Wie Freihandel versagt

Trump machte sich schon vor seinem offiziellen Amtsantritt daran, dem unbegrenzten Freihandel ans Leder zu gehen, und drohte zunächst Autobauern mit kräftigen Zöllen, wenn sie in Mexiko Autos bauen und in den USA verkaufen wollen. Stellt er mit dem Freihandel ein unumstrittenes Erfolgskonzept in Frage?
Emmanuel Todd hat vor 19 Jahren in seinem Buch „L’illusion économique“ (Deutscher Titel: „Die neoliberale Illusion“) beschrieben, worin das Problem des unbegrenzten Freihandels besteht und dass er (gemeinsam mit anderen Ursachen) für die weltweiten wirtschaftlichen Ungleichgewichte mitverantwortlich ist.
Seine Grundthese lautet, dass durch den Freihandel ein rein mikroökonomischer (Kosten-)Wettbewerb der Unternehmen entsteht, der die Nachfrage unweigerlich hinter die Produktivität zurückfallen lässt und damit in die Krise führt. Um diese Idee zu entwickeln, beschreibt er zunächst die makroökonomischen Erfolge der Nachkriegszeit in allen Industrieländern des Westens:

Die Regulierung der globalen Nachfrage durch die Nationen

Die Wachstumsrate einer Volkswirtschaft hängt sehr banal von zwei Faktoren ab: ihrer technologischen Fähigkeit, das Angebot von Gütern und Dienstleistungen zu erhöhen, und ihrer  gesellschaftlichen Fähigkeit, die Nachfrage nach diesen Gütern und Dienstleistungen zu erweitern. Der Konsum muss im Takt mit der Produktion voranschreiten. Die sehr hohen Wachstumsraten, die man in den meisten westlichen Ländern nach dem zweiten Weltkrieg beobachtete, erklärten sich durch die Kombination eines technologischen Schubs mit einer Entfesselung des Konsums. Der technische Fortschritt leitete sich aus der Anwendung der schlecht genutzten Erfindungen der Jahre 1930-1945 ab, die bis dahin durch die Krise und den Krieg eingefroren waren. Die Dynamik der Nachfrage resultierte ihrerseits nach dem Krieg aus der Entstehung eines neuen sozialen Konsenses über die Verteilung der Früchte des Wachstums. Alle – Arbeiter, Angestellte, Führungskräfte, Bauern und Rentner – sollten von regelmäßigen Erhöhungen ihrer Einkünfte profitieren. Der makroökonomische Effekt dieses neuen Konsenses war eine implizite und dauerhafte Vorwegnahme der Erhöhung der Produktion. Die stark integrierten Gesellschaften der Nachkriegszeit waren in der Lage, durch Konsum alle Produktivitätsgewinne zu absorbieren und so die Vollbeschäftigung sicherzustellen. Der Sozialpakt regelte das Uraltproblem des Absatzes, sogar ein wenig zu gut, da ja gegen Ende der 1960er Jahre die Vorwegnahmen der Einkommensteigerung die Oberhand gewannen über das Potenzial zur Produktionssteigerung, so dass der Verzug eine strukturelle Tendenz zur Inflation nach sich zog…

Der grundlegende Rahmen der Neuaufstellung der Produktivkräfte und der Erweiterung des Konsums war damals die Nation. In einer Gesellschaft, die sich stark ihrer Einheit bewusst ist, der Solidarität der wirtschaftlichen Akteure, der Tatsache, dass der Produzent Konsument sein muss, betrachtet ein Unternehmen die Reduzierung seiner Gehaltsmasse nicht als eine Priorität. Es weiß, dass die Gehälter, die es ausschüttet, ein Teil des globalen Konsums sind, von dem es für seinen Absatz abhängt. Es ist wahr, dass ein Unternehmen, das seine Gehälter erhöht, nicht wirklich seinen eigenen Absatz erhöht, sondern eher den anderer Unternehmen. Das Say’sche Absatztheorem will die theoretische Unmöglichkeit der Überproduktion zeigen, indem es unterstreicht, dass das Angebot seine eigene Nachfrage erzeugt, indem jedes Unternehmen gleichzeitig Produktion schafft durch die Güter, die es auf den Markt bringt, und Konsum durch die Einkünfte, die es verteilt. Es kann nicht angewendet werden auf technologisch dynamische Volkswirtschaften, in denen eine Erweiterung des Konsums diejenige der Produktion begleiten, vorwegnehmen muss. Aber in der aufgeklärten Welt der Nachkriegszeit verbindet ein komplexes und subtiles Spiel die Unternehmen miteinander und die Arbeiter mit den Arbeitgebern, damit eine optimierte globale Nachfrage aufrechterhalten wird. Ihre Vorwegnahmen sind nicht rational und individuell, sondern vernünftig und kollektiv. Im Fall einer Dejustierung greift der Staat, ein nationaler wirtschaftliche Akteur, ein, um den Konsum zu unterstützen. Während der ganzen Nachkriegszeit hat das Wachstum der Bevölkerung dazu beigetragen, dass die Nachfