Es geht um Deutschland

Emmanuel Todd sieht Deutschland als den Großen Preis des Krieges in der Ukraine und Europa in tiefer Verwirrung.
Im Interview mit der Weltwoche hat er die Ursachen des Krieges, den Einsatz und die Folgen analysiert: ein Weltkrieg.
Dieser Blogbeitrag vergleicht seine heutigen mit früheren Aussagen Emmanuel Todds und den eigenen Veröffentlichungen.

Wegen der irrwitzig-absurden Corona-Politik blieb 3 Jahre lang kaum noch Zeit für die Ideen und Veröffentlichungen von Emmanuel Todd. Ich habe auch immer wieder nach seinen Äußerungen gesucht, aber nichts gefunden. Die Hintergründe offenbart er selbst in seinem jüngsten Interview, ausgerechnet und exklusiv in einer deutschsprachigen Zeitung:

Dieses Interview hat es nun wirklich in sich: Todd schwimmt mal wieder komplett gegen den Strom der veröffentlichen Meinung, er korrigiert in einigen wichtigen Punkten seine früheren Einschätzungen und bestätigt einige von denen, die ich in der Zwischenzeit hier auf dem Blog veröffentlicht habe.

Bei der Weltwoche registrieren und selbst lesen

Zunächst einmal empfehle ich jedem Selberdenker, den Text des n.m.E. brillanten Historikers, Demografen und Sozialanthropologen selbst und ohne Interpreten bei der Weltwoche zu lesen und zu bedenken.
Diese lesenswerte Schweizer Zeitung bietet die Möglichkeit, sich direkt unter dem Artikel zu registrieren und dann bis zu 5 kostenpflichtige Artikel kostenlos zu lesen. Dieses exklusiv auf Deutsch gegebene Interview ist es wert, einer der fünf Beiträge zu sein.
Man findet das Interview darüberhinaus auch als PDF im Netz, wenn man das nicht will oder seine 5 kostenlosen Beiträge bereits verbraucht hat.

Inhalte und Abgleich

Ich stelle hier eine kleine Liste von Inhalten zusammen und gleiche sie mit früheren Blogbeiträgen von mir ab, die ich mit oder ohne Inhalte meines Lieblingssozialwissenschaftlers Emmanuel Todd geschrieben habe:

Interview exklusiv auf Deutsch

Todd berichtet, dass er sich in Frankreich und auf Französisch nicht zum Ukraine-Krieg geäußert hat:
„Frankreich spielt in diesem Krieg keine Rolle. Sein Gewicht ist null. Macron redet, Macron reist – alle lachen über Macron. Er ist nicht der Schlimmste, denn er ist bei weitem nicht der Russenfeindlichste“
„Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich völlig anders denke und fühle als meine Zeitgenossen. Darum habe ich mich nicht mehr geäußert“
„Ihnen gebe ich das erste Interview, denn Sie schreiben auf Deutsch. In diesem Krieg geht es um Deutschland
Außerdem habe er in Japan einen Bestseller zum Ukraine-Krieg veröffentlicht, weshalb er gerade dort unterwegs war.

Mitgefühl mit den Deutschen

Ich habe sehr viel Mitgefühl mit den Deutschen…
Deutschland ist ein Land, das sich vom Krieg losgesagt hat. Ein Land praktisch ohne Armee. Das so wenig Kinder zeugt, dass seine hauptsächlichste Sorge darin besteht, Arbeitskräfte für die Erhaltung seiner Industrie ins Land zu holen…
Deutschland hingegen hat seine Industrie aufrechterhalten. Es interessiert sich nur für die Wirtschaft. Seine Logik war: Russland liefert Gas, unsere beiden Länder sind komplementär. Und seit 1945 sorgt Amerika in einer Welt, für die wir keine Bedrohung mehr sein wollen, für unsere Sicherheit. Aus dieser durch und durch rationalen Überlegung heraus entstand das Projekt Nord Stream. Es ging darum, die von der Ukraine und Polen erhobenen Abgaben zu umgehen. Deutschlands Tragödie besteht darin, dass es noch immer daran glaubte, von den Vereinigten Staaten beschützt zu werden

Ich habe bereits früher darauf hingewiesen, dass Todd keineswegs germanophob ist, nur kritisch bezüglich der Schattenseiten deutscher Tugenden.

Amerika als Gegner Deutschlands

Im Interview fährt er fort:
„Zbigniew Brzezinski hatte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in «Die einzige Weltmacht» Eurasien als neues «großes Schachbrett» der Weltpolitik bezeichnet. Die russischen Nationalisten und Ideologen wie Alexander Dugin träumen tatsächlich von Eurasien. Auf diesem «Schachbrett» muss Amerika seine Vorherrschaft verteidigen – das ist die Doktrin Brzezinskis. Also die Annäherung von Russland und China verhindern. Die Finanzkrise von 2008 hat deutlich gemacht, dass Deutschland mit der Wiedervereinigung zur führenden Macht in Europa wurde und damit auch ein Rivale der USA. Bis 1989 war es politisch ein Zwerg. Nun ließ Berlin seine Bereitschaft erkennen, sich mit den Russen einzulassen. Der Kampf gegen diese Annäherung wurde zu einer Priorität der amerikanischen Strategie. Dass sie das Gasabkommen torpedieren wollten, hatten die USA stets deutlich gesagt. Der Ausbau der Nato in Osteuropa war nicht in erster Linie gegen Russland gerichtet, sondern gegen Deutschland.
Deutschland, das seine Sicherheit Amerika anvertraut hatte, wurde zur Zielscheibe der Amerikaner. Ich empfinde sehr viel Mitgefühl für Deutschland. Es leidet an diesem Trauma des Verrats durch den beschützenden Freund – der 1945 auch ein Befreier war“

Die Möglichkeit, dass es genau so kommen könnte, hatte Todd bereits 2014 ziemlich genau und treffsicher skizziert:
„Man muss also etwas ganz Anderes ins Auge fassen für die kommenden 20 Jahre als den Ost-West-Konflikt: der Machtzuwachs des deutschen Systems legt nahe, dass die USA und Deutschland auf einen Konflikt zulaufen. Das entspricht einer intrinsischen Logik, die auf den Kräfteverhältnissen und der Dominanz basiert. Es ist nach meiner Meinung unrealistisch, sich ein friedliches Einverständnis für die Zukunft vorzustellen

Ursache des Krieges

„Der Westen hat Russland provoziert. Der amerikanische Politologe John Mearsheimer hat nüchtern festgehalten, dass die Zusammenarbeit der Briten und Amerikaner mit seiner Armee die Ukraine faktisch zum Nato-Mitglied machte. Sie wurde aufgerüstet, um Russland anzugreifen. Putins Angriff war eine defensive Invasion. Er hatte diese Reaktion angekündigt und mit Krieg gedroht…
Mearsheimer argumentierte, dass die Ukraine für Russland von
existenzieller Wichtigkeit sei. Den Sieg Putins hielt er für eine Gewissheit. Er dachte aber auch, dass die USA die Ukraine aufgeben würden. In diesem zweiten Punkt irrte er sich. Dieser Krieg ist auch für sie von existenzieller Wichtigkeit: Falls Russland gewinnt, bricht das imperiale System der Vereinigten Staaten zusammen. Ihre Verschuldung ist phänomenal. Zur Erhaltung ihres Wohlstands sind die USA auf den Tribut der anderen Länder angewiesen“

„Ich leide wegen der Ukraine, es ist schrecklich, was ihr angetan wird. Sie war nie wirklich das Problem. Am Anfang ging es darum, die europäische Wiedervereinigung unter deutscher Vorherrschaft zu vereiteln. Die geostrategischen Beziehungen belegen es. Die Wahrheit der Nato sieht so aus: Sie besteht aus der Achse Washington–London–Warschau–Kiew. Deutschland und Frankreich sind ihre Juniorpartner, mit ihrer vorherrschenden Stellung in Europa ist es vorbei. Die Polen und die Ukrainer beschimpfen und beleidigen permanent die Deutschen. Für sie ist das unerträglich. Die Macht, die sie zu beschützen vorgab, hat nichts unversucht gelassen, um die vorherrschende Stellung Deutschlands in Europa zu zerschlagen. Deutschland befindet sich in einer Lage, die es in kognitiver Hinsicht überfordert“

Weltwoche: Was sagt die Demografie über die Ukraine aus?
Todd:
Es hat seit 2001 keine Volkszählung gegeben. Die Bevölkerung nimmt rapide ab. Welche Regionen sind betroffen, wer ist ausgewandert, wer ist geblieben? Man weiß es nicht. Heute wird das Land als angehende Demokratie verklärt. Zu Beginn des Kriegs war es ein failed state und völlig korrupt. Die Ukraine wird fremdfinanziert, sie ist kein klassischer Staat mehr. Das wenige, was ich weiß: Das Land ist fähig, Krieg zu führen. Aber ich habe keine Ahnung, wie es funktioniert. Kaum war es befreit, weigerte es sich, die Kontrolle über die russischen Gebiete abzugeben. Das ist ein bekanntes Verhalten, diesen Fall hat es zwischen den Weltkriegen mehrfach gegeben. Der Anspruch der Ukraine, zwei relativ kleine Regionen gegen deren Willen und jenen des zehnmal mächtigeren Nachbarn Russland behalten zu wollen, ist nicht vernünftig. Er ist absurd. Russland verlangte Garantien für seine Sicherheit. Und es forderte für die russischen Bevölkerungen im Donbass und auf der Krim, die wirklich russisch sind, ein Leben, das ihre kulturelle Autonomie respektiert. Dieser Krieg hätte nicht ausbrechen dürfen. Wie alle Kriege.“

Wer hat Nordstream gesprengt?

„Natürlich die Amerikaner. Aber das ist völlig unwichtig. Es ist normal“

„Die Deutschen wollten nicht in den Krieg. Scholz, der mir ein sehr vernünftiger Mensch zu sein scheint, wurde kritisiert, weil er sich nicht engagieren wollte. Krieg ist grauenhaft, scheußlich, ekelhaft, schrecklich.
Die Deutschen wissen nur zu genau, dass Nord Stream von den Amerikanern
zerstört wurde. Durch eine gemeinsame militärische Aktion der Amerikaner,
Briten und Polen. Gegen Deutschland. Aber sie können es nicht sagen. In Tat
und Wahrheit sind die Deutschen von den Amerikanern angegriffen worden.
Man wollte sie vom russischen Gas abkoppeln“

Das ist natürlich die rationalste Erklärung und sie ist sehr gut bestätigt:

Todd hält es für faszinierend, dass Gesellschaften so verwirrt sein können, dass sie etwas Anderes glauben:
„Wichtig ist die Frage: Wie kann eine Gesellschaft glauben, dass es die Russen
gewesen sein könnten? Wir haben es hier mit einer Umkehrung der
möglichen Realität zu tun. Das ist viel schlimmer. Das Studium einer solchen
Gesellschaft ist faszinierend. Darüber schreibe ich jetzt ein Buch. Es wird
mein letztes sein. Meine Tätigkeit als Autor begann mit dem Essay über den
Zusammenbruch der Sowjetunion. Ich will sie mit einem Werk der Vernunft
über den dritten Weltkrieg abschließen“

Der Westen, Europa und Deutschland sind verwirrt

„Der Westen hat die Russen völlig unterschätzt, sein intellektuelles Defizit ist erschreckend“

„Das Verhalten des Westens ist für mich ein einziges Rätsel…
Die Zeitungen erzählen uns, wie die Russen auf Gefängnisse schießen, die sie besetzt haben. Dass sie Atomkraftwerke beschießen, die sie vor Ort kontrollieren. Dass sie Pipelines in die Luft jagen, die sie selber gebaut haben“

Die Europäer schwadronieren von Frieden und der Verbreitung ihrer humanistischen Werte ohne Armee. Das geopolitische Denken ist ihnen abhandengekommen. Zwischen der offensiven Strategie der Amerikaner und der defensiven Strategie der Russen befinden sich die Europäer in einem atemberaubenden Zustand der geistigen Verwirrung. Das gilt ganz besonders für Deutschland“

„Einerseits ist das Zusammenspannen der chinesischen und deutschen Wirtschaft vernünftig. Und weil China langfristig ein Verbündeter der Russen bleiben wird, bedeutet es auch, dass Deutschland nicht vollständig im westlichen Lager aufgeht. Gleichzeitig wird diese provozierende Reise nach China durch die Anerkennung des Holodomor als Genozid kompensiert. Das ist grotesk. Im Kontext eines beginnenden dritten Weltkriegs will das deutsche Parlament darüber bestimmen, was ein Genozid ist und was nicht. Die Deutschen sind sich der Tragweite dieses Schritts nicht bewusst. Sie setzen damit den Holodomor – der, nebenbei gesagt, proportional weniger Tote forderte als die Große Hungersnot in Irland – auf eine Stufe mit der Shoah. Mit ein bisschen Boshaftigkeit könnte man die Abstimmung im Bundestag als antisemitisch bezeichnen. Dass sie Auschwitz relativiert. In diesem Krieg hat man den Eindruck, als wolle die Welt Deutschland in den Wahnsinn treiben“

„Allerdings wünschte ich mir, dass die Deutschen begreifen würden: Die Seite des Guten, auf der sie stehen möchten, ist diesmal nicht jene der Vereinigten Staaten. Das Gute bedeutet: diesen Krieg beenden. Aber als Historiker analysiere ich ihn ohne Sentimentalität“

„Die Deutschen tun so, als würden sie zum Westen gehören. Auch das ist Teil ihrer Neurose. Durch den Krieg ist die führende europäische Wirtschaftsmacht wieder zu einem verängstigten, bevormundeten Protektorat geworden. Aber ich kann die Deutschen sehr wohl verstehen. Auch mich hat dieser Krieg in eine tiefe Sinnkrise gestürzt…
Ich dachte immer, wir, die Franzosen, seien Dummköpfe. Und ich tröstete mich mit England, wo drei meiner Enkel leben. Ich habe in Cambridge studiert, es ist meine geistige Heimat. Aber heute ist England ein verwirrtes Land im Untergang. Seine Presse und seine Regierung frönen einem Kriegsdelirium, wie es nicht einmal in Deutschland zu beobachten ist.
Bei allem, was ich in den letzten Jahrzehnten geschrieben habe, auch zum
Irakkrieg: Nie habe ich die Engländer auch nur mit einem einzigen Wort
kritisiert. Jetzt bringen sie mich zur Verzweiflung“

Das ist allerdings nachvollziehbar. Seine Bewunderung für England war enorm und hat sich als übertrieben bis unbegründet herausgestellt: Die Brexit-Hoffnungen liegen in Trümmern, sind fast schon vergessen. Der Ukraine-Krieg scheint als einzige Hoffnung auf Größe übrig zu sein.

Amerikaner und Russen denken rational und brutal

Weltwoche: Der Realitätsverlust unterscheidet Europa von den Russen?
Todd:
Auch von den Amerikanern, die sehr wohl wissen, was sie tun. Ihre Vorstellung von Macht ist klar und zynisch. Zur Durchsetzung ihrer Interessen haben sie immer wieder Kriege geführt – auch angezettelt. Sie können Putin sehr wohl verstehen. Auch die Russen sprechen von Machtverhältnissen, aber ihre Sprache ist defensiv

„Was in Russland passiert, ist mir völlig klar. Ich verstehe Putins Denken und Handeln und kann es in drei Minuten erklären. Die Russen sind brutal und rational, sogar ihre Lügen sind quasi vernünftig“

Mir war sehr früh aufgefallen, dass Russen und Amerikaner bei den nackten Fakten über den Krieg übereinstimmen.

Wie geht es weiter?

Mit Weltkriegen ist es immer dasselbe: Es kommt völlig anders, als man denkt. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren alle überzeugt, dass er sehr schnell vorbei sein würde. 1940 galt die Maginot-Linie als unüberwindbar und Frankreichs Armee als stärkste der Welt. Diesmal herrschte die Vorstellung von den übermächtigen Russen. Völlig unerwarteterweise hat die ukrainische Armee dem Angriff standgehalten –dank der Unterstützung. Die Sanktionen wurden in der Überzeugung erlassen, dass sie Russland in die Knie zwingen würden. Aber seine Wirtschaft ist nicht zusammengebrochen. Kein Mensch kann das erklären. Das Bruttosozialprodukt von Russland – Belarus inbegriffen – beträgt 3,3 Prozent des gesamten Bruttosozialprodukts des Westens. Gegenüber dem Dollar hat der Rubel seit Ausbruch des Kriegs um 23 Prozent zugelegt, 36 Prozent gegenüber dem Euro. Inzwischen stellt sich nicht mehr die Frage, ob die russische Wirtschaft widerstehen kann. Sondern die europäische“

„Auf beiden Seiten kommen zusehends weniger hochentwickelte Waffen zum Einsatz, man kann nicht abschätzen, welche Seite zuerst aufgeben wird. Der Krieg macht das fundamentale Problem der Amerikaner bewusst: Es fehlt ihnen an Ingenieuren. In den USA werden 7 Prozent der Studenten zu Ingenieuren ausgebildet. In Russland sind es 25 Prozent“
Weltwoche: Bei einem vergleichbaren intellektuellen Niveau?
Todd:
„Es ist in Russland zweifellos höher. Die Amerikaner kompensieren ihr Defizit mit der Einwanderung. Die Hälfte der amerikanischen Wissenschaftler und Ingenieure kam außerhalb des Landes zur Welt. Es handelt sich vor allem um Inder und Chinesen. Man kann sich ausrechnen, was passiert, falls China die Auswanderung seiner Studenten verbietet. Die Waffenindustrie ist auf Ingenieure angewiesen. Auch eine moderne Armee besteht aus Ingenieuren. Ich habe Putins Texte gelesen. Er weiß um die Schwäche der Amerikaner und die Deindustrialisierung. Ihm ist bewusst, dass ihre Wirtschaft zum Teil auf fiktiven Werten beruht und sie ihren Wohlstand der Notenpresse verdanken. Deshalb hat er es gewagt, sie anzugreifen. Ich habe keine Ahnung, wie es sich mit dem gegenwärtigen Kräfteverhältnis verhält. Die Nato ist dabei, ihre Bestände zu verbrauchen. Russland genauso. Trotz seines lächerlich kleinen Bruttosozialprodukts ist es in der Lage, den Amerikanern zu widerstehen“

Weltwoche: Putin und die Russen sind intelligenter?
Todd:
„Ihre Strategie setzt auf die «longue durée» des amerikanischen Niedergangs. Amerika kompensiert ihn mit dem Druck auf seine alten Protektorate. Die Kontrolle über Europa – vor allem Deutschland – und Japan ist zu seiner Priorität geworden. Gegen seinen Krieg im Irak hatten Chirac, Schröder und Putin an einer gemeinsamen Pressekonferenz protestiert. Seither hat Amerika das erreicht, was man auf Deutsch die «Gleichschaltung» Europas nennt. Der Rest der Welt aber hält es mit Russland. Als es kommunistisch war, verbreitete es Angst und Schrecken. Es war atheistisch, imperialistisch. Heute steht Russland für eine konservative Weltsicht und verteidigt die Souveränität der Völker und Nationen, die alle ein Recht auf Existenz haben“

Weltwoche: Und jetzt ist es ein Weltkrieg.
Todd:
„Wenn Russland überlebt, den Donbass und die Krim behält, wenn seine Wirtschaft weiterhin funktioniert und es seine Handelsbeziehungen neu gestalten kann, mit China und Indien – dann hat Amerika den Krieg verloren. Und in der Folge wird es seine Alliierten verlieren. Deshalb werden Amerika und die Nato weitermachen. Und darum handelt es sich um einen Weltkrieg, der andauern wird. Seine hauptsächlichste Ursache ist die Krise des Westens“

„Der Westen hat seine Werte verloren und befindet sich in einer Spirale der Selbstzerstörung. Europa gerät wieder unter die amerikanische Herrschaft. Wegen seiner schwachen Demografie wird nicht China die Welt beherrschen, sondern Indien zur Supermacht aufsteigen. Russland ist im Begriff, sich als kulturell konservative, in technischer Hinsicht fortschrittliche Großmacht neu zu bestimmen. Doch obwohl es die traditionellen Werte der Familie verteidigt und die LGBT-Bewegung bekämpft, wird seine Geburtenrate nicht besser. Das bedeutet, dass es bereits in der gleichen metaphysischen Krise steckt wie der Westen“

Über die indische Stärke und Strategie habe ich im Juni 2022 einen Beitrag geschrieben, der damit voll kompatibel ist.

Eine Warnung zum Schluss

„In der Ukraine führen sie gegeneinander Krieg. Wenn er nicht gestoppt wird, werden ihn alle verlieren“

Nachtrag 15.1.2023
Am 12.1. hat auch der Figaro ein Interview mit Emmanuel Todd veröffentlicht.
Mathias Bröckers hat Auszüge auf dem Umweg über das Englische auf Deutsch gebracht.
Wer lieber die englische Zusammenfassung von Arnaud Bertrand liest, findet sie hier:

und hier.

Wir haben keinen Einfluss

Dieses Video-Fundstück einfach mal anhören und wirken lassen:

Ich gehe davon aus, dass Christian Lindner hier die Wahrheit sagt:
Die Landesregierung NRW hatte keinen Einfluss darauf, wie sie das Gerichtsurteil gegen die Ungleichbehandlung verschiedener Läden umsetzte. Die Entscheidung, alle Läden auf stärkere Gängelung statt auf Lockerung zu vereinheitlichen, kam aus Berlin (oder darüber), nicht aus Düsseldorf.
Die Landeskabinette werden noch nicht einmal anständig informiert. Das erinnert an alte Geschichten.
Und die Bundeskanzlerin hat offensichtlich zunehmend Probleme mit diesem inoffiziellen Überbügeln der Landesebene (Lindner: „Ausnahmezustand“) und würde es deshalb gerne formalisieren, die Länder also offiziell entmachten.
Der Angriff auf die verfassungsmäßige, föderale Ordnung kommt also von ganz oben.

Ausgangssperren

Und Lindner hat auch bei den Ausgangssperren Recht:

Das zeigt zum Beispiel auch der Vergleich mit Frankreich, wo seit dem 14. Januar landesweit eine Ausgangssperre ab 18:00 Uhr gilt. So haben sich seither die ‚Inzidenzen‘ in Deutschland und Frankreich auseinanderentwickelt: in die falsche Richtung!

Die Daten sind sehr eindeutig: es ist unmöglich, dass die Fallzahlen ein guter Indikator sind und Ausgangssperren gleichzeitig wirksam. Beides passt nicht zusammen, und daran krankt die gesamte Corona-Politik.

Corona in Frankreich

Ausgangspunkt dieser Betrachtungen ist eine sehr schöne Animation eines Soziologie-Professors, der alle Todesfälle eines Tages in Frankreich von 2000-2020 auf denselben Jahreskreis geplottet hat:

Tägliche Todesfälle in Frankreich 2000-2020

Man erkennt, dass sich die Zusatztoten 2020 (rote Linie), die (direkt oder indirekt durch diverse Behandlungsfehler) durch Corona verursacht wurden, in diesen 20 Jahren nur mit den Toten vom August 2003 vergleichen lassen, als eine außergewöhnliche Hitzewelle vor allem alte und geschwächte Menschen das Leben kostete. Neben der 1./Frühjahrswelle im März+April zeigt die rote Kurve auch die 2./Herbstwelle ab Ende Oktober. In den Jahren davor (2013-2016) gibt es auch einige auffallende saisonale Grippewellen von Januar-März, die aber höchstens halb so viele Opfer fordern wie die Corona-Frühjahrswelle 2020.

Corona und die Hongkong-Grippe

Der Ökonom Pierre Aldama hat zu dieser Animation die Jahre 1968-1999 hinzugefügt und ist zu folgendem Bild gekommen (Beschriftung von mir übersetzt und ergänzt):

Interessanterweise wurde erst im März 2020 ein Artikel veröffentlicht, der die Zahl der Todesfälle durch die Hongkong-Grippe (gelbe Kurve) in Frankreich nach einer Schätzung des Epidemiologen Antoine Flahault von 2003 auf 31000 in 2 Monaten bestimmte und feststellte, dass ihre Schwere damals in den frz. Medien drastisch unterberichtet und unterschätzt wurde. So wurde sie im Sommer 1969 für beendet erklärt, bevor sie in Europa richtig zugeschlagen hat und in Frankreich geschätzt ca. 1/4 der Bevölkerung krank wurde, ohne dass es irgendwelche Beschränkungen des öffentlichen Lebens gab.
Weltweit war die Hongkong-Grippe mit insgesamt 1 Million Toten eine der 9 großen Grippe-Epidemien, wurde aber von 1-5 Kategorien nur in Kategorie 2 eingeordnet, wobei diese aber nur einmal (von der Spanischen Grippe 1919: Kategorie 5) überschritten wurde.
Der frz. Wikipedia-Artikel zur Hongkong-Grippe ist erheblich ausführlicher als der deutsche. Wikipedia berichtet aber für Deutschland (BRD+DDR) von 52500 Personen, die an diesem Virus gestorben sind.

Erst die beiden Corona-Wellen von 2020 kamen in Frankreich gemeinsam wieder in diese Größenordnung, in Deutschland aber bei weitem nicht.
Auch im schwer betroffenen Frankreich ist die Corona-Epidemie also mit einer schweren Grippeepidemie vergleichbar, in Deutschland dagegen höchstens mit einer mittelschweren saisonalen Grippewelle.
Auffällig ist, dass beide Epidemien deutlich außerhalb der normalen Grippesaison (von Ende Dezember bis Ende März) zugeschlagen haben.

Hier die Gesamtsterblichkeit von Frankreich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern bis Ende November 2020:

Übersterblichkeit in schwerer von Corona betroffenen kontinentaleuropäischen Ländern

Gemeinsam mit Belgien, Spanien und Italien gehörte Frankreich zu den in Summe von beiden Wellen besonders hart getroffenen Ländern.
Im Vergleich dazu gab es in Deutschland, Dänemark oder Norwegen wenig oder kaum zusätzliche Todesfälle wegen Corona, deutlich weniger als durch die Grippewelle von 2018:

Maßnahmen hart und wenig wirksam

Die französischen Ausgangsbeschränkungen waren bereits in der 1. Welle besonders rigoros und verboten den Franzosen auch Waldspaziergänge mit der Familie. Im Frühjahr wurden Jäger von Politikern aufgefordert, Spaziergänger zu denunzieren, was für Empörung und Dementis sorgte. Trotzdem galten für Jäger selbst auch im Herbst wieder Sonderregeln.

Im Herbst gehörte Frankreich trotz der harten Maßnahmen vom Frühjahr und auch mit weniger Lockerungen über den Sommer (als in den Niederlanden oder Dänemark) bei den „Fällen“ (also positiven Corona-Tests) zeitweise wieder zu den stark betroffenen Ländern, bevor eine erneuter strenger Lockdown das Niveau leicht unter das niederländische, dänische und deutsche Nievau drückte:

Deswegen gilt Frankreich deutschen Hardlinern als Vorbild.
Bei den entscheidend zu vermeidenden Todesfällen dagegen hat Frankreich bisher weder das dänische, noch das niederländische, deutsche oder auch nur das schwedische Niveau erreicht:

Man kann also Frankreich auch gut als Beispiel anführen, dass der Lockdown nicht das hält, was sich seine Verfechter von ihm versprechen. Und das mit sehr starken Einschränkungen für die Bürger, viel härter als bisher in Deutschland, den Niederlanden oder gar Dänemark und Schweden. In den Niederlanden, Dänemark und Schweden ist besonders auffällig, dass sie im Verhältnis zu den „Fällen“ besonders wenige Todesfälle verzeichnen.

5 Jahre Ausnahmezustand

Mit mehrfach verlängerten Ausnahmezuständen ab 2015 wegen Terror und den Corona-Lockdowns leben die Franzosen inzwischen schon 5 Jahre mit kurzen Unterbrechungen im Ausnahmezustand. Was die Bedrohung von Rechtsstaatlichkeit und Freiheit angeht, wirkt das Corona-Regime also dort weiter, wo das Terror-Regiment noch lange nicht aufgehört hat. Der Corona- und der Terror-Komplex sind also nicht nur über das kommentierende Personal verbunden.

Im Schutz des Ausnahmezustands schlägt die Polizei brutal zu und sind Bürgerrechte stark eingeschränkt. Die Gewalt trifft keineswegs nur Minderheiten und die Regierung stellt sie nicht nur der facto straffrei, sondern wollte es auch de jure tun, indem sie Filmaufnahmen von Polizeigewalt unter härtere Strafe stellen wollte als die Gewalt selbst.

Risse durch Europa vertieft

Nach der Finanzkrise seit 2010 wird also die Spaltung und Krise Europas durch Corona vertieft. Das sieht auch dieser ARTE-Beitrag vom 10. November so:

Exkurs: Übersterblichkeit

Das französische Statistikamt hat diesen Plot der Sterblichkeit in Frankreich veröffentlicht:

2020 in Rot wie in der runden Darstellung ganz oben

lässt sich die 1. Welle im März und April 2020 nochmals separat im Ausschnitt tagesgenau plotten:

Tägliche Sterbezahlen im März und April 2020 im Vergleich mit Durchschnittswerten

Die Berechnung einer Übersterblichkeit hängt schon ganz naiv betrachtet vom Referenzniveau ab, hier zum Beispiel dem Durchschnitt der letzten 5 Jahre. Sie hängt außerdem vom Zeitfenster ab, hier März bis April. In diesem Zeitfenster wird die Übersterblichkeit von 18000 zwischen 16.3. und 25.4. durch die Untersterblichkeit vorher und nachher reduziert auf 16000. In diesem Fall von einer Übersterblichkeit von ca. 20000 Toten in den 40 Tagen der 1. Welle zu sprechen, ist also nicht ganz falsch.

Interview mit einem Experten beim statistischen Bundesamt über die Berechnung der Übersterblichkeit.

Nachtrag 16.12.2020
Am 5.1.1970, also in der noch nicht ganz beendeten Sterbewelle mit ca. 50000 Toten in Gesamtdeutschland veröffentlichte der SPIEGEL diesen launigen Bericht:

SPIEGEL über die Schrecken der Hongkong-Grippe

Die Zitate:

„Das beste Mittel dagegen ist viel Arbeit“, befand Münchens OB Hans-Jochen Vogel.
„Mit Einbruch des Winters auf der nördlichen Erdhälfte, so schlossen die WHO-Experten, würde sich ‚A 2-Hongkong‘ abermals in Europa ausbreiten.

Nachtrag 17.12.2020
Bereits im April hat die Abendzeitung über die Hongkong-Grippe in München berichtet: „hoffnungslos“ bei insgesamt 16 Toten in der Stadt

Nachtrag 28.12.2020
Dieser Schweizer Bericht aus einem französischen Pflegeheim ist sehenswert und erschütternd. Man sperrt die Menschen ein wie Vieh und kujoniert sie unter dem Vorwand, sie schützen zu wollen:

Beeindruckend, wie klar die alte Frau noch denkt und ihre selbstverständlichen Interessen formuliert.
Es gibt übrigens keine Hinweise darauf, dass die Lage in dt. Pflegeheimen grundsätzlich besser ist für die Insassen. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Maßnahmen den wirklich Betroffenen wenig nützen.

Nachtrag 19.4.2021
Gestern ist in der Wirtschaftswoche ein Interview zur Hongkong-Grippe erschienen. Gar nicht mal schlecht, aber mit merkwürdigem Titel: Es gab keinen Christian Drosten der 68er

Optimistische Vision der Nation

Am 24. Juni hat Radio France wieder ein Interview mit Emmanuel Todd gesendet, das sich auch direkt hier anhören lässt.

Ich übersetze das hier in Auszügen und stütze mich dabei auf diese Zusammenfassung in einem französischen Blog.

In Frankreich heißt regieren heute lügen

Die französischen Eliten funktionieren in einem Modus des Leugnens, des Surrealen, des Ankündigens. Um gewählt zu werden in Frankreich, muss man im Fernsehen auftreten, besser sein im Fernsehen. Und dann kommt man an die Macht, in den Elysée-Palast der Einfachheit halber, und kann nichts machen. Frankreich hat nicht die Option der Geldschöpfung. Die europäischen Regeln für die Wirtschaft verhindern jede Handlung zum Schutz der nationalen Industrien. Und am Ende findet man sich mit einer massiven Desindustrialisierung wieder und mit einer Arbeitslosigkeit von 10%. Und man kann nichts machen.

Regieren heißt, eine Wahl zu treffen, um die Formel von Mendès-France aufzunehmen. Aber heute in Frankreich heißt regieren lügen. Man lügt über die Vorzüge des Euro. Man lügt über den Wohlstand, den uns die Globalisierung bringen wird, über die Notwendigkeit der Öffnung der Grenzen….
Es ist schwierig für die Leute zu verstehen, aber man hat die Lüge klar vor sich gesehen. Das Virus – wenn man keine Masken hat, weil wir keine Industrie mehr haben, werden wir in flagranti beim Lügen erwischt. Jérôme Salomon [Direktor der Gesundheitsbehörde] erschien jeden Abend mit einer neuen Lüge, und ich war sehr überrascht, dass seine Nase nicht länger wurde.

Die Leute müssen verstehen, dass, wenn sie vom Euro reden, wenn sie von Grenzkontrollen reden, ich meine im kommerziellen Sinne, unsere Regierenden sich ungefähr ebenso sehr im Zustand der systemischen Lüge befinden, wie wenn sie uns vom Stand der Epidemie erzählen, von unseren Masken usw.

