fall für alle Menschen. Dieses Sakrament ist inkompatibel mit der protestantischen Idee der Vorsehung, die von der Existenz eines Schicksals jedes Menschen ausgeht, das vor der Geburt festgelegt worden ist.
Luther bewahrt nur den formellen Aspekt der Taufe, eines populären Initiationsritus, der zu wichtig ist, um ihn offen abzuschaffen. Aber er präzisiert in seinem „Kleinen Katechismus (1529)“, einem Dokument für den Gebrauch der Massen, dass die Taufe „die Vergebung der Sünden bewirkt, vom Tode und vom Teufel befreit und das ewige Heil allen jenen gibt, die glauben entsprechend den Worten und Versprechen Gottes[2]“ Ohne den Glauben wirkt die Taufe nicht. Ohne die Erwählung ist das Sakrament ohne Sinn. Der protestantische Radikalismus geht weiter; ab 1525 tauchen die Wiedertäufer in der Region Zürich auf, in der Hochburg von Zwinglis Reformation, die die lutherische Logik zu ihren extremsten Konsequenzen treiben, indem sie die Kindstaufe verweigern und nur die Taufe der Erwählten akzeptieren.
Gegen diese protestantischen Taufen, die ihrer Rettungsmacht entleert sind, bestätigt die katholische Taufe also ihre Vergebungswirksamkeit. Aber auch alle vom Katholizismus getauften Menschen haben keine Rettungsgarantie. Von der Ursünde gereinigt bleiben sie frei, sich zu retten oder sich zu verdammen. Das ist das Dogma des freien Willens, die während der 6. Sitzung (Kanon 5) des Konzils von Trient energisch bestätigt wird:
„Wer sagt, der freie Wille des Menschen sei nach der Sünde Adams verloren und ausgelöscht worden, oder es gehe nur um eine Bezeichnung, ja, eine Bezeichnung ohne Inhalt, schließlich um eine vom Satan in die Kirche eingeführte Erdichtung: der sei mit dem Kirchenbann belegt[3].“
Der Mensch kann das Gute oder das Böse tun, durch seine Werke das ewige Leben erlangen oder nicht. Gott ist hier nicht mehr in jedem Augenblick des Lebens des Menschen allmächtig. Er ist nicht mehr diese furchteinflößende Persönlichkeit, gegen deren Dekrete keine Berufung eingelegt werden kann. Aus der katholischen Konzeption des freien Willens entspringt eine Gesamtheit von Haltungen und Ritualen, in denen Gott zugänglich wird für die Verhandlung. Es sind gewiss Vermittler notwendig: natürlich die Kirche, die Nachlässe und Messen für die Toten verkauft. Aber die Jungfrau Maria und die Heiligen können sich ebenfalls kleine Missionen der Einflussnahme bei Gott aufladen zugunsten einfacher Sterblicher. Diese Prozeduren, die häufig ein barockes Erscheinungsbild haben, sind jedoch logisch verbunden mit dem Dogma des freien Willens, der die Autorität Gottes aufweicht.
Die Paarung Taufe/freier Wille des Katholizismus definiert also eine egalitäre und liberale metaphysische Komponente, die in Opposition steht zur irdischen inegalitären und autoritären Komponente.
[1][1] Wörterbuch der katholischen Theologie, Band 2, 1, Artikel „Taufe“, Spalte 296, „Die Taufe gemäß dem Konzil von Trient“.
[2] Kleiner Katechismus, S. 22
[3] Wörterbuch der katholischen Theologie, Band 12, 2, Artikel ‚Vorsehung‘, Spalte 2961.
Die Koexistenz der irdischen und metaphysischen Konzepte im katholischen System
Auf der rein logischen Ebene ist das katholische System ebenso paradox wie das protestantische System. Es stellt irdische Ungleichheit und Gleichheit der metaphysischen Chancen, irdische Autorität und metaphysische Freiheit einander gegenüber, wo der Protestantismus irdische Gleichheit und metaphysische Ungleichheit, irdische Freiheit und metaphysische Knechtschaft einander gegenüberstellt.
Die Kompatibilität des Dogmas der Überlegenheit des Priesters und das der Gleichheit der metaphysischen Chancen stellt kein wirkliches Problem dar. Die Wahl der Priesterschaft, die prinzipiell allen offensteht, kann als ein Mittel angesehen werden, sein Heil in freier Weise zu suchen. Die Wahl oder Ablehnung einer religiösen Berufung ist also nur einer der differenzierenden Mechanismen, die die Menschen zum Heil oder zur Verdammnis führen können, nachdem sie gleich aus der Taufe hervorgegangen sind.
Aber man kann sich sehr wohl lustig machen über eine theologische Konstruktion, die die abstrakte Freiheit anbietet und die konkrete Autorität auferlegt. Der zitierte Kanon des Konzils von Trient fasst auf pittoreske Weise die Doppeldeutigkeit der Haltung des Katholizismus zum Begriff der Autorität zusammen: er bedroht sehr konkret jede Weigerung, an die Existenz der menschlichen Freiheit zu glauben, mit Exkommunikation. Dieser Widerspruch führt jedoch nicht zu einem praktischen Problem: im katholischen System hat die Autorität auf Erden in schönster Weise durch eine solide organisierte religiöse Hierarchie Gestalt angenommen.
Der Protestantismus wollte eine starke göttliche Autorität und verweigerte ihre Inkarnation in einer menschlichen Institution. Er erzeugte eine Leere und ein praktisches Problem. Der Katholizismus, der sich mit einer abgemilderten göttlichen Autorität zufrieden gibt, ihre Ausübung aber an eine menschliche Institution abtritt, erzeugt keine soziale Leere um den Begriff der Autorität.
Die Voraussetzungen der Entstehung
Nachdem der Protestantismus einmal modelliert ist, bleibt seine selektive Implantierung nur in bestimmten Regionen zu erklären, die das Europa des 16. Jahrhunderts ausmachen. Die Annahme der Reformation zwischen 1517 und 1580 durch bestimmte Bevölkerungen und ihre Ablehnung durch andere ist ein historisches Phänomen, das von der Struktur der lokalen Gesellschaften abhängt, die entweder eine Affinität mit der Struktur der protestantischen Doktrin darstellt oder nicht.
Die zwei religiösen Komponenten |
|
Irdische Komponente:
Beziehung zur Kirche |
Metaphysische Komponente:
Beziehung zu Gott |
Protestantismus |
Liberal und egalitär |
Autoritär und inegalitär |
Katholizismus |
Autoritär und inegalitär |
Liberal und egalitär |
Die vorgeschlagene Interpretation geht von einer Modellierung der religiösen Systeme aus, die zwei Komponenten offensichtlich macht, die eine irdisch und die andere metaphysisch. Sie lässt auch die Existenz von zwei Ebenen der Festlegung zu und folglich von zwei Kategorien von Faktoren, die jeweils den Bedingungen der Entstehung der irdischen und der Entstehung der metaphyischen Komponente entsprechen. Die Implantierung des Protestantismus in einer gegebenen Region setzt die gleichzeitige Existenz positiver Faktoren auf der irdischen Ebene und von positiven Faktoren auf der metaphysischen Ebene voraus. Die Abwesenheit von günstigen Faktoren auf der irdischen Ebene und auf der metaphysischen Ebene erlaubt im Gegenteil die Aufrechterhaltung eines reinen, archetypischen Katholizismus. Aber man kann sich auch lokale Situationen von Nichtübereinstimmung vorstellen und beobachten, die Folgendes kombinieren:
- entweder günstige irdische Faktoren für den Protestantismus und für den Katholizismus günstige metaphysische Faktoren
- oder günstige irdische Faktoren für den Katholizismus und für den Protestantismus günstige metaphysische Faktoren
In diesen Fällen, die speziell, aber ziemlich zahlreich und wichtig sind, wird jede Region schließlich ihr Lager wählen. Aber dann wird eine Anpassungsarbeit zwischen regionalen Strukturen und theologischen Strukturen notwendig sein, die interessante kulturelle oder religiöse Deformationen produziert.