Die nationale Idee hat verlorenen Boden wiedergewonnen, aber es fehlt der Glaube an die Nation

Die Epidemie hat eine französische Regierung gezeigt, und viele europäische Regierungen, die außerstande ist zu handeln. Das Problem der Globalisierung und Europas, das ein Teil des Problems der Globalisierung ist, ist, dass sie die nationalen Regierungen außerstande setzt zu handeln. Die Leute spüren, verstehen das.

Die nationale Idee hat verlorenes Terrain wiedergewonnen. Das Problem ist, dass die nationale Idee eine kollektive Regung ist, die einen einen bestimmten Typ eines kollektiven Glaubens erfordert, der analog und ähnlich ist einem religiösen Glauben, der in Wahrheit alle Individuen in einem selben Glauben vereint.

Aber die sozialpsychologischen Entwicklungen der fortgeschrittenen Gesellschaften, gewisse Formen von Individualismus, der Rückzug von Glaubensbekenntnissen jeder Art, das universelle Gefeixe, das uns im Fernsehen so gut unterhält, alles das sorgt dafür, dass wir nicht handeln können. Wir sehen schon in den Meinungsumfragen, dass wir in Gefahr sind, dem traditionellen politischen Chaos ausgesetzt zu werden, mit einem Präsidenten, der durch Zufall gewählt wird und weil es sonst keinen gibt. Es gibt eine Art von psychologischer und sozialer Blockade der Gesellschaft, die sich nicht auf dem Niveau der Ideen befindet. Was sorgt dafür, dass wir unfähig sind, zusammen an ein gemeinsames Ziel zu glauben?

Wenn Frankreich seine Souveränität wiedergewinnen will, muss es sich auf alle seine Bürger stützen…einschließlich der 20%, die muslimische Vornamen tragen

Welche Probleme hat der Souveränismus in Frankreich? In dem, was die Souveränisten sagen, in der ökonomischen Analyse, der sozialen Analyse, der Konzeption einer Demokratie, die nur funktionieren kann im Rahmen einer Nation, und einer Geschichte, stehe ich ihnen sehr nahe. Aber wenn man die Milieus der Souveränisten kennt, wenn man die Leute sieht, die vom Souveränismus schreiben und die von ihm reden, wird einem klar, dass sie keine grundsätzlich optimistische und inklusive Vision der Nation haben.

Für mich gibt es eine Vorbedingung für die Renaissance der Nation und für den Austritt aus dem Euro, nämlich, dass bevor die französische Gesellschaft von ihr selbst wieder in die Hand genommen wird, von ihrem politischen System und ihren Bürgern, muss man laut und deutlich erklären, dass alle Leute, die da sind, unabhängig von ihrer Herkunft Franzosen sind. Man muss sich mit Optimismus auf die Frage des Islam und die Parallelgesellschaften einlassen. Man muss die Realität der kleinen Unterschiede akzeptieren, die weiter existieren. Wir müssen zurückkehren in eine etwas diversere und brüderlichere französische Welt als zuvor, in der die beinahe 20% der Leute, die muslimische Vornamen tragen, Franzosen sind.

In den souveränistischen Milieus – nicht in allen – ist die Kraft des Souveränismus oft ein wenig proportional zu dieser internen Xenophobie. Sie werden Leute finden, die Ihnen sagen, nach den Studien von Fourquet, dass 20% Franzosen mit ausländischen Wurzeln ein Riesenproblem sind.
Wenn sie denken, dass das ein Riesenproblem ist, ist Frankreich erledigt.
Eine Nation von der Größe Frankreichs muss sich, wenn sie ihre Souveränität wiedergewinnen will, auf alle ihre Bürger stützen. Das souveränistische Projekt, sofern es sich nicht als Priorität die optimistische Integration der Leute mit Migrationshintergrund in einer Art neuem Verbandsfest vornimmt, ist zum Scheitern verurteilt, und ich werde es im Wesentlichen ebenso lächerlich finden wie den Elitismus, die Herrschaft der Enarchen und die Proeuropäer.

Meine Anmerkungen

  1. Howgh, der Linksouveränist hat gesprochen!
  2. Er hat es aktuell für besonders nötig gefunden, diesen Zwischenruf abzusetzen
  3. Sein Standpunkt, dass in Frankreich lebende Migranten integriert werden müssen, wenn die franz. Nation eine Chance haben soll, ist kein Plädoyer für unbegrenzte Einwanderung, sondern für Pragmatismus
  4. Mein Respekt vor dem Denker Emmanuel Todd ist so groß, dass ich das hier wiedergebe, unabhängig davon, ob es mir schmeckt oder nicht:
    Es ist seine Meinung, und sie ist (wie eigentlich immer) bedenkenswert.

Filter für den Kraut

Alain Finkielkraut, der französische Publizist, der in Deutschland gerne als Philosoph vorgestellt wird, wurde in Paris von Leuten mit gelben Westen antizionistisch/antisemitisch beschimpft. So weit, so ungut. Es wurde in Frankreich und international sehr schnell in sozialen und auch den großen Medien verbreitet, dass der Haupttäter ein den Geheimdiensten bekannter Islamist ist. Nur in Deutschland gab es einige Medien und Journalisten, die zwar den Antisemitismus beklagen und die Gelbwesten diffamieren, aber dieses wichtige Detail unter den Teppich kehren wollten.
Bei der Instrumentalisierung immer ganz vorne dabei ist der Journalist mit dem Tweet ganz oben.

Lücken- und Lügen in der Presse

Der islamistische Hintergrund des Täters wurde u.a. im Tagesspiegel und beim Deutschlandfunk noch einen Tag nach dem Vorfall verschwiegen. Die Süddeutsche Zeitung verstieg sich sogar dazu, noch einen Tag später das Gegenteil der bekannten Fakten zu verbreiten:
SüddeutscheRot unterstrichen sind die ganz dicken Unwahrheiten wider besseres Wissen: Finkielkraut wurde nicht von einem rechts-nationalen Antisemiten, sondern einem islamistischen angepöbelt. Das konnte man schon auf dem frühen Foto des Verdächtigen ahnen. Der Bart ist auffällig:
Verdächtiger

Inzwischen wurde Benjamin W., der Täter (einer Beschimpfung, keiner Gewalttat übrigens) in Mulhouse im Elsass verhaftet. Die französischen Medien sind voll von seiner Geschichte, aber in Täuschland wird weiter aktiv nur das berichtet, was ins einfache Weltbild passt.

Aber auch über die grün unterstrichenen Passagen im Text der SZ erfährt man wenig Details. Warum? Weil Finkielkraut für den deutschen Mainstream ziemlich weit ‚rechts‘ steht und sein Wert als gutes Opfer darunter leiden würde, wenn das zu detailliert ausgeführt werden würde. Ein ‚Rechter‘ darf natürlich bepöbelt und manchmal (wie AfD-Mann Magnus in Bremen) auch zusammengeschlagen werden, bei einem ‚französischen Philosophen‘ machen das nur Barbaren, am besten ist es, wenn es, bitte, bitte! rechte Barbaren sind. So ein richtiger jüdisch-französischer Philosoph darf kein ‚Rechter‘ sein. Aber das ist er, und es ist sein gutes Recht.

Finkielkraut kommt einem
französischen Broder am nächsten

Finkielkraut gehört zu denjenigen französischen Juden, die seit langem den Antisemitismus islamischer Einwanderer beim Namen nennen und der Linken Kumpanei mit dem Islamismus vorwerfen. Finkielkraut gehört in dieser Frage eindeutig zur Rechten und ist damit unter den jüdischen Intellektuellen Frankreichs keinesfalls isoliert, sondern in bester Gesellschaft. Im Magazin ‘Causeur‘, in dem er publizistisch zuhause ist, ist diese Denkrichtung stark vertreten. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich hatte das Magazin seit einigen Jahren abonniert und natürlich auch die Beiträge von Finkielkraut gelesen. Zwei entsprechende Beiträge seiner Gesinnungsverwandten Luc Rosenzweig und Charles Rojzman aus demselben Magazin habe ich auf meinem Blog übersetzt und veröffentlicht. Weil sie deutsche Themen behandeln, kann sich jeder selbst überzeugen, dass sie nach deutschen Maßstäben eindeutig als `rechts‘ oder `zu rechts´ eingestuft werden würden, wenn sie denn Beachtung fänden. Das ist also das intellektuelle Umfeld von Alain Finkielkraut: völlig legitim, aber nach deutschen Maßstäben, nun ja, `umstritten´.

Finkielkraut würde selbstverständlich ein Gespräch mit Marine Le Pen und dem ‚Front National‘, der jetzt ‚Nationale Sammlung‘ heißt, führen können, ohne dafür in der Öffentlichkeit so angegangen zu werden wie Henryk Broder im Zusammenhang mit der AfD. Der inzwischen verstorbene Rosenzweig hat schon vor dem 1. Wahlgang angekündigt, Macron zu wählen, damals eine Lichtgestalt für die Mehrheit der deutschen Grünen und Sozialdemokraten. Und auch Macron selbst hat keine Berührungsängste mit Finkielkraut und Gleichgesinnten.
Solche Komplexitäten meinen zu viele deutsche Journalisten ihren Lesern vorenthalten zu müssen, damit sie nicht irre werden an den ganz einfachen Wahrheiten: links gut, rechts böse, immer.

Man muss Finkielkraut nicht mögen

um sich zu wundern über Verlogenheit und doppelte Standards in der deutschen Debatte. Finkielkraut ist ein Gegner des französischen Intellektuellen Emmanuel Todd, WerIstCharliedessen Ideen sich viele Beiträge meines Blogs widmen. Emmanuel Todd gilt als Verteidiger der Mehrheit der französischen Muslime und hat sich vor allem mit seinem Buch ‚Wer ist Charlie?‘ als solcher profiliert, bis hin zum Vorwurf antifranzösischer Umtriebe und dem Verlust vieler Freunde, weil er den ‚Je suis Charlie‘-Demonstrationen Heuchelei und die Vorspiegelung falscher Ideale vorgeworfen hat. Auch die von ‚Charlie Hebdo‘ veröffentlichten Mohammed-Karikaturen kritisierte er als billige Machwerke. Es sei ein Unterschied, ob sich eine Gesellschaft über die eigene, mächtige Mehrheitsreligion lustig mache oder über die Religion einer Minderheit. Einer der heftigsten und höhnischsten Kritiker dieses Buches war niemand anders als Alain Finkielkraut:

Dieses Buch ist grotesk. Ich bedaure, dass insbesondere der ‚Nouvel observateur‘ ihm den roten Teppich ausgerollt hat….Er glaubt, er könnte behaupten, was er will, und sagen, dass der Premierminister dumm sei. Das fällt auf uns Intellektuelle als Ganzes zurück…

Hier der O-Ton. Hier ein Bericht über die Heftigkeit der Kontroverse.

Und doch:
Auch wenn es ein schnell geschriebenes Buch und keines von Todds Meisterwerken ist, enthält es viele gute Einsichten, über die schwere Krise, in der sich die französische Gesellschaft befindet, nicht allein wegen der islamistischen Gefahr, sondern eben auch wegen der sozialen Krise, die diese verstärkt.

Eine offene und freie Gesellschaft muss sich sowohl einen Emmanuel Todd anhören können, als auch einen Finkielkraut, ohne seine Ansichten zu verstecken, damit er weiter ein gutes Opfer bleiben kann. Keiner von beiden hat etwas behauptet, das „die Grenzen der Meinungsfreiheit“ überschreitet, die man bei uns so viel häufiger zitiert als ihre Weite.

Finkielkraut-Aussagen

Für alle, die selbst lesen wollen, was Finkielkraut wirklich sagt und ob meine Behauptungen stimmen, gibt es ein aktuelles Interview in der ZEIT. Leider ist es inzwischen hinter die Bezahlschranke gerutscht, nachdem es anfangs frei war. Auch in der WELT gibt es einen kostenpflichtigen Artikel dazu:
Welt

Und dieser Aussage von Finkielkraut hat Todd ausnahmsweise schon 2016 zugestimmt: Deutschland im manischen Modus

Neben Henryk Broder gibt es mit Michael Wolfssohn noch einen zweiten deutschen Autor, der mit seinen Aussagen zum neuen Antisemitismus ziemlich nahe an dem liegt, was Finkielkraut seit Jahren vertritt.

Zu verhindern, dass diese Parallele für die Leser offensichtlich wird und sich damit die rigorose Ausgrenzung solcher Positionen in Deutschland nicht halten lässt, ist wichtigen deutschen Medien ein so dringendes Anliegen, dass sie auch fette Lücken und Lügen nicht scheuen.

Hintergründe des Aufstands der Gelbwesten

Der Aufstand der „Gelben Westen“ ist ein Aufstand des ländlichen Frankreichs und der französischen Arbeiterklasse. Er hat die Eliten völlig überrascht.
Das hätte nicht so sein müssen, denn Warnungen gab es genug, unter anderem von Christophe Guilluy. Der Wirtschaftsgeograph weist seit Jahren auf die Frakturen und schwerwiegenden sozialen Probleme der Gesellschaft als Folge einer neoliberalen Politik auf dem Rücken der Mehrheit der Franzosen hin. Eines seiner wichtigsten Bücher, das in Frankreich 2016 viel Aufsehen erregt hat, ist jetzt in englischer Sprache erchienen, unter dem Titel „Twilight of the Elites: Prosperity, the Periphery, and the Future of France“ (Yale University Press 2019) …Weiterlesen auf Norbert Härings Blog

Einige wesentliche Aspekte dieses jetzt offen ausgebrochenen Konflikts hat Emmanuel Todd bereits vor 20 Jahren in seinem Buch die ‚Ökonomische Illusion‘ mit folgenden Worten beschrieben:
‚Das Paris derjenigen mit einem Hochschulabschluss … hat sich entflammt für die Verteidigung der Rechte der Immigranten, nachdem es bewegt wurde durch die Probleme der illegalen Einwanderer ohne Papiere, aber es gelingt ihm immer noch nicht, sich für das Volk in den Provinzen zu interessieren, das gefoltert wird von einer Europa- und Wirtschaftspolitik, die nicht aufhört, die Arbeitslosigkeit steigen zu lassen

Entstehung der ‚Europäischen Kultur‘

In seinem jüngsten Buch von August 2017

OuEnSommesNous

„Wo stehen wir?
Eine Skizze der Menschheitsgeschichte“

hat der Historiker und Anthropologe Emmanuel Todd seine Betrachtungen zur Geschichte Europas und Amerikas aus früheren Büchern  einerseits nochmals in einem großen Bogen systematisiert und andererseits auf die Gegenwart ausgedehnt, um die dramatischen Ereignisse der letzten Jahre (Wirtschaftskrisen, dt. Migrationspolitik, Brexit und die Präsidentschaft Trump) zu erörtern.
Wichtige Grundlagen dafür sind die Werke, die ich auf diesem Blog bereits in längeren Auszügen besprochen habe: „Die Erfindung Europas“ und „Die ökonomische Illusion“.

In diesem Buch mit fast 500 Seiten gibt es nun einige Kapitel, in denen er sich besonders intensiv mit Deutschland beschäftigt und die ich deshalb in Auszügen auf meinem Blog vorstellen will.

Im ersten Auszug geht es um die Frage, wie, wann und wo das entstanden ist, was wir immer wieder einmal als Europäische Kultur (oder auch: Abendländische Kultur) bezeichnen. Als Zutaten identifiziert er in den Kapiteln 4-7:

  • das jüdisch-christliche Erbe
  • die christliche Neigung, die Sexualität zu zügeln und exogam zu heiraten, die sich in alle europäischen Familiensysteme eingenistet hat
  • im Zusammenhang damit die späte Heirat und Familiengründung der Europäer
  • die vor allem durch die Reformation beschleunigte Massenalphabetisierung
  • die dadurch angestoßene Zivilisierung des gesamten Lebens, die nach und nach u.a. zu einer drastischen Reduzierung der Totschlagshäufigkeit auf dem gesamten Kontinent geführt hat (im Vergleich zu früher und zum Rest der Welt)

Die Wiege, in der sich auf diese Weise irgendwann im 16. Jahrhundert die bis heute dominierende europäische Kultur initial entwickelt hat, stand für Todd in Deutschland, auch wenn spätere Schritte wie die Industrialisierung in England und die Demokratisierung in Amerika und Frankreich ihren Ausgang nahmen.

Ein Schlüsselkapitel über den Kern der europäischen Kultur ist das Kapitel 6, das ich deshalb hier teilweise übersetzt habe:

Die große europäische mentale Transformation

Wir würden falsch liegen, wenn wir im Lesenlernen nur den Erwerb einer Technik sähen. Man beginnt heute, die Erweiterung der Gehirnfunktionen zu ermessen, die durch eine  intensive und frühzeitige Gewohnheit zu lesen ausgelöst wird. Intelligente Kinder lernen gewiss leichter das Lesen. Aber es ist für das Verständnis der Menschheitsgeschichte noch wichtiger zu erfassen, dass insbesondere das Lesen die Kinder intelligenter macht. Wie die Aneignung einer Fremdsprache ist das Aneignen des Lesens vor der Pubertät einfach, danach schwierig. Man kann davon ausgehen, dass sich das Gehirn durch die Alphabetisierung verändert während einer entscheidenden Phase der Entwicklung des menschlichen Organismus.