Erklärung der irdischen Komponente:
Alphabetisierungsgrad, Entfernung von Rom und von Deutschland
Die erste Bedingung für eine Infragestellung der Macht der Kirche ist die Existenz von Laien, die in ihrem täglichen religiösen Leben auf Priester verzichten können, weil sie selbst die Texte lesen können, seien es die Heiligen Schriften oder Zusammenfassungen, die die fundamentalen Dogmen und Rituale beschreiben. Die vom Protestantismus beanspruchte Demokratisierung des religiösen Bewusstseins setzt also ein gewisses Niveau bei der Alphabetisierung der Bevölkerungen voraus. Im Europa des frühen Mittelalters definierte die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben den Priester; es regierte eine implizite Gleichung: Der Kleriker war alphabetisiert. Wissen und Religion legitimierten sich gegenseitig. Ausschließlich der Priester hatte Zugang zu einer Kenntnis, die gleichzeitig als wissenschaftlich und religiös konzipiert war. Der kulturelle Fortschritt, der zwischen dem 11. Und 15. Jahrhundert fortdauerte, schuf mehr und mehr Laien, die lesen konnten – Adelige, Bürgerliche oder Handwerker. Die Erfindung des Buchdrucks um 1450 beschleunigte den Prozess. Seine Entwicklung erlaubte die Entstehung einer neuen kulturellen Klasse, diejenige der alphabetisierten Laien, die im 15. Jahrhundert noch nirgendwo in der Mehrheit war, deren Masse aber in bestimmten privilegierten Regionen derjenigen der Klerikerschaft die Waage hielt oder sie übertraf. Die Schrift hört auf, das Monopol der Kirche zu sein, ihre Verbreitung zieht die Religion durch die Heilige Schrift aus den Kirchen heraus.
Die zweite Bedingung für ein Bestreiten der Macht der Priester ist eine geschwächte Kraft der konkreten römischen Präsenz, ergänzt um eine gewisse Nähe zum deutschen reformatorischen Herdfeuer. Je näher eine lokale Gesellschaft Deutschland ist, dem Ort der Entstehung der Reformation, desto höher sind ihre Chancen, von der lutherischen Doktrin erreicht zu werden. Jeder Punkt auf der Karte Europas kann relativ zu dem Gegensatzpaar Rom/Wittenberg positioniert werden. Auf diese Weise ist vom protestantischen Standpunkt aus Skandinavien, das durch Deutschland von Rom isoliert ist, besonders gut platziert; aber Süditalien, das durch Rom von Deutschland isoliert wird, ist besonders unerreichbar.

Diese beiden Faktoren – Alphabetisierung und Position zum Gegensatzpaar Rom/Wittenberg – erklären allein einen guten Teil der Reformation. Diese wird in einer der kulturell fortschrittlichsten Regionen des Kontinents geboren, Mittel- und Süddeutschland, in der der Buchdruck erfunden wurde (siehe Karte 22).
Sie beginnt praktisch gleichzeitig in der Nordschweiz, einer ziemlich entwickelten und deutschsprachigen Region. Nach ungefähr zehn Jahren ist dann die Gesamtheit der deutschen Welt betroffen. In einer zweiten Phase verbreitet sich die Reformation ohne Schwierigkeit nach Norden, nach Skandinavien, einer ohne Zweifel wenig alphabetisierten Zone, aber durch den hanseatischen Handel solide an Deutschland angebunden. In einer dritten Phase macht sich der Protestantismus zu einem Marsch nach Westen auf: Südfrankreich, Schottland, die Niederlande und England werden von einer protestantischen Welle erreicht, die die radikalisierte Form des Calvinismus annimmt, nicht mehr des Lutheranismus. Es handelt sich dieses Mal um relativ alphabetisierte Regionen, die Rom nicht zu nahe sind. Den drei Phasen der Reformation entsprechen also drei geographische Zonen: Mitteleuropa, Nordeuropa und Westeuropa. Ein viertes Europa, Südeuropa, wird vom Protestantismus ganz einfach nicht erreicht, der in Italien, Spanien und Portugal unbedeutend bleibt. Zu diesem stabil katholischen Süden muss man das Frankreich des Pariser Beckens und des Westens hinzurechnen, ebenso wie Irland.