Das Lesen schafft einen neuen Menschen. Es verändert die Beziehung zur Welt. Es erlaubt ein komplexeres Innenleben und bringt eine Transformation der Persönlichkeit mit sich, zum Besseren und zum Schlechteren. Vom 19. Jahrhundert an fiel den Gründern der „Statistik  der Sitten“ auf, dass mit schöner Regelmäßigkeit eine Erhöhung der Selbstmordraten auf diejenige der Alphabetisierungsraten folgte[1].

David Riesman hat 1950 in „Die einsame Masse“ eine schöne Beschreibung der psychischen Transformation gegeben, die das regelmäßige Ausüben des Lesens begleitet. Nach ihm trägt diese bei zur Transformation einer Persönlichkeit auf traditioneller Basis, die früher von der Konvention reguliert wurde, in eine neue Persönlichkeit, die durch einen inneren Kreisel  gelenkt wird.

„Der Mensch, der ‚von innen gelenkt‘ wird, der für die Vernunft offen ist auf dem Weg des Gedruckten, entwickelt häufig eine Persönlichkeitsstruktur, die ihn zwingt, länger zu arbeiten mit weniger Ruhezeit und Gemächlichkeit, als man davor für möglich gehalten hätte.“

David Riesman bezeichnet die Lektüre der Bibel durch die Protestanten als ein zentrales Phänomen. Das klassische Beispiel in der Geschichte des Westens ist natürlich die Übersetzung der Vulgata in die gesprochenen Sprachen, eine Übersetzung, die den normalen Leuten zu lesen erlaubt, was früher den Priestern vorbehalten war. Er beschreibt anschließend die Störungen, die durch diese Lektüre ausgelöst wurden: „Die übertriebenen Wirkungen, die ich im Sinn habe, sind diejenigen, die die Individuen betreffen, deren Spannungen und Schuldgefühle durch den Druck des Gedruckten vergrößert werden.“

Wie es häufig ist, ist es hier eher die Beobachtung der Geschichte als die psychologische „Wissenschaft“, die uns am besten erlaubt zu verstehen, was der Mensch ist. Das bildungsmäßige Durchstarten Europas wurde in der Tat begleitet von einer globalen und messbaren mentalen Transformation in vielen Bereichen: die Unterdrückung der Sexualität, der Rückgang der privaten Gewalt, die Entwicklung von Tischmanieren und die Entstehung einer Besessenheit von der Hexerei erlauben uns, die Entstehung eines neuen Menschen in West- und Mitteleuropa auf die Jahre 1550 – 1650 zu datieren.

Das „Modell der westlichen Ehe“ –
ein verspäteter Sieg der christlichen Ablehnung der Sexualität

Um die Wechselwirkung zwischen dem Erlernen des Lesens und der mentalen Transformation zu erfassen, wollen wir von dem ausgehen, was am eindeutigsten und einfachsten zu quantifizieren ist: die langfristige Entwicklung eines demografischen Parameters. Noch um 1930 passen die Karten der Alphabetisierung und des erhöhten Heiratsalters auf befremdliche Weise zusammen

Alphabetisierung1930

Heiratsalter1930

Für die Frauen überschreitet das mittlere Alter bei der Heirat 26 Jahre in einer Gesamtheit von Ländern, die ihr Zentrum in der lutherischen Welt und / oder in der Stammfamilie haben, zwischen Skandinavien und der Schweiz. Aber selbst in den protestantischen Ländern, in denen die Kernfamilie vorherrscht – England, Niederlande, Dänemark – überschreitet das mittlere Alter der Frauen bei der Heirat 25 Jahre. In den katholischen Ländern Europas stuft es sich ab zwischen 25 Jahren für Italien und 23 Jahren für Frankreich. Wir liegen hier, außer vielleicht im Fall Frankreichs, sehr weit über dem ursprünglichen Heiratsalter des Homo Sapiens, wie man es beispielsweise in den Gruppen von sesshaften Jäger und Sammlern oder bei den Bauern in den entferntesten Randlagen Eurasiens messen kann. Auf den Philippinen war das Alter bei der Heirat für die Frauen um 1948 22,1 Jahre bei den Tagalogs, 18,4 Jahre bei den Jäger und Sammlern Agta um 1980, wie wir im Kapitel 2 gesehen haben.

John Hajnal hat 1965 ein Modell der europäischen Ehe identifiziert, die einmalig ist durch ihren aufgeschobenen Charakter und die Bedeutung des endgültigen Zölibats. Das westliche Europa von Hajnal unterscheidet sich in diesen Punkten klar vom Rest der Welt, einschließlich Osteuropa, weil ja um 1930 in Polen, in Ungarn oder in Russland, um nur diese 3 Länder zu nennen, die Ehe viel frühzeitiger und das Zölibat sehr selten war [2]. Nach Hajnal wurde das europäische Modell charakterisiert durch ein Heiratsalter von Frauen, das über 23 Jahren lag, und noch öfter über 24, gegenüber weniger als 21 Jahren anderswo.

Hajnal hat das Erscheinen des europäischen Modells datiert, in dem er die Stammbäume von Familien aus Württemberg, aus Genf und des englischen Adels genutzt hat. Seine Schlussfolgerung ist sicher, aber vorsichtig: das Modell der europäischen Ehe existierte im Hochmittelalter nicht, müsste aber zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert das Licht der Welt erblickt haben. Wir können heute diese Schlussfolgerung verfeinern. Die Arbeit von Wrigley et Schofield erlaubt uns nicht, für das Heiratsalter weiter zurückzugehen als in die Jahre 1640-1649, aber sie liefert uns die ältere Entwicklung einer eng verwandten Variablen, des Anteils des endgültigen Zölibats. Nun stellen diese Forscher aber eine Erhöhung von 8 auf 24 Prozent des Anteils der niemals verheirateten Individuen von der Generation der um 1555 geboren zu der der um 1605 Geborenen  fest.

Wie für die anderen Variablen, die wir untersuchen werden, ist jedenfalls eine Verhaltensänderung im Hinblick auf die Ehe und die Sexualität spürbar zwischen 1550 und 1650.

Als er dieses fundamentale Element der europäischen Geschichte nachgewiesen hat, hat Hajnal trotzdem einen dreifachen Fehler begangen: er hat sein europäisches Modell kräftig nach Westen verschoben und dadurch zwei wesentliche erklärende Faktoren verfehlt, die lutherische Reformation und die Stammfamilie, d.h., ganz einfach das deutsche Herz der mentalen Revolution. Es ist wahr, dass Deutschland 1965, als die Hypothese von Hajnal ans Licht kam, besiegt und geteilt war. Die Wahrnehmung seiner geografischen und historischen Zentralität war kein Selbstläufer mehr. Man dachte in Kategorien der Ost/West-Konfrontation. 2017 in einer Europäischen Union, die von Deutschland dominiert wird, dürfte eine Rezentrierung der Hypothese von Hajnal nicht allzu schwer zu akzeptieren sein.

Lassen wir uns in die sehr lange Frist zurückversetzen, eher die christliche als die von Braudel[3]: die späte Heirat und das massenhafte Zölibat scheinen zwischen 1550 und 1650 endlich das alte Projekt der sexuellen Enthaltsamkeit umgesetzt zu haben, das mehr als ein Jahrtausend zuvor an den Ufern des Mittelmeeres von den Kirchenvätern ausgearbeitet worden war. Unsere Karten zeigen uns an, dass die lutherische Reformation die Initiatorin der Bewegung war und dass die katholischen Regionen in dieser Sache Nachläufer waren. Die Gegenreformation hat in der Tat ein analoges, aber etwas softeres Modell der Unterdrückung der Sexualität verfolgt. Merken wir jedoch an, dass in den Regionen der Stammfamilie, die katholisch geblieben waren – in Österreich, in Bayern, in einigen Schweizer Kantonen, in Norditalien oder in Irland – das Modell der Unterdrückung der Sexualität eine Macht erreicht hat, die der des protestantischen Modells würdig war.

Die Pfade der Disziplin

Die Erhöhung des Heiratsalters, einer zentralen mentalen Variable, ist Robert Muchembled nicht entgangen, da er ja seine Erhöhung im Artois zwischen dem 16. Jahrhundert und 1650 von 20 auf 25 Jahre bei den Frauen und von 24-25 auf 27 Jahre bei den Männern bemerkt hat[4]. Das wirkliche Thema von Muchembled ist jedoch die Bändigung der privaten Gewalt: im 13. Jahrhundert konnte sich die Rate von Mord und Totschlag auf bis zu 100 Fälle pro 100000 Einwohner belaufen gegenüber weniger als 1 heute in den meisten Ländern Westeuropas.

Auch hier müssen wir feststellen, dass zwischen 1600 und 1650 ein erster Knick die Rate von Mord und Totschlag halbiert hat. Im Gegensatz zu Hajnal verfehlt Muchembled das geografische Ziel nicht ganz, da ja nach ihm die Ausgangszone der protestantische Norden Europas ist, ein Pol, zu dem er Frankreich und die katholischen Niederlande hinzufügt:

„Der Rückgang der blutigen Gewalt in Europa beginnt im protestantischen Norden –Skandinavien, England, Vereinigte Provinzen – aber auch in Frankreich und den katholischen Niederlanden, bevor er sich zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert auf den ganzen westlichen Teil des Kontinents verallgemeinert. Da der initiale Trend ganz verschiedene Typen von Staaten betrifft, darunter wenig zentralisierte Staaten, könnte er nicht mit rein politischen Begriffen dadurch erklärt werden, dass die absolute Monarchie vorangetrieben wurde. Er ist auch nicht spezifisch protestantisch. Im Kern auf der Verantwortung und der Schuldhaftigkeit des Individuums beruhend zulasten des Gesetzes von der Schande und der kollektiven Ehre, findet sich die zugrundeliegende Ethik auch im katholischen Frankreich und in den spanischen Niederlanden, die von einer noch fordernden Form des barocken Katholizismus geprägt waren.“

Aber Deutschland ist immer noch nicht da, die bereits festgestellte Auswirkung eines  Rückstands der historischen Forschung zu diesem Land.
Wie auch immer es sei, die historische Demografie und die quantitative Geschichte der Gewalt bestätigen, indem sie sie erweitern, die ursprüngliche Intuition von Norbert Elias (1897-1990), der im Jahr 1939 in „Der Prozess der Zivilisation“ eine Veränderung der Gesamtheit der westlichen Verhaltensweisen offengelegt hatte, die von der Sexualität bis zu den Tischsitten reichte.

Die bewirkte Fortentwicklung des individuellen Verhaltens kann heute bis hierher als ein Fortschritt erscheinen: das ist klar im Fall des Lesenlernens und beim Rückgang des Gewaltniveaus, ein bisschen weniger wahrscheinlich bei der Erhöhung des Heiratsalters und der Zölibatsrate: die sexuelle Abstinenz wird heute nicht mehr als ein positiver Wert anerkannt. Aber erinnern wir trotzdem daran, dass die späte Heirat und der Zölibat die erste Etappe einer Kontrolle der Fruchtbarkeit bildeten, die eine gewisse Fähigkeiten zum Sparen begünstigten, eine notwendige Bedingung für das wirtschaftliche und industrielle  Durchstarten.

Ich würde diese Erinnerung an die große europäische mentale Transformation gerne mit einem Bestandteil abschließen, das seine dunkle Seite unterstreicht und an die irrationale Dimension der protestantischen Reformation und seiner jüngeren Schwester, der katholischen Gegenreformation, erinnert…

Die Geschichte enthüllt uns tatsächlich die psychischen Kosten dieser Transformation des Homo Sapiens. Lassen wir den religiösen Hass aus, den Aufstieg der absolutistischen Staaten, den großen und den kleinen. Lassen wir die Zunahme des Krieges aus, die der Erwerb des Monopols auf „legitime“ Gewalt durch den Staat begleitet hat, da ja der für die innere Befriedung des Verhaltens zu bezahlende Preis ohne jeden möglichen Zweifel die kollektive Umlenkung der Gewalt war. Geben wir uns damit zufrieden, die Konsequenzen bei den Individuen und ihre Ängsten, ihren Familien und Dörfern zu ermessen.
Die Jahre 1550-1650 waren auch diejenigen der großen Hexenverfolgung, unter der Hunderte ländlicher Gemeinschaften, angeführt von paranoiden Magistraten, Tausende von alten Frauen auf den Scheiterhaufen brachten, die verdächtigt wurden, mit dem Teufel zu paktieren, und überall außer in England, mit Inkuben und Sukkuben zu schlafen…

Alle Länder waren betroffen, aber einmal mehr scheint die geografische Verteilung der Fieberschübe ihr Zentrum in Deutschland und seinen Rändern zu haben, Flandern, Lothringen, die Franche-Comté, Schlesien, Schweden….
Trevor-Roper stellt keinen signifikanten Unterschied zwischen katholischen und protestantischen Regionen fest. Wir können aber dieser doppelten und komplementären Offensichtlichkeit nicht entkommen: die betroffenen katholischen Zonen liegen meistens in der Nähe der Pole der Entstehung der Reformation und werden durch die Stammfamilie charakterisiert.

Die Erfindung des Erstgeburtsrechts ist ebenfalls, wie wir bereits gesehen haben, diejenige der Patrilinearität, ein besonders deutliches Phänomen in Deutschland. Wir können also ohne großes Irrtumsrisiko den gegen die Frauen gerichteten Wahn der Hexenverfolgung mit der damals in Gang befindlichen Veränderung der Beziehungen zwischen Männern und Frauen in Verbindung bringen. Auf der Gesamtheit des Kontinents, finden sich die Paare später in einem Umfeld der Leugnung des Vergnügens und des Fleisches. In Deutschland beginnt der Status der Frau zu sinken. Im Ursprung der großen Hexenverfolgung können wir einen Anfang der Entstehung des patrilinearen Prinzips erkennen…

Zerstörung des Systems der undifferenzierten Verwandtschaftsverhältnisse

Wir verfügen von jetzt an über alle Elemente, die besser als zur Zeit von Norbert Elias erlauben, die Transformation des Westens zu verstehen. Ich bin mir bewusst, dass die Errungenschaften der Forschung der Jahre 1960-1990 zur Alphabetisierung, zum Heiratsalter, zur Gewalt oder zur Hexenverfolgung zu sehr Frankreich oder Großbritannien betreffen, und nicht ausreichend Deutschland.

Dieses Informationsdefizit hat uns jedoch nicht daran gehindert, Deutschland den Platz beim Abheben des Westens zu geben, der ihm zusteht: vor England und vor Frankreich. Es war gewiss nicht der Startplatz der wissenschaftlichen und politischen Revolution des 17. Jahrhunderts, die sich auf England konzentrierte, aber es hat den Bildungssockel geschaffen, die Massenalphabetisierung. Familiäre und religiöse Dynamiken haben sich in Deutschland zusammengefunden, um das Bildungsniveau der gesamten Bevölkerung einschließlich der Bauern anzuheben.
Die mittelalterliche Dynamik hätte aus Italien den Ort des Abhebens machen müssen, aber die katholische Gegenreformation, die die Leser von religiösen Texten verfolgt hat, weil sie a-priori als Ketzer angesehen wurden, schafft das Kunststück, das Land der Renaissance, das von Leonardo da Vinci und Galilei, in den Zustand der Bildungsstagnation zu versetzen. Die religiöse Entwicklung ist jedoch wahrscheinlich nicht die einzige Verantwortliche: Die Blüte eines patrilinearen Gemeinschaftsfamiliensystems, das besonders in Mittelitalien[5] stark war, hat vermutlich zum Erfolg der Gegenreformation und der kulturellen Blockade Italiens beigetragen.

Eine solche Darstellung der Geschichte erkennt die Besonderheit Deutschlands an, lehnt aber das Bild von einer uralten germanischen Kultur ab. Die entstehende patrilineare Stammfamilie trennt schrittweise, vor allem ab dem 14. Jh., Deutschland von Nordfrankreich und England. Aber wenn wir über das 11. Jh. hinaus zurückgehen, verschwindet die „deutsche Besonderheit“. Wie bereits vorher gesagt, finden wir dann ein Kernfamiliensystem und ein System undifferenzierter Verwandtschaft, kurz, einen Homo sapiens, der vom Christentum kaum modifiziert war. In jenen fernen Zeiten kämpfte die Kirche  noch, um die moderate Exogamie in eine absolute Exogamie zu verwandeln.