Die Existenz einer langen Grenzzone, die von Belgien bis Österreich geht, durch das rheinische Deutschland, durch die Zentral- und Südschweiz, muss auch erwähnt werden. Dort entwickelt sich ein früher Protestantismus, der von den politisch-militärischen Kräften der katholischen Welt schnell bekämpft und beherrscht wird. Das Habsburger Reich mit seinem spanischen Zentrum dient der Kirche als weltlicher Arm. In dieser ganzen Zone ist die Alphabetisierung ziemlich oder sehr fortgeschritten (für die damalige Zeit), aber die Macht der römischen Kirche, die in einer fast militärischen Form anwesend ist, wirkt sich im Sinne des Konservatismus aus.
Ohne die Gesamtheit des religiösen Phänomens zu erklären, definieren die Alphabetisierung und die geografische Position in Bezug auf das Paar Rom/Wittenberg die notwendigen Bedingungen für die Entstehung des Protestantismus oder, genauer, für die irdische Komponente des Protestantismus, die die Freiheit und Gleichheit der Menschen vor den Priestern will und folglich Rom ablehnt. Aber man kann leicht zeigen, dass dieser Kausalzusammenhang nicht ausreichend ist, der manche Ablehnungen des Protestantismus schlecht erklärt. Der Fall Nord- und Mittelitaliens ist besonders schlagend. Die Entwicklung des Buchdrucks und damit der Alphabetisierung hat dort beinahe ebenso frühzeitig und stark eingesetzt wie in Deutschland, aber der Lutherismus setzt sich dort nicht durch. Er bleibt sogar unbedeutend in diesem kulturell und sozial sehr dynamischen Universum, das sich seit mehr als zweihundert Jahren in der Renaissance befindet und in dem die Fähigkeit zu lesen, sich weit über den Klerus hinaus verbreitet hat. Nord- und Mittelitalien sind sehr nahe an Rom und diese geografische Lage könnten ihre religiöse Unbeweglichkeit erklären. Aber sie ist so nahe, dass man in ihrem Fall nicht von einem von der Kirche ausgeübten Druck sprechen kann. Das Italien der damaligen Zeit ist Rom. Seine Universitäten liefern der Kirche und dem Konzil von Trient seine Theologen und seine intellektuelle Lebendigkeit. Es ist das Herz der Gegenreformation so wie Deutschland das Herz der Reformation ist.
Eine andere Version desselben Problems ist der Fall Nordfrankreichs, auf kulturellem Gebiet ebenso fortgeschritten wie Südfrankreich, weiter von Rom entfernt (als Italien), näher an Deutschland, und doch wird es sehr schnell eine Bastion des antiprotestantischen Kampfes, der Ort, an dem die katholische Liga entsteht.
In Wirklichkeit stellen nur drei Fälle der Treue zu Rom kein Problem dar: der Fall Irlands, kulturell sehr verspätet und weit von Deutschland entfernt, die Fälle Spaniens und Portugals, die sehr mittelmäßig entwickelt und relativ nahe an Rom sind. Anderswo reicht die Interpretation mit kulturellen und geografischen Bedingungen nicht aus.
Warum? Weil der Protestantismus nicht nur die religiöse Gesellschaft reformiert, die Beziehung der Christen zur Kirche, sondern auch die religiöse Metaphysik, die Beziehung des Menschen zu Gott. Nun existieren aber die günstigen Bedingungen für diese metaphysische Unternehmung in Deutschland, in der Schweiz, in Südfrankreich und in Schweden, die in Italien oder in Nordfrankreich fehlen, in Regionen, deren kulturelles Entwicklungsniveau die Entstehung des Protestantismus erlaubt hätte, in denen aber ein verdeckter metaphysischer Faktor sich dem lutherischen Ideal der Beziehung des Menschen zu Gott entgegenstellt.
Die Stammfamilie und die Akzeptanz der protestantischen Metaphysik
Die Vielfalt der europäischen Familiensysteme erlaubt es, die Verschiedenartigkeit der regionalen Reaktionen auf die Verbreitung der protestantischen Metaphysik zu verstehen. Es gibt nämlich notwendige Beziehungen zwischen familiären Werten und religiösen Werten. Die protestantische und die katholische Metaphysik spiegeln jede getreu die Werte eines der beiden wichtigsten Familiensysteme Westeuropas wieder: die Reformation findet ihre Punkte einer fundamentalen Unterstützung in den Regionen der Stammfamilie, die Gegenreformation etabliert sich in Ländern der egalitären Kernfamilie.