Das Studium der großen europäischen mentalen  Transformation der Jahre 1550-1650 erlaubt uns zu verstehen, in welchem Ausmaß die Wirkung der christlichen Religion langsam und partiell war bis zur finalen Beschleunigung durch die Reformation. Die sexuelle Abstinenz, von der der heilige Augustinus und die östlichen Kirchenväter schon geträumt hatten, musste bis zum 16. Jh. warten, um langsam eine gemeinsame soziale Praxis zu werden. Der Protestantismus war also wirklich, wie er vorgab, eine Rückkehr zur ursprünglichen christlichen Botschaft….

 

Anmerkungen und Folgerungen aus Todds Text:

  • Der als ‚germanophob‘ missverstandene Todd hat also tatsächlich in diesem Buch eine kleine Hommage an die historische Rolle Deutschlands untergebracht, wie er es in einigen Interviews angekündigt hatte
  • Gleichzeitig geht das bei ihm (selbstverständlich) nicht auf Kosten anderer großer europäischer Kulturnationen wie England, Frankreich und Italien, sondern im Kontext von deren eigenen Leistungen
  • Die europäische (von manchen auch „abendländisch“ genannte) Kultur ist keine völkische, sondern eine aus religiösen und sozialen Bewegungen entstandene Kultur mit jüdisch-christlichen Wurzeln. Damit ist sie durch Zuwanderung aus fremden Kulturen nicht a-priori verloren.
  • Gleichzeitig zeigen die Fakten, zum Beispiel der Rückgang der blutigen Gewalt um einen Faktor 10 seit dem 16. Jahrhundert, was für Europa und seine Kultur auf dem Spiel steht.
  • Der ausweislich der PKS für 2016 ebenfalls grob diskutierte Faktor 10 bei der Gewaltbereitschaft junger Zuwanderer gegenüber der von bereits über Generationen hier Lebenden dürfte also auf mehr als rein individuelle Faktoren zurückzuführen sein. Den kulturellen Faktor durch Religion und vor allem Endogamie sieht Todd grundsätzlich immer als wesentlich an.

[1] U.a. hatte auch der französische Soziologe Émile Durkheim in seinem Standardwerk ‚Der Selbstmord‘ Ende des 19. Jh. bereits festgestellt, dass protestantische Regionen (in Deutschland) mit mehr Selbstmorden zu kämpfen haben als ansonsten vergleichbare katholische. Diese alte Beobachtung stützt die von Todd hier aufgezeigten Zusammenhänge.

[2] „European Marriage Patterns in Perspective“ in David V. Glass und David E. C. Eversley, Population in History. Essays in Historical Demographie, London1965

[3] Emmanuel Todds Arbeiten stehen selbst in der Traditionen der franz. Historischen Schule nach Braudel, die gesellschaftliche Entwicklungen auf lange Sicht betrachtet. Er meint hier aber nicht diese historische Sicht, sondern im einfacheren Sinn den langen Blick zurück in die Geschichte des Christentums

[4] Robert Muchembled, Die Geschichte der Gewalt vom Ende des Mittelalters bis heute, Paris, Seuil, 2008, s. auch die englische Ausgabe

[5] Mittelitalien war später auch die Hochburg des italienischen Kommunismus, nach Todd kein Zufall, sondern ebenfalls eine Folge der egalitär-autoritären Natur der Gemeinschaftsfamilie, die auch in Russland und China dominierte

Nachtrag 11.03.2018
In diesem Gespräch erläutert Manfred Spitzer im Detail, warum die ‚Europäische Kultur‘ keineswegs nur, oder nicht einmal in erster Linie, durch Migration bedroht ist: Die elektronischen Medien bedrohen nach seiner Meinung den Spracherwerb, die Lese- und Denkfähigkeit der Kinder. Es lohnt sich sehr, davon mindestens die erste Hälfte anzuschauen.NatachaPolony
In diesem Buch stellt Natacha Polony die Bedrohungen der nationalen Kultur durch kulturfremde Migration und elektronische Medien in etwa auf dieselbe Stufe. Das Buch war ein recht großer Erfolg in Frankreich und ist in der Gesamtperspektive nicht schlecht, aber nicht so tief und detailliert wie das, was Spitzer zu berichten weiß.

 

 

Nachtrag 29.09.2018
Das Buch von Emmanuel Todd ist jetzt auf Deutsch verfügbar.

Macron über seine Nation

Emmanuel Macron gilt als aussichtsreichster Kandidat für die französische Präsidentschaft. Ob das stimmt, muss sich noch zeigen, denn sehr viele Wähler sollen noch unentschlossen sein und im Zusammenhang damit kann das Wahlverfahren mit zwei Durchgängen zu großen Überraschungen führen.
Trotzdem ist es Zeit, sich ein wenig mit den politischen Aussagen Emmanuel Macrons auseinanderzusetzen, denn klar ist, dass er mit Marine Le Pen, François Fillon und inzwischen auch Jean-Luc Mélenchon zu den vier aussichtsreichsten Kandidaten in einem recht engen Rennen zählt. Heiner Flassbeck hat bereits vor einigen Wochen geschrieben, dass sein Wirtschaftsprogramm von einem keynesianischen Standpunkt aus gar nicht so schlecht aussieht, deutlich besser jedenfalls als das von Fillon. Inzwischen hat sich das auch in einer Kritik an Deutschlands Exportüberschüssen niedergeschlagen, die hierzulande zur Kenntnis genommen und kommentiert wird. In Frankreich hatte es zuvor Fillon-freundliche Stimmen gegeben, dass Schäubles öffentliche Parteinahme für Macron nach hinten losgehen könnte. In Deutschland wiederum stimmt jetzt angesichts berechtigter Kritik mancher die larmoyante Klage über Vorurteile an.

In diesem Beitrag soll es nicht um Wirtschaftspolitik gehen und nicht um Macrons Verhältnis zu Deutschland, sondern allein um seine Aussagen über Frankreich und sein Selbstverständnis als Kulturnation. Diese dürften für deutsche Ohren einige Überraschungen im Ton und im Inhalt bergen. Dem Meinungsmagazin Causeur hat er ein Interview dazu gegeben:

„Frankreich war niemals und wird niemals eine multikulturelle Nation sein“

Causeur: Nach der Polemik, die von Ihren Erklärungen in Algerien ausgelöst wurde, haben Sie Wert darauf gelegt, auf die Frage der Identität zurückzukommen mit einem Podiumsgespräch im Figaro und einem Gespräch mit JDD. Es geht darum, Sie wissen es, dass es für die Franzosen wichtig ist, zu definieren und zu bewahren, was aus uns ein Volk macht. Trotzdem hat man den Eindruck, dass diese Themen Sie nicht begeistern und ansprechen. Sie sagen, dass „unsere Nation aus Verwurzelung und Öffnung gemacht ist“, aber jenseits von einigen symbolischen Gesten werden Sie mehr als der Kandidat des Neuen und der Öffnung wahrgenommen als derjenige der historischen Verwurzelung. Akzeptieren Sie diese Diagnose?

Emmanuel Macron: Ich akzeptiere sie nicht, aber sie überrascht mich kaum. Zunächst: Sind wir so sicher, dass die Identität nicht im Zentrum des Wahlkampfs steht? Ich selbst höre die Reden von Frau Le Pen über die Grenzen und die Worte von Herrn Fillon über den „antifranzösischen Rassismus“. Wenn Sie den Eindruck haben, dass dieses Reden nicht fruchtet, dann liegt das daran, dass es die Tiefen des französischen Volkes nicht erreicht. Der französische Geist lebt nicht in diesem verengten Kult einer idealisierten Identität. Er lebt auch nicht im Multikulturalismus, diesem Nebeneinanderstellen von geschlossenen Gemeinschaften. Der französische Geist ist etwas Imaginäres, das wir teilen. Dieses Imaginäre ist in unserer gemeinsamen Sprache verankert. Das ist unsere erste Verwurzelung. Es ist in einer Geschichte verankert, in Gebieten und Landschaften. Das ist unsere zweite Verwurzelung. Aber unsere Sprache, unsere Geschichte, unsere Gebiete und Landschaften sind nicht eindeutig. Sie sind weder ein grobes Gewebe, noch ein schlecht vernähter Flickenteppich. Die französische Kultur ist ein Moiré. Also ja, ich gebe es zu, der sterile Gegensatz zwischen Identität und Multikulturalismus, in dem man uns einschließen will und der überhaupt nicht zu uns passt, begeistert mich kaum. Die französische Kultur bewegt mich, wenn sie Kreuzungspunkt von Befindlichkeiten, Erfahrungen und Einflüssen ist. Das nenne ich Offenheit. Ich sehe jedoch den politischen Gebrauch, die bestimmte Leute von unserem gemeinsamen Erbe machen wollen, um es den (ethnischen und religiösen) Zugehörigkeiten entgegenzusetzen: Die Leidenschaft mancher Leute für eine eindeutige und geschichtsübergreifende französische Identität ist eine Geste des Widerstands gegen die Auflösungsbestrebungen des globalisierten Multikulturalismus. Nun gut, was mich angeht, will ich nicht mit mir handeln lassen: ich nehme die französische Kultur so, wie sie ist, mit ihren Komplexitäten und den Zuflüssen, und ich stelle sie entschlossen den verengten Zugehörigkeiten ebenso wie den vereinfachenden Nationalismen entgegen.

Causeur: Unser Land triumphiert, sagen Sie, mit den zeitgenössischen Schriftstellern mit Namen Marie NDiaye, Leila Slimani, Alain Mabanckou. Ihre Biliothek ähnelt einem Casting, wie die erste Regierung Sarkozy. Und wenn man von zeitgenössischen Schriftstellern spricht, erscheint es erstaunlich, Namen wie Houellebecq oder Carrère zu vergessen…

Emmanuel Macron:  Erlauben Sie mir zu schmunzeln angesichts von so viel normativer Selbstsicherheit… Ich lasse Ihnen die Freiheit eines eigenen Urteils, aber gestehen Sie mir zu, dass ich nicht unterschreibe. Ndiaye (deren Mutter Französin ist), Slimani (deren Mutter Franko-Algerierin ist), Mabanckou (der Franko-Kongolese ist) sind durch die französische Sprache zur französischen Kultur hinzugekommen, und sie besetzen dort einen herausragenden Platz. Das erscheint mir das Wesentliche zu sein. Man wird französisch durch die französische Sprache. Michel Houellebecq gehört übrigens zu den Schriftstellern, für die ich eine aufrichtige Bewunderung habe, weil seine Werke die zeitgenössischen Schwindelgefühle und Ängste entziffern…..

Causeur: Eben, Sie stimmen zu, dass die französische Sprache unser gemeinsamer Schatz ist. Sehr gut. Was werden Sie tun, um sie zu verteidigen? Was halten Sie von dem Slogan „Made for sharing“, der für die Kandidatur von Paris für die Olympischen Spiele gewählt wurde? Die ganze Welt hat höhnisch gelacht über die „Molière-Klausel“, aber wenn sie eine schlechte Antwort ist, verbirgt sich dahinter nicht eine gute Frage?

Emmanuel Macron: Die französische Sprache muss nicht „verteidigt“ werden: sie ist die am dritthäufigsten gesprochene Sprache der Welt. Aber sie muss mit Unnachgiebigkeit unterrichtet werden, denn der nationale Zusammenhalt beruht auf der Beherrschung der Sprache. Französisch lesen und schreiben zu können ist nicht nur ein Pass für den Arbeitsmarkt. Es ist der erste Richtungspfeil für die Integration in unsere Gesellschaft. Genau deshalb wünsche ich, dass Lesen und Schreiben der erste Kampf der Schule seien….Diesen Kampf dürfen wir nicht verlieren. Wenn wir nicht alle die französische Sprache teilen und das, was sie von unserer Kultur transportiert, wird unser Land in hermetisch abgeschlossene Gemeinschaften zerfallen. Die französische Sprache ist die Medizin gegen das Ghetto. Deshalb werde ich auch die Unterrichtung von Griechisch und Latein[1] wieder etablieren, die dafür die Grundlage sind…..Ich wünsche ebenfalls, dass die Einbürgerung die Beherrschung der Sprache voraussetzt; darüber werde ich wachen….

Causeur: Wir haben häufig den Eindruck, dass Sie versuchen, entgegengesetzte Bestrebungen unter einen Hut zu bringen, was vielleicht lobenswert ist, wenn man den Anspruch hat, das allgemeine Interesse zu vertreten und zu schützen. Nichtsdestotrotz sind bei dem, was den kulturellen Zusammenhalt unserer Gesellschaft ausmacht, nicht alle Optionen miteinander zu vereinbaren. In der Geschichte hat Frankreich das republikanische Modell (Assimilation, dann Integration), das den Neuankömmlingen und ihren Kindern abverlangt sich anzupassen, dem Multikulturalismus vorgezogen, was bedeutet, dass die Gleichheit der Individuen untereinander nicht die Gleichheit der  Kulturen nach sich zieht. Ist dieses Modell durch die Vielfalt unserer Gesellschaft obsolet geworden? Müssen wir mit dieser Tradition brechen, um muslimische Bevölkerungen aufzunehmen, die von „entfernteren“ Kulturen kommen?

Emmanuel Macron: Das französische republikanische Modell beruht auf der Integration. Das kann nicht in Frage gestellt werden….

Causeur: Aber wenn Sie ein Verteidiger der französischen Sprache und der Laizität sind, was unterscheidet Sie dann von ihnen (Anm. des Übersetzers: gemeint sind wohl die zuvor erwähnten Einwanderungs- und Islamkritiker Alain Finkielkraut und Eric Zemmour)

Emmanuel Macron: Der Unterschied zwischen ihnen und mir ist, dass ich keine Angst habe. Ich habe keine Angst um unsere Kultur, ich habe keine Angst um Frankreich. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Frankreich niemals eine multikulturelle Nation war und es niemals sein wird. Wenn es ein Risiko gibt, dass es so kommt, werde ich es bekämpfen, indem ich unserer Sprache ihre herausragende Bedeutung im Unterricht zurückgebe, indem ich alle ohne Nachgeben sanktioniere, die sich den Gesetzen der Republik und ihrer Praxis entziehen, indem ich unablässig an dem arbeite, was uns gemeinsam ist….

Den radikalen Islam zu bekämpfen ist keine Islamophobie: es ist das Minimum, das man von den politisch Verantwortlichen erwarten kann

… Angst zu haben, sich zu beunruhigen, zu fürchten hat noch niemals zu etwas geführt.

Causeur: Doch, dazu die Realität so zu sehen, wie sie ist, auch dann, wenn sie uns nicht gefällt. Eine gewisse Anzahl von Franzosen denken, dass unsere kollektive Identität durch den Aufstieg des radikalen Islam bedroht ist. Haben sie Unrecht? Ist das Islamophobie?

Emmanuel Macron: Den radikalen Islam zu bekämpfen, ist keine Islamophobie: es ist das Minimum, das man von politisch Verantwortlichen erwarten kann, die sich bemühen, die nationale Einheit und die öffentliche Ordnung zu erhalten. Aber wenn der von Millionen Landsleuten praktizierte Islam auch verdächtigt wird, nicht mit den Gesetzen der Republik kompatibel zu sein, wenn man Ihnen zeigt, dass es in der Natur des Islam liegt, gegen unsere Gesetze gerichtet zu sein, dann beginnt die Islamophobie. Den Islam in Frankreich zu organisieren und zu regulieren, besonders indem man ihn von seinen konsularischen Verbindungen (Anm. des Übersetzers: also zu ausländischen Regierungen) abschneidet, wird es erlauben, diesen Befürchtungen ein Ende zu machen, und wird es unseren islamischen Landsleuten erlauben, ihren Glauben vor Verdächtigungen geschützt zu leben. Das ist mein Projekt, und meine Entschlossenheit in dieser Sache hat keine Schwachstelle.

Causeur: Wird das ausreichen, um den Anstieg einer Form von Frömmigkeit und des Rigorismus einzudämmen, die danach strebt, sich vom Rest der Gesellschaft zu isolieren? Jenseits des Terrorismus gibt es einen friedlichen Separatismus. Werden Sie ihn bekämpfen und wie?

Emmanuel Macron: Die Rolle eines Präsidenten der Republik ist es nicht, Glaubensinhalte zu bekämpfen, sondern die Worte und Praktiken zu bekämpfen, die sich außerhalb der republikanischen öffentlichen Ordnung stellen. Wenn die religiösen Strömungen, die Sie beschreiben, darauf hinauslaufen, die republikanische Ordnung in Frage zu stellen, besonders bei der Rolle, die sie den Frauen zuweisen, werden sie hart sanktioniert werden. Manche werden es schon. Da wird man weitermachen müssen. Um diese Auswüchse zu entdecken, werden wir eine Polizei und Nachrichtendienste auf der am besten passenden Ebene auf die Beine stellen müssen. Ich werde sie auf die Beine stellen.

[1] Anmerkung des Übersetzers: die sozialistische Regierung Hollande hatte die Unterrichtung dritter Fremdsprachen massiv heruntergefahren. Davon war nicht nur Latein, sondern auch Deutsch stark betroffen.

Kommentare:

  • Macron gibt sich alle Mühe, ein republikanisches Selbstbild der französischen Nation zu vertreten, das von links bis rechts sehr viele Wähler ansprechen könnte
  • Das klassische französische Modell, Integration über die Sprache, Kultur und die republikanischen Bürgerrechte zu definieren statt über Herkunft und Hautfarbe, ist mir persönlich sympathisch und auch weit nach links konsensfähig.
  • Gleichzeitig betont er deutlich und ungewöhnlich hart auch die Kehrseite der Medaille: mehr Zug in den Schulen, keine Einbürgerung ohne Beherrschung der Sprache, Sanktionen gegen Abweichungen. Damit integriert er weit in die bunte und breite Szene der französischen Einwanderungs- und Islamkritiker und der katholischen Konservativen hinein.
  • An keiner einzigen Stelle versucht er, Personen und Autoren wie Michel Houellebecq, Alain Finkielkraut oder Eric Zemmour auszugrenzen (Merkel über Sarrazin: „nicht hilfreich!“) oder in eine Schmuddelecke zu verbannen, wie es in Deutschland oft üblich ist. Kein Ton davon. Er erlaubt sich lediglich, andere Schlüsse zu ziehen oder andere Akzente zu setzen. Mit dem Plätten von Meinungen durch moralischen Totschlag käme er in Frankreich nicht durch, gerade nicht als der Kandidat der Mitte, der er sein will.
  • Es ist nicht korrekt oder sogar Etikettenschwindel, wenn deutsche Medien wie die SZ Macron als Linksliberalen verkaufen. Mit den hier vorgetragenen Thesen zu Staatsbürgerschaft, Bildung, Sanktionen könnte er im deutschen Parteienspektrum mühelos auch im Wählerspektrum der CSU punkten. Sehr deutlich setzt er sich von Multikulti ab.
  • Macron ist ein Zentrist, der auf der rhetorischen Ebene äußerst geschickt operiert. Es ist also logisch, dass er auch von François Bayrou unterstützt wird, von ehemaligen Regierungsmitgliedern wie auch inoffiziell vom bisherigen Präsidenten Hollande und von Konservativen, die Fillon nicht unterstützen wollen.
  • Auch der auf diesem Blog bereits mit einem Kommentar vertretene Luc Rosenzweig hat sich in einem Kommentar im „Causeur“ für Macron ausgesprochen: „Die Alten mit Macron!“ (online hier). Als Grund gibt er u.a. die Befürwortung der Kernenergie an, also noch eine Präferenz, die so gar nicht mit dem deutschen Mainstream zu vereinbaren ist.
  • An einigen Stellen kann man eine gewisse Naivität oder gar Täuschungsabsicht vermuten, z.B. wenn er sagt, dass er den Islam in Frankreich von den „konsularischen Verbindungen“ abschneiden will. Das ist in Wahrheit sehr starker Tobak, und es würde nicht ohne schwere Konflikte abgehen.
  • Die große Frage bei Macron lautet deshalb für alle potenziellen Wähler: Meint er es ernst und kann er es auch? In seinem jungen Alter und mit der Musterschüler-Karriere, die er bisher hingelegt hat, ohne irgendwo groß anzuecken? Emmanuel Todd über Emmanuel Macron: „Er ist außergewöhnlich in der Selbstsicherheit, nichts zu sagen. Aber er hat ein sehr klares Programm: die Verschmelzung sämtlicher Gemeinplätze des Bankensystems.“
  • Wenn Macron Präsident wird, dürfte vieles auch davon abhängen, welche Handlungsfreiheit ihm das im Juni neu zu wählende Parlament geben wird.
  • Ein vom breiten Establishment gestützter Präsident Macron könnte sich sehr schnell auch als letzte Chance für dieses Establishment herausstellen. Noch eine Enttäuschung wie die durch François Hollande kann sich Frankreich wohl nicht leisten.

Nachtrag 19.4.2017:
Der altgediente und regierungserfahrene Linkssouveränist Jean-Pierre Chevènement ist sich unsicher, ob er Mélenchon oder Macron wählen soll.
Daniel Stelter beschäftigt sich mit dem Wahlkampf in Frankreich und einer möglichen Paarung Mélenchon – Le Pen, das Alptraum-Szenario für den Euro und Deutschland.
Ein Stechen der beiden ist tatsächlich nicht ausgeschlossen, aber derzeit eher unwahrscheinlich. Umfragen zeigen derzeit eher, dass Fillon wieder an Macron und Le Pen heranrückt, die beide ein wenig schwächeln und von zwischenzeitlich über 25 auf 22% gefallen sein sollen. Das Rennen bleibt spannend, gerade weil Umfragen nicht überbewertet werden sollten. Hamon ist aber wohl abgeschlagen und aus dem Spiel. Wenn er in dieser Lage verzichten und zur Wahl von Mélenchon aufrufen würde, wäre das eine dramatische Wende.

Nachtrag 20.4.2017:
Will Denayer in Makroskop (Paywall): Der Kandidat der extremen Mitte.
Manfred Haferburg beschreibt im dritten Teil einer erfrischenden Serie die Ungewissheit: Paris vor der Wahl

Nachtrag 23.4.2017:
Die erste Runde der Wahl ist gelaufen. Die Umfragen haben zuletzt ein sehr korrektes Bild des Ergebnisses gezeichnet: Macron und Le Pen vorne bei 22-24%, Fillon und Mélenchon in der zweiten Reihe bei knapp 20%, der schwache Hamon (der den starken Mélenchon aus dem Rennen genommen hat) und Dupont-Aignan (der Fillon aus dem Rennen genommen hat), abgeschlagen in der dritten Reihe bei 5-6%. Keine einzige Überraschung dabei.
Im nächsten Beitrag werde ich hier das Interview mit der Kandidatin Marine Le Pen aus derselben Serie „Parlez-nous de la France!“ wiedergeben.
Gute Einschätzung im Cicero: Neuanfang auf Trümmern

Nachtrag 24.4.2017:
Das vermutlich nachhaltigste Ergebnis dieser Wahl ist der Untergang Hamons (fr) und damit des offiziellen Kandidaten der Sozialistischen Partei. Damit ist das Erbe des fragwürdigen Gründers François Mitterand endgültig verjubelt bzw. unter die Erde gebracht.
Außerdem muss man feststellen, dass die beiden durch Vorwahlen bestimmten Kandidaten Hamon und Fillon auf ganzer Linie enttäuscht haben. Die beiden Finalisten dagegen haben sich keiner Vorwahl gestellt, ebenso wenig wie Mélenchon, der im Wahlkampf den stärksten Auftritt abgeliefert und den besten Zuwachs eingefahren hat.

Brauchbare Analysen/Karten bei der ZEIT: Die Jungen wählen extrem – oder gar nicht
Heiner Flassbeck hat eine guten und fairen Ausblick auf die Herausforderungen für Macron im Angebot: Das mittlere Maß der Unvernunft.
Hervorragende Grafiken zum Wahlausgang auf dem Blog les-crises.fr (versteht man auch mit wenig Französischkenntnissen).

Nachtrag 25.4.2017:
Den Untergang der französischen Sozialisten hat Evans-Pritchard bereits vor 3 Jahren analysiert.

Nachtrag 26.4.2017:
Nils Minkmar zur Wahl: Frischer Wind im Geisterhaus
Nicht schlecht, aber auch nicht sehr tiefschürfend. Minkmar hat bei der FAZ stärkere und vor allem auch scharfsinnigere Artikel geschrieben als beim ehemaligen Nachrichtenmagazin.

Nachtrag 1.5.2017:
Emmanuel Todd hat in einem Interview gesagt, dass Jean-Luc Mélenchon DAS Ereignis der 1. Runde der Präsidentschaftswahlen war, dass er ihn in der Vergangenheit zu hart beurteilt und jetzt für ihn gestimmt habe. Er habe die Dynamik in den unteren Klassen  zugunsten des FN gebrochen.
In der Stichwahl werde er sich „mit Freude“ der Stimme enthalten, weil eine Stimme für Le Pen eine fremdenfeindliche Stimme sei, eine Stimme für Macron für ihn aber eine Stimme für die Hinnahme der Unterwerfung.

Nachtrag 3.5.2017:
Es gibt in der WELT ein Interview mit Emmanuel Todd über Macron und die Wahl (leider hinter einer PayWall): Emmanuel Macron wird Frankreich verraten.
Die Nachdenkseiten kritisieren den extremen moralischen Druck zur Parteinahme für Macron: Unser linksliberales Establishment verblödet zusehends

Nachtrag 5.5.2017:
Bernd Zeller höhnt über die deutsche Wahlberichterstattung:ReifFürEinePräsidentin
Und eine Ausnahme dazu:
Sehr gutes Interview in der ZEIT zur Wahl mit Emmanuel Carrère.

Nachtrag 7.5.2017:
Macron ist gewählt. Die ca. 65%:35%  entsprechen ziemlich genau dem, was schon vor Monaten für diese Paarung gehandelt wurde. In der Zwischenzeit gab es (wie so oft) jede Menge Hype, um das Interesse an entsprechenden Berichten nach oben zu jazzen.
Jetzt geht es darum, nach vorne zu blicken: Macron muss liefern, und Deutschland kann es sich nicht leisten, zu allem Nein zu sagen.

Nachtrag 8.5.2017:
Die Nachdenkseiten sehen Frankreich vor turbulenten Zeiten. Es ist in jedem Fall richtig, dass die Parlamentswahlen über Macrons Handlungsspielraum entscheiden werden.

Nachtrag 11.5.2017:
Peter Wahl: Der halbe Sieg des Emmanuel Macron
Auch in der ZEIT ein guter Beitrag von Mark Schieritz über das Ende der deutschen Illusionen durch Macron.

Nachtrag 15.05.2017:
Winfried Wolf: Macron wird die Krise der EU vertiefen
Durchaus einige interessante Gedanken und Information mit viel linker Parteilinie

Entstehung des deutschen Europa

Im letzten Beitrag habe ich Emmanuel Todds Skizze des „Deutschen Europa“ vorgestellt. In diesem zweiten Beitrag geht es jetzt um die Teile I+II des Interviews von 2014 mit Olivier Berruyer:

Entstehung und Antrieb des ‚Deutschen Europa‘

Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise und Russland kommt Todd auf Deutschland zu sprechen:

Emmanuel Todd: …Man registriert widersprüchliche Signale von Deutschland. Manchmal findet man es eher pazifistisch, auf einem Pfad von Rückzug und Kooperation. Manchmal erscheint es im Gegenteil sehr an der Spitze im Disput und in der Auseinandersetzung mit Russland. Diese harte Linie nimmt jeden Tag an Stärke zu. Steinmeier hat sich von Fabius und Sikorski nach Kiew begleiten lassen. Merkel besucht nun das neue ukrainische Protektorat allein (Anm. des Übersetzers: im Jahr 2014).
Aber nicht nur in dieser Auseinandersetzung ist Deutschland an der Spitze. Sechs Monate lang und auch in den letzten Wochen, als sie in den ukrainischen Ebenen schon virtuell im Konflikt mit Russland war, hat Merkel die Engländer gedemütigt, indem sie ihnen mit einer unglaublichen Grobheit Juncker als Kommissionspräsident aufgezwungen hat. Eine noch außerordentlichere Sache war es, dass die Deutschen begonnen haben, die Auseinandersetzung mit den Amerikanern zu suchen, indem sie sich einer Spionageaffäre der Amerikaner bedient haben. Das ist absolut unglaublich, wenn man die Verflechtung der amerikanischen und deutschen Spionageaktivitäten seit dem Kalten Krieg kennt. Es sieht im Übrigen heute so aus, als ob der deutsche Geheimdienst ganz normal auch die amerikanischen Politiker ausspioniert. Mit dem Risiko zu schockieren würde ich sagen, dass ich angesichts der Ambiguitäten der deutschen Politik im Osten ganz dafür bin, dass die CIA die deutschen politisch Verantwortlichen überwacht. Ich hoffe übrigens, dass die französischen Geheimdienste ihre Arbeit machen und an der Überwachung eines Deutschland teilnehmen, dass auf dem internationalen Feld immer aktiver und abenteuerlustiger wird. Es bleibt dabei, dass diese antiamerikanische Aggressivität ein neues Phänomen ist, das man sich bewusst machen muss. Ihr Stil ist faszinierend. Die Art und Weise, in der die deutschen Politiker über die Amerikaner gesprochen haben, bezeugt eine tiefe Verachtung. Es gibt einen bedeutenden antiamerikanischen Untergrund auf der anderen Seite des Rheins. Ich hatte Gelegenheit gehabt, ihn zu messen, anlässlich der Veröffentlichung meines Buches „Weltmacht USA: Ein Nachruf“ auf Deutsch. Nach meiner Meinung erklärt er (der Antiamerikanismus, Anmerkung des Übersetzers) weitgehend den außerordentlichen Bucherfolg dieser Übersetzung. Wir sehen schon einen Moment, in dem die deutsche Regierung sich lustig macht über amerikanische Ermahnungen in der Wirtschaftspolitik: einen Beitrag leisten zur globalen Nachfrage? Und was sonst noch? Deutschland hat sein Projekt, eher von Macht als von eigenem Wohlergehen: die Nachfrage in Deutschland drücken, die verschuldeten Staaten des Südens versklaven, die Osteuropäer dazu bringen, dass sie sich an die Arbeit machen, den französischen Banken, die den Elysée-Palast (also den französischen Präsidenten, Anmerkung des Übersetzers) kontrollieren, einige Peanuts spendieren, etc.

In einer ersten Zeit, im Moment der Eroberung der Krim, war ich eher sensibel gewesen für die Wiederherstellung Russlands: eine Macht, die sich nicht mehr auf die Füße steigen lassen will und die in der Lage ist, Entscheidungen zu fällen. Aktuell stelle ich fest, dass Russland fundamental eine Nation in der Stabilisierung ist, und nur in der Stabilisierung, selbst wenn die Leute aus ihr einen bösen großen Wolf machen. Die wahre sich zeigende Macht, noch vor Russland, ist Deutschland. Es hat einen außergewöhnlichen Weg hinter sich, von seinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zur Zeit der Wiedervereinigung zu seiner wirtschaftlichen Wiederherstellung, dann zur Übernahme der Kontrolle über den Kontinent in den letzten fünf Jahren. Alles das ist es wert, dass man es neu interpretiert. Die Finanzkrise hat nicht einfach nur die Solidität Deutschlands gezeigt. Es hat auch seine Fähigkeit gezeigt, die Schuldenkrise zu nutzen, um die Gesamtheit des Kontinents zum Gehorsam zu zwingen. Wenn man sich von der archaischen Rhetorik des Kalten Krieges befreit, wenn man aufhört, die ideologische Rassel der liberalen Demokratie und ihrer Werte zu schütteln, und wenn man es lässt, dem pro-europäischen Blabla zuzuhören, um die historische Sequenz zu beobachten, die in roher und beinahe kindlicher Weise im Gang ist, kurz, wenn man bereit ist zu sehen, dass der König nackt ist, stellt man fest:

1.) In den letzten fünf Jahren hat Deutschland auf dem wirtschaftlichen und politischen Feld die Kontrolle über Europa übernommen.
2.) Europa ist am Ende dieser fünf Jahre virtuell bereits im Krieg mit Russland

Frankreich und die USA leugnen die deutsche Realität

Dieses Phänomen wird durch eine doppelte Leugnung vernebelt. Zwei Länder handeln wie Riegel, damit man die Realität dessen, was geschieht, nicht versteht.
Zunächst Frankreich, das noch immer nicht zugeben will, dass es sich in den Zustand einer freiwilligen Knechtschaft gegenüber Deutschland begeben hat. Es kann nicht anders handeln, solange es nicht unumwunden diesen Machtanstieg Deutschlands zugibt und die Tatsache, dass es nicht auf dem Niveau ist, um es (Deutschland) zu kontrollieren. Wenn es eine geopolitische Lektion des Zweiten Weltkriegs gibt, dann ist das sehr wohl die, dass Frankreich Deutschland nicht kontrollieren kann, dessen immense Qualitäten in der Organisation und wirtschaftlichen Disziplin wir anerkennen müssen – ebenso wie das nicht minder immense Potenzial zur politischen Irrationalität. Die französische Verweigerung der deutschen Realität ist eine Offensichtlichkeit. Schon eine ganze Weile spreche ich von François Hollande als dem „Vize-Kanzler Hollande“. Beziehungsweise sogar jetzt eher von einem einfachen „Kommunikationsdirektor des Kanzleramts“. Er ist nichts, er hat außergewöhnliche Niveaus der Unpopularität erreicht, die zu einem Teil von seiner Servilität gegenüber Deutschland kommen. François Hollande wird auch von den Franzosen verachtet, weil er ein Mann ist, der Deutschland gehorcht. Umfassender betrachtet nehmen die französischen Eliten, journalistische ebenso wie politische, an diesem Prozess der Leugnung teil.