Die Familienstruktur kodifiziert die Beziehungen der Kinder zum Vater und die Beziehungen zwischen Brüdern; die religiöse Metaphysik bringt die Beziehung der Menschen zu Gott und der Menschen untereinander zur Sprache. Aber die Werte von Autorität oder von Freiheit, von Gleichheit oder Ungleichheit können von der Familienebene ohne größere konzeptionelle Schwierigkeit auf die metaphysische Ebene gleiten. Der Autoritarismus (oder die Liberalität) des Vaters wird derjenige Gottes; die Ungleichheit (oder Gleichheit) der Brüder wird diejenige der Menschen. Man kann also eine ziemlich einfache Hypothese formulieren über die regionalen Reaktionen auf die protestantische Metaphysik und die katholische Gegen-Metaphysik. Die protestantische Vorsehung, die Idee eines allmächtigen Gottes und die Idee von Menschen, die angesichts der Errettung ungleich sind, ist dort leicht akzeptiert worden, wo vorher schon eine Familienorganisation existierte, die einen autoritären Vater und ungleiche Brüder einschloss, das heißt, in den Ländern der Stammfamilie. Symmetrisch dazu ist die gegenreformatorische Doktrin der Gleichheit der metaphysischen Chancen und des freien Willens dort verteidigt worden, wo vorher schon eine Familienorganisation existierte, zu der ein liberaler Vater und gleichwertige Brüder gehörten, das heißt, in den Zonen der egalitären Kernfamilie.
Man findet hier das klassische psychoanalytische Thema von Gott als Abbild des Vaters wieder, aber in einer relativierten Form. Freud glaubte tatsächlich an die Einheitlichkeit der Familie, und er war sich in keiner Weise einer möglichen Vielfalt der Familientypen bewusst, die eine Vielfalt der Vaterbilder und in der Folge der Bilder von Gott nach sich zieht. Die Identifikation Gottes mit dem Vater kann übrigens, wenn man es rational betrachtet, nicht als bedeutende Entdeckung Freuds betrachtet werden, weil die christlichen Theologien in diesem Punkt sehr explizit sind. Gott ist der Vater, die Menschen sind seine Kinder, eine Vorstellung, die nicht nur für den traditionellen Katholizismus typisch ist, sondern auch für den ausgefeiltesten Calvinismus. Die Beschreibung, die Calvin vom metaphysischen Mechanismus der Vorsehung abgibt, enthüllt einen expliziten Familienbezug: die Menschen werden mehrfach als „die Kinder Gottes“ vorgestellt[1]. In gewissem Sinne lieferte die Geschichte von Jakob und Esau, wiederaufgenommen von Luther und Calvin, direkt den Schlüssel zum protestantischen Mysterium. Sie definiert ein metaphysisches System, eine Beziehung der Menschen zu Gott, die Vorsehung, die eine Unterwerfung unter das Ewige und die Ungleichheit vor dem Heil einschließt. Aber sogar der Ablauf des Berichts setzt die Existenz eines bestimmten Familiensystems vom Typ Stammfamilie voraus, das väterlichen Autoritarismus und die Ungleichheit der Kinder kombiniert. Hier tritt der Vater doppelt auf, die Schnittstelle Familie/Metaphysik wird explizit: es gibt Isaak, den irdischen Vater, es gibt Gott, den himmlischen Vater. Geleitet vom Ewigen verschiebt Isaak in einem Akt absoluter Autorität das Erstgeburtsrecht, das heißt, die Ungleichheit. Die protestantische Metaphysik ist nur verständlich und akzeptabel für Bevölkerungen, die es gewohnt sind, im Stammfamiliensystem zu leben, eine starke väterliche Autorität zu erdulden und eine markante brüderliche Ungleichheit zuzulassen.
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[1] Institution de la religion chrétienne, Band 3, S. 86, 91
Die Deformation: Die absolute Kernfamilie und der Arminianismus
Widerstand gegen den Protestantismus: die egalitäre Kernfamilie