Die Akteure sind inkompetent und sich sehr wenig bewusst, was sie tun

Olivier Berruyer: Sie sagen, dass „Frankreich letztendlich Deutschland nicht kontrollieren kann“: kann man nichts tun oder muss es jemand anders tun?

Emmanuel Todd: Jemand anders muss es tun. Das letzte Mal ist diese Aufgabe Amerikanern und Russen zugefallen. Man muss zugeben, dass das „System Deutschland“ eine außergewöhnliche Kraft entfalten kann. Als Historiker und Anthropologe könnte ich Dasselbe über Japan, über Schweden oder die jüdische, baskische oder katalanische Kultur sagen. Das ist eine Tatsache: gewisse Kulturen sind so. Frankreich hat andere Qualitäten. Es hat die Ideen von der Gleichheit und der Freiheit hervorgebracht, eine Lebensart, die den Planeten fasziniert, und es macht von nun an mehr Kinder als seine Nachbarn und bleibt dabei ein fortschrittliches Land auf dem intellektuellen und technologischen Feld. Es ist wahrscheinlich, dass man am Ende, wenn man wirklich urteilen müsste, zugeben müsste, dass Frankreich eine ausgeglichenere und befriedigendere Vision von der Welt hat. Aber es geht hier nicht um Metaphysik oder Moral: wir sprechen von internationalen Kräfteverhältnissen. Wenn ein Land sich auf die Industrie oder den Krieg spezialisiert, muss man das berücksichtigen und zusehen, wie diese wirtschaftliche, technologische und Macht-Spezialisierung kontrollierbar wird.

Olivier Berruyer: Welches ist das zweite Land in der Verleugnung?

Emmanuel Todd: Die USA. Die amerikanische Verleugnung war im ersten Stadium der Emanzipation Deutschlands zur Zeit des Irakkriegs im Jahr 2003 und des Bündnisses Schröder-Chirac-Putin formalisiert worden. Gewisse amerikanische Strategen hatten damals gesagt: „Man muss Frankreich bestrafen, Deutschland (also, was es gemacht hat) vergessen und Russland verzeihen“ (“Punish France, forget Germany, forgive Russia“). Warum? Weil der Schlüssel zur Kontrolle Europas durch die USA, das Erbe des Sieges von 1945, die Kontrolle Deutschlands ist. Die Emanzipation Deutschlands von 2003 schriftlich niederzulegen, hätte bedeutet, den Beginn der Auflösung des amerikanischen Imperiums schriftlich niederzulegen. Diese Vogel-Strauß-Strategie hat sich begründet, verfestigt und scheint heute den Amerikanern eine korrekte Sicht auf die deutsche Entpuppung zu verbieten, eine neue Bedrohung für sie, nach meiner Meinung auf Dauer sehr viel gefährlicher für die Integrität des Imperiums als Russland, das außerhalb des Imperiums liegt. Deutschland spielt eine komplizierte, ambivalente Rolle, treibt aber die Krise an. Häufig erscheint die deutsche Nation als pazifistisch und Europa, das unter deutsche Kontrolle steht, als aggressiv. Oder umgekehrt. Deutschland hat von nun an zwei Hüte auf: Europa ist Deutschland, und Deutschland ist Europa. Es kann also mit mehreren Stimmen sprechen. Wenn man die psychische Instabilität kennt, die historisch die deutsche Außenpolitik charakterisiert, und seine Bipolarität im psychiatrischen Sinn in seiner Beziehung zu Russland, ist das ziemlich beunruhigend. Ich bin mir bewusst, dass ich hart spreche, aber Europa befindet sich (Anmerkung des Übersetzers: das Interview fand im Sommer 2014 statt) am Rande des Krieges mit Russland und wir haben nicht mehr die Zeit, höflich und glatt zu sein. Bevölkerungen russischer Sprache, Kultur und Identität werden in der Ostukraine angegriffen mit Billigung, Unterstützung und wahrscheinlich schon mit Waffen aus der EU. Ich denke, dass die Russen wissen, dass sie in der Tat im Krieg mit Deutschland sind. Ihr Schweigen über diesen Punkt ist nicht wie in den französischen und amerikanischen Fällen eine Weigerung, die Realität zu sehen. Es ist gute Diplomatie. Sie brauchen Zeit. Ihre Selbstkontrolle, ihre Professionalität, wie Putin oder Lavrov sagen würden, ringen Bewunderung ab.

Bisher war es die Strategie der Amerikaner in dieser Krise, hinter den Deutschen her zu laufen, damit man nicht sieht, dass sie die europäische Situation nicht mehr kontrollieren. Dieses Amerika, das nicht mehr kontrolliert, aber die regionalen Abenteuer der Vasallen genehmigen muss, ist ein Problem geworden, das geopolitische Problem Nr. 1. Im Irak muss Amerika schon mit dem Iran kooperieren, seinem strategischen Gegner, um sich den Jihadisten entgegenzustellen, die von Saudi-Arabien subventioniert werden. Saudi-Arabien hat wie Deutschland den Status eines wichtigen Alliierten, sein Verrat darf deshalb nicht schriftlich festgehalten werden… In Asien beginnen die Südkoreaner aus Ressentiment gegen die Japaner, mit den Chinesen krumme Geschäfte zu machen, den strategischen Rivalen der Amerikaner. Überall, und nicht nur Europa, bekommt das amerikanische System Risse, löst sich auf oder Schlimmeres.

Die deutsche Macht und Hegemonie in Europa verdienen also eine Analyse, in einer dynamischen Perspektive. Man muss explorieren, hochrechnen, voraussehen, um sich in der Welt zu orientieren, die in Entstehung begriffen ist. Man muss akzeptieren, diese Welt so zu sehen, wie sie die realistische strategische Schule sieht, diejenige von Henry Kissinger zum Beispiel, das heißt, ohne sich die Frage der politischen Werte zu stellen: diejenige von reinen Kräfteverhältnissen zwischen nationalen Systemen. Wenn man so nachdenkt, stellt man fest, dass Russland nicht das Problem der Zukunft ist, dass China noch nicht viel darstellt, was die militärische Macht angeht. In unserer globalisierten wirtschaftlichen Welt, können wir die Entstehung einer neuen Frontstellung zwischen zwei großen Systemen vorausahnen: der amerikanischen Kontinent-Nation und diesem neuen deutschen Reich, einem ökonomisch-politischen Reich, das die Leute aus Gewohnheit weiterhin Europa nennen. Es ist interessant, das Kräfteverhältnis zwischen den beiden zu bestimmen.

Wir wissen nicht, wie die Ukraine-Krise enden wird. Wir müssen aber die Anstrengung unternehmen, uns hinter diese Krise zu versetzen. Das Interessanteste ist zu versuchen, sich vorzustellen, was ein Sieg des „Westens“ hervorbringen würde. Und wir gelangen so zu etwas Erstaunlichem: wenn Russland in die Knie gehen oder nur nachgeben würde, würde das Ungleichgewicht der demografischen und industriellen Kräfte zwischen dem deutschen System, erweitert um die Ukraine, und den USA wahrscheinlich zu einem Umschlagen des Schwerpunkts des Westens und zum Zusammenbruch des amerikanischen Systems führen. Was die Amerikaner heute am meisten fürchten müssten, ist der Zusammenbruch Russlands. Aber eine der Charakteristiken der Situation ist, dass die Akteure inkompetent sind und sich dessen sehr wenig bewusst, was sie tun. Ich spreche nicht nur von Obama, der von Europa nichts versteht. Er ist in Hawai geboren, hat in Indonesien gelebt. Nur die pazifische Zone existiert für ihn.
Aber die klassischen amerikanischen Geopolitiker der „europäischen“ Tradition sind ebenfalls überholt. Ich denke besonders an Zbigniew Brzezinski, der jetzt alt ist, aber der Theoretiker der Kontrolle Eurasiens durch die USA bleibt. Besessen von Russland hat er Deutschland nicht kommen sehen. Er hat nicht gesehen, dass die amerikanische Militärmacht durch die Erweiterung der NATO auf die baltischen Staaten, auf Polen und auf die früheren Volksdemokratien für Deutschland ein Reich schneiderte, ein ökonomisches zu Anfang, aber heute schon ein politisches. Deutschland beginnt, sich mit China zu verstehen, dem anderen großen Exporteur der Welt. Erinnert man sich in Washington, dass das Deutschland der 30er Jahre lange gezögert hat zwischen der chinesischen und der japanischen Allianz und dass Hitler damit begonnen hatte, Tschiangkaischeck zu bewaffnen und seine Armee aufzubauen? Die Erweiterung der NATO nach Osten könnte letztendlich eine Version B des Alptraums von Brzezinski realisieren: eine Wiedervereinigung Eurasiens unabhängig von den USA. Seinen polnischen Ursprüngen treu fürchtete er ein Eurasien unter russischer Kontrolle. Er läuft in das Risiko, in die Geschichte einzugehen als „einer dieser absurden Polen, die aus Hass gegen Russland die Größe Deutschlands gewährleistet haben“.

Olivier Berruyer: Wie Sie mich gebeten haben, schlage ich vor, dass Sie die nachfolgenden Grafiken analysieren, die das um Deutschland zentrierte Europa mit den USA vergleichen:

Bevölkerung

BIP

IndustrielleWertschöpfung(eine 4., weniger wichtige Grafik weggelassen)

Emmanuel Todd: Was diese Grafiken zeigen, ist die potenzielle industrielle Überlegenheit Europas. Gewiss ist das deutsche Europa heterogen und intrinsisch zerbrechlich, potenziell instabil, aber der wirkende Mechanismus der Hierarchisierung der Bevölkerungen beginnt, eine kohärente und manchmal effiziente Struktur von Dominanz zu definieren. Die junge deutsche Macht hat sich dadurch gebildet, dass ehemals kommunistische Bevölkerungen kapitalistisch an die Arbeit gebracht wurden. Das ist vielleicht eine Sache, derer sich die Deutschen wahrscheinlich selbst nicht bewusst genug sind, und gerade dort könnte ihre wahre Zerbrechlichkeit sein: die Dynamik der deutschen Wirtschaft ist nicht nur deutsch. Ein Teil des Erfolgs unserer Nachbarn von der anderen Rheinseite stammt daher, dass die Kommunisten sich sehr für Bildung interessiert haben. Sie haben nicht nur überholte Industriesysteme zurückgelassen, sondern auch überdurchschnittlich gebildete Bevölkerungen.
Die Bildungssituation Polens in Europa vor dem Krieg mit der von heute zu vergleichen, die sehr viel  besser ist, bedeutet zuzugeben, dass es einen Teil seines aktuell guten wirtschaftlichen Zustands dem Kommunismus, schlimmer vielleicht, Russland verdankt. Wir werden sehen, in welchem Zustand das deutsche Management Polen hinterlassen wird. Es bleibt, dass sich Deutschland in der Tat an die Stelle Russlands gesetzt hat als Macht, die den europäischen Osten kontrolliert und daraus eine Kraft gemacht hat. Russland seinerseits war geschwächt worden durch seine Kontrolle der Volksdemokratien, indem die Militärkosten nicht durch den ökonomischen Gewinn kompensiert wurden. Dank der USA sind die Kosten der militärischen Kontrolle für Deutschland nahe bei Null.

Teil III enthielt den letzten Beitrag zum „Deutschen Europa“

Danach der Teil IV:

Das industrielle Ungleichgewicht zugunsten der EU im Vergleich mit den USA ist spektakulär

Olivier Berruyer: Die Grafiken erlauben, die relativen Stärken der amerikanischen Nation und dieses neuen deutschen Reiches zu vergleichen:

(erste Grafik ausgelassen, kann im Original eingesehen werden)
BeschäftigungIndustrie

BeschäftigungIndustrie2

Emmanuel Todd: die interessanteste Grafik ist nach meinem Verständnis diejenige, die die in der Industrie tätigen Bevölkerungen darstellt. Das industrielle Ungleichgewicht zugunsten der EU im Vergleich mit den USA ist spektakulär. Die Tatsache, dass es in Europa noch unterentwickelte industrielle Sektoren gibt, ist nicht negativ, im Gegenteil: im industriellen Bereich in Europa gibt es Erweiterungskapazitäten in Zonen mit niedrigen Gehältern. Es ist wahrscheinlich dieses Ungleichgewicht, das das Töten des amerikanischen Industriesystems durch Deutschland erlauben würde. Im aktuellen Stadium ist es Deutschland, das TTIP am meisten will.

Olivier Berruyer: Man stellt klar einen europäischen Absturz beim realen BIP bezogen auf Deutschland fest:

(Grafiken mit absolutem BIP pro Kopf habe ich weggelassen)

BIPpE1

BIPpE2

BIPpE3BIPpE4

Emmanuel Todd: Man sieht auf diesen Grafiken auch die unerbittliche Hierarchisierung Europas um das deutsche Epizentrum ab 2005: das Abfallen der europäischen Länder im Vergleich mit Deutschland, eingeschlossen die großen Länder wie Frankreich oder das Vereinigte Königreich. Man kann auf allen diesen Kurven die Schnelligkeit einer Entwicklung sehen, die gerade erst begonnen hat. Vielleicht leidet ein Teil des deutschen Volkes an seinen geringen Gehältern, aber global betrachtet endet es immer damit, dass das BIP pro Kopf sich zugunsten Deutschlands absetzt. Wir bewegen uns auf ein System zu, in dem die Deutschen davon profitieren werden, dass die Industriesysteme des Rests des Kontinents in die Knie gehen.

Wir stellen ebenfalls fest, dass die USA im Vergleich mit diesem Kontinent unter deutscher Kontrolle nicht mithalten können, was die Bevölkerung betrifft.

Kommentare:

  • Dieser Beitrag hat sich im Original auch viel Kritik von Lesern zugezogen. Exemplarisch für Kritik, die ich bedenkenswert finde, sei hier der von vielen Lesern empfohlene Kommentar von ‚Kellhus‘ wiedergegeben:
    „Todd sagt interessante Dinge, besonders zur Wirtschaft (Kritik des Euro), aber täuscht sich schwer über andere (wir erinnern uns an das, was er über den ‚revolutionären Hollandismus‘ gesagt hat). Hier wiederum habe ich den Eindruck, dass er sich täuscht, indem er Deutschland ins Visier nimmt und indirekt die Rolle der USA kleinredet. Welches ist der Staat, der am meisten verantwortlich ist für das aktuelle finanzialisierte Wirtschaftssystem, das von Krise zu Krise eilt und uns in die Katastrophe führt? Derjenige des rheinischen Industrie- und Familienkapitalismus oder derjenige der Wall Street? Welches ist der Staat, dessen Handeln in der Ukraine das schädlichste war? Derjenige von Merkel, die, selbst wenn sie nicht enorm viel zur Beruhigung der Dinge beigetragen hat, sich mehr folgend als führend gezeigt hat und in einem relativen Pragmatismus bleibt? Oder doch jener von Nuland und anderen neokonservativen Extremisten, bekennende Anhänger des amerikanischen Exzeptionalismus und des Schlimmsten fähig, um ihre Hegemonie zu konsolidieren?
    Gewiss befindet sich Deutschland heute auf dem wirtschaftlichen Feld in einer Position der Stärke in Europa und es nutzt sie, um Gewicht für sein Eigeninteresse auszuüben in den europäischen Orientierungen. Aber das Europa des Euro ist ein immer zerbrechlicherer Verbund, und Deutschland kann in seinen Forderungen nicht allzu weit gehen. Man sieht auch bereits die Grenzen seines wirtschaftlichen Erfolgs (..). Schließlich verfügt Deutschland weder über die militärische Macht, noch über die Soft Power, die aus ihm einen Rivalen der USA machen würde (ganz zu schweigen von einer imperialen Ideologie, die es mit dem US-Exzeptionalismus aufnehmen könnte). Es ist deshalb nach meiner Meinung ein Missbrauch, von einem ‚Deutschen Reich‘ zu sprechen.“
  • Trotz dieser berechtigten Kritik an Todds Übertreibung bleibt ein wahrer Kern an seiner Beobachtung, dass sich Deutschland ein wirtschaftliches und politisches Imperium gebaut hat, das nicht für alle Völker Europas positiv wirkt. Es macht deshalb Sinn, sich auch mit diesem Konstrukt zu beschäftigen, seinen Absichten und seiner Mechanik, insbesondere auch mit seiner brutalen und anti-demokratischen Mechanik, die sehr wohl registriert wird.
  • Die Grafiken über die seit 2003 oder 2007 stark abfallende Wirtschaftsleistung der meisten europäischen Volkswirtschaften im Vergleich mit Deutschland sind absolut schockierend, gerade auch dann, wenn man die großen Länder UK, Italien und Frankreich betrachtet. Das kann nicht gutgehen.
  • Es gibt aber auch Punkte, in denen ich eine ganz andere Wahrnehmung habe als Todd: Juncker war nicht Merkels Mann für Brüssel. Falls doch, hat sie es gut verborgen. In deutschen Medien habe ich das so gelesen, dass sie Juncker nach langem Zögern notgedrungen akzeptiert hat. Auch in der Spionage-Affäre war die deutsche Binnensicht so, dass Merkel abgewiegelt und die Amerikaner gedeckt habe.
  • Die Frage „Deutsches Europa“ oder „Europäisches Deutschland“ wurde auch hierzulande ab 2009/2010 intensiv diskutiert. Zahlreiche Bekenntnisse der Art „kein deutsches Europa“ helfen aber nicht gegen die Realität der Machtverhältnisse in Europa. Es gibt andere Autoren, die diese Realität klar sehen.

Fortsetzung: ein deutsch-amerikanischer Konflikt?

Nachtrag 4.4.2017:
German Foreign Policy: „Vor dem Hintergrund drastischer Warnungen vor einem möglichen Zerfall der EU bemüht sich Berlin, die Bildung von Gegenmacht in der Union zu verhindern.“ Gegenmacht! In dem Artikel wird praktisch alles bestätigt, was Emmanuel Todd über die Funktionsweise des „Deutschen Europa“ behauptet.

Nachtrag 28.7.2017:
Thomas Fazi erläutert in Makroskop, warum er das „Deutsche Europa“ für planmäßig konstruiert hält: Deutschlands „neues Imperium“

Das deutsche Europa

Dieses Interview mit Emmanuel Todd wurde für den Blog Les-Crises.fr von Olivier Berruyer im August 2014 durchgeführt, am 8. September 2014 veröffentlicht und ebendort am 7. Februar 2017 nochmals als PDF veröffentlicht, weil es sich im Jahr 2016 als außerordentlich hellsichtig herausgestellt hat.
Ich beginne gleich mit dem Teil III des Originaldokuments:

Deutschland hat den Kontinent im Griff

Karte

Olivier Berruyer: Diese Karte zeigt das neue deutsche Reich so, wie es nach Ihrer Meinung ist. Man sieht die zentrale Stellung Deutschlands angesichts verschiedener Satelliten oder jener, wie Sie es sehr gut sagen, im Zustand freiwilliger Knechtschaft. Was drückt diese Karte für Sie aus?

Emmanuel Todd: Ich hätte gerne, dass sie hilft, die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, dass Europa seine Natur verändert hat, und dass sie nicht nur die Gegenwart ausdrückt, sondern auch eine mögliche nahe Zukunft… Das hier ist ein erster Versuch einer visuellen Darstellung der neuen Realität Europas. Sie hilft, den zentralen Charakter Deutschlands zur Kenntnis zu nehmen und die Art und Weise, wie es den Kontinent im Griff hält.
Die erste Sache, die diese Karte zu sagen versucht, ist, dass eine informelle Zone existiert, die größer ist als Deutschland selbst, die „direkte deutsche Zone“, die Länder enthält, deren Volkswirtschaften eine quasi-absolute Abhängigkeit von Deutschland haben.

Olivier Berruyer: Eine Zone von ca. 130 Millionen Einwohnern

Emmanuel Todd: In der Tat. Aber diese Zone ist nicht der einzige Grund für den deutschen Einfluss. Ich glaube, dass Deutschland niemals in der Lage gewesen wäre, die Kontrolle über den Kontinent zu erlangen, ohne die Kooperation Frankreichs. Das ist ein anderes Element, das durch diese Karte dargestellt wird: die freiwillige Knechtschaft Frankreichs und seines wirtschaftlichen Systems und in diesem Rahmen die Akzeptanz durch die französischen Eliten des goldenen Euro-Käfigs, der er vielleicht für sie ist, aber nicht für das französische Volk. Die französischen Banken überleben mehr schlecht als recht in diesem goldenen Käfig. Frankreich fügt seine 65 Millionen Einwohner der direkten deutschen Zone hinzu und verschafft ihm eine Art von kritischer Masse auf der kontinentalen Skala.

Olivier Berruyer: Nahe bei 200 Millionen

Emmanuel Todd: Was bedeutet, dass wir schon oberhalb der russischen oder japanischen Größenordnung sind. Dieser schwarze und graue Block stellt das Herz der deutschen Macht dar; er hält Südeuropa in der Unterwerfung, das eine dominierte Zone im Inneren des europäischen Systems selbst geworden ist. Deutschland wird in Italien für seine eiserne Hand in Budgetfragen verabscheut, in Griechenland und wahrscheinlich in ganz Südeuropa. Aber diese Länder können dagegen nichts machen, weil Deutschland mit seinem Nahbereich plus Frankreich die Kapazität hat, alles zu dominieren. Diese Länder sind auf der Karte in orange dargestellt (Anmerkung des Übersetzers: ich sehe da eher gelb).
Ich schlage eine weitere spezifische Kategorie von Ländern vor, in Rot diejenigen, die ich die „russophoben Satelliten“ genannt habe. Paradoxerweise haben diese Länder ein gewisses Maß von Freiheit. Sie sind im deutschen Souveränitätsraum, aber ich qualifiziere ihren Status nicht als Knechtschaft, weil sie reale autonome Bestrebungen haben und besonders eine antirussische Leidenschaft. Beachten Sie: Frankreich hat keinen Traum mehr unter der Führung der Sozialistischen Partei, der UMP und seiner Finanzinspektoren. Es strebt nur noch danach zu gehorchen, nachzuahmen und seine Jetons fürs Dabeisein einzustecken. Polen, Schweden und die baltischen Staaten ihrerseits haben einen Traum: Russland das Fell über die Ohren zu ziehen. Ihre freiwillige Teilnahme am Raum unter deutscher Dominanz erlaubt ihnen, daran zu glauben. Aber ich frage mich, ob tiefer drinnen das wieder nach rechts gerückte Schweden nicht dabei ist, wieder vollständig das zu werden, was es vor 1914 war, d.h. germanophil.
Die russophoben Satelliten verdienen eine besondere Kategorie, weil sie zu den Kräften gehören, die Deutschland helfen können zu verkommen. Die französischen Eliten haben ihrerseits schon daran mitgewirkt, dass Deutschland verkommen ist, indem sie es vergöttert und sich geweigert haben, es zu kritisieren. Die französische Unterwerfung wird künftigen Historikern als fundamentaler Beitrag zur kommenden psychischen Schräglage Deutschlands erscheinen. Mit Schweden oder Polen oder den Balten ist es wieder etwas anderes. Hier geht es frei und direkt darum, Deutschland wieder in die Gewalttätigkeit der internationalen Beziehungen hinein zu ziehen.
Ich habe Finnland und Dänemark nicht in dieser Kategorie platziert. Im Gegensatz zu Schweden ist Dänemark von authentisch liberalem Temperament. Seine Bindung an England geht über die einfache Zweisprachigkeit eines guten Teils der Bevölkerung hinaus, die typisch skandinavisch ist. Es schaut nach Westen und ist nicht von Russland besessen. Finnland hat seinerseits gelernt, mit den Sowjets zu leben, und hat keinen wirklichen Grund, an der Möglichkeit zu zweifeln, dass es sich mit den Russen versteht. Gewiss war es gegen sie im Krieg. Es hat zwischen 1809 und 1917 zum Zarenreich gehört, aber in der Form eines Großherzogtums, eine Situation, die es ihm erlaubt hat, dem schwedischen Einfluss zu entkommen. Die wirkliche Kolonialmacht ist für die Finnen Schweden und ich zweifle daran, dass sie wirklich Lust haben, wieder unter schwedische Führung zu geraten. Auf der Karte sind Finnland und Dänemark deshalb dominiert wie die Länder des Südens. Absurd? Die finnische Wirtschaft bezahlt bereits den Preis für die europäische Aggression gegen Russland. Und Dänemark wird durch die englische Flucht in Schwierigkeiten geraten.
Das Vereinigte Königreich habe ich als „dabei zu entweichen“ beschrieben, weil die Engländer nicht in einem kontinentalen System bleiben können, das ein Horror für sie ist. Weil sie nicht die Gewohnheit wie gewisse Franzosen haben, den Deutschen zu gehorchen. Aber auch deshalb, weil sie zu einer anderen Welt gehören, viel aufregender, weniger alt und autoritär als das deutsche Europa, die „Anglosphäre“: Die USA, Kanada, die ehemaligen Kolonien… Ich habe Gelegenheit gehabt zu sagen, dass ich mit ihrem Dilemma sympathisiere, wie furchtbar es sein muss, britisch zu sein angesichts eines Europas, das so wichtig ist in den Handelsbeziehungen, aber geistig arthritisch.

Olivier Berruyer: Glauben Sie, dass sie eines Tages die EU verlassen werden?
(Erinnerung des Übersetzers: das Interview wurde im August 2014 geführt)

Emmanuel Todd: Die Engländer sind nicht stärker oder besser, aber sie haben natürlich die USA hinter sich. Schon ich, ein kleiner Franzose, der mit dem Verschwinden der Autonomie seiner Nation konfrontiert ist, würde ohne Zögern die amerikanische Hegemonie wählen, wenn ich die Wahl hätte zwischen der deutschen und der amerikanischen Hegemonie. Also was, glauben Sie, werden die Engländer wählen?
Ich habe Ungarn in seinem Bestreben zu entkommen zu den Briten geschlagen. Viktor Orban hat sich in Europa einen schlechten Ruf erarbeitet. Angeblich, weil er autoritär und hart rechts ist. Vielleicht.
Aber vor allem, weil er dem deutschen Druck widersteht. Man kann sich fragen, warum Ungarn nicht antirussisch ist, obwohl es doch 1956 eine gewalttätige russische Repression erlitten hat. Wie so oft muss das „obwohl“ hier wahrscheinlich durch ein „weil“ ersetzt werden. 1956 hat nur Ungarn etwas unternommen. Mehr als die Polen oder die Tschechen, die sich damals wenig oder gar nicht gerührt haben, kann Ungarn stolz sein auf seine Geschichte unter russischer Dominanz. Es kann verzeihen. Ein guter ungarischer Witz der 1970er Jahre kann helfen, die osteuropäischen Unterschiede zu verstehen: „1956 haben sich die Ungarn wie Polen verhalten, die Polen wie Tschechen und die Tschechen wie Schweine“.
Ich habe die Ukraine als „wird annektiert“ dargestellt. Die Ukraine erscheint nicht gerade wie ein Traum-Anschlusskandidat für die Europäer. Es geht um die Annexion einer Zone in staatlicher und industrieller Auflösung, die durch die Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union beschleunigt werden wird. Aber es geht auch um die Annexion einer aktiven Bevölkerung zu sehr niedrigen Kosten. Nun beruht aber das neue deutsche System auf der Annexion von aktiven Bevölkerungen. In einer ersten Zeit hat man diejenigen von Polen, Tschechien, Ungarn etc. genutzt. Die Deutschen haben ihr industrielles System neu organisiert, indem sie ihre Arbeit zu geringen Kosten einsetzten. Die aktive Bevölkerung einer Ukraine von 45 Millionen Einwohnern, mit seinem guten Ausbildungsniveau, das es von der sowjetischen Epoche geerbt hat, wäre ein  außergewöhnlicher Fang für Deutschland, die Möglichkeit eines dominanten Deutschland für sehr lange, und vor allem würde es mit seinem Reich sofort an wirtschaftlicher Potenz oberhalb der USA herauskommen. Armer Brzezinski!

Olivier Berruyer: Und bei dem, was  bei der Energieversorgung auf dem Spiel steht (siehe Karte)

KartePipelines

Emmanuel Todd: Hier sind die wichtigsten Gas-Pipelines (franz.: gazoducs) angegeben, um einen Mythos umzuwerfen. Den Mythos, dass die Russen durch den Bau der Pipeline South Stream nur der Kontrolle ihrer Energiebeziehungen durch die Ukraine entkommen wollen. Wenn man alle Verläufe der existierenden Pipelines betrachtet, ist nicht ihre einzige Gemeinsamkeit die Durchquerung der Ukraine, sondern auch, dass sie alle in Deutschland ankommen. Tatsächlich ist das wirkliche Problem der Russen nicht nur die Ukraine, sondern auch die Kontrolle der Ankünfte der Pipelines durch Deutschland. Und das ist auch das Problem der Südeuropäer.
Wenn man aufhört, Europa in naiver Weise als ein egalitäres System zu denken, das Probleme mit dem russischen Bären habe, sieht man auch, dass Deutschland auch ein Interesse daran haben könnte, dass die Pipeline South Stream nicht gebaut wird, weil sie dafür sorgen würde, dass die Energieversorgung desjenigen Teils Europas seiner Kontrolle entgleiten würde, den es dominiert. Strategisch steht mit South Stream also nicht nur etwas zwischen Ost und West, zwischen der Ukraine und Russland, auf dem Spiel, sondern auch zwischen Deutschland und dem dominierten Südeuropa.

Aber nochmals: diese Karte ist keine definitive Karte; es ist eine Karte mit dem Ziel, ein Anfangsbild zu zeichnen von der Realität in Europa und uns herauszuholen aus der Ideologie der neutralen Karten, die verbergen, was Europa gerade wird: ein System von ungleichwertigen Nationen, die in eine Hierarchie gezogen werden, in der es ernsthaft dominierte Länder gibt, aggressive Länder, ein dominantes Land sowie ein Land, das die Schande des Kontinents ist, das unsere, Frankreich.

Olivier Berruyer: Sie sagen nichts zur türkischen Frage….

Emmanuel Todd: Wenn ich davon nicht gesprochen habe, dann deshalb, weil das keine Frage mehr ist. Die Europäer wollen von der Türkei nichts wissen. Sehr viel wichtiger ist aber, dass die Türken von Europa nichts mehr wissen wollen. Wer würde von nun an noch in dieses Völkergefängnis eintreten wollen?

Kommentare:

  • Die hier wiedergegebene Analyse stammt nicht von mir, sondern von Emmanuel Todd. Ich bin nur der Übersetzer.
  • Ich stelle sie hier vor, weil sie in sehr interessanter Weise allem widerspricht, was in der deutschen Debatte (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) zu diesen Fragen zu hören ist:
    • Es ist völlig klar, dass der rein moralische, interessenfreie Diskurs des deutschen Mainstreams über die Lage und die Konflikte in Europa völliger Unsinn ist, eine Erzählung für den Kindergarten: „Wir sind die Guten! Wir wollen nur helfen!“
    • Aber auch die rechte Opposition, die bedauerlicherweise das Feld ernsthafter Opposition fast für sich allein hat, ist tief in einer deutschen Sicht gefangen, in der Südeuropa auf deutsche Kosten lebt und der Konflikt in der Ukraine ein Konflikt zwischen den USA und Russland ist, ebenfalls auf deutsche Kosten. Sie kann oder will nicht erkennen, dass Deutschland mit seinen Interessen tief in den Ukrainekonflikt verstrickt ist und dass zumindest die deutsche Elite Südeuropa mehr dominiert als alimentiert.
  • Mit der These von der kommenden Flucht Englands aus der EU hat Todd mal wieder einen Volltreffer gelandet, fast 2 Jahre vor dem Brexit-Votum! Und dieser Treffer zeigt eben auch, dass das keine Laune einer „rassistischen“ Bevölkerung war, kein Unfall, sondern sehr viel tiefere Ursachen hat. Dieser Treffer sollte ein Hinweis sein, sich auch die anderen Teile der Analyse ganz genau und vorurteilsfrei anzusehen. Könnte beispielsweise auch die Analyse der ungarischen Rolle stimmen?
  • In diesem Interview mit der ZEIT aus dem Frühjahr 2014 sind die Grundideen zum deutschen Europa bereits enthalten, aber sehr viel zahmer formuliert und weniger ausgearbeitet als im Interview oben
  • Im nächsten Beitrag wird es um den Weg zu dieser deutschen Dominanz in Europa gehen, also um die Teile I und II des Originalinterviews

Fortsetzung: Entstehung und Antrieb des deutschen Europa

Nachtrag 16.3.2017:
Der Russe bedroht Schweden. Wirklichkeit oder doch wieder Fake News?

Nachtrag 23.3.2017:
Russland fordert mit seinen Rüstungsausgaben die NATO heraus.

Nachtrag 25.3.2017:
Einen ganz anderen, nicht Deutschland-zentrierten, Blick auf die Russophobie hat Strategic Culture: Russophobia – Symptom of US Implosion

Nachtrag 30.3.2017:
Im März-Heft des Cicero findet sich ein Artikel darüber, dass in Polen ca. 80000 Zivilisten in paramilitärischen Gruppen für die Landesverteidigung trainieren. Als Bedrohung Nr. 1 werde Russland angesehen. Der Artikel ist bis zum Monatsende noch nicht online gestellt worden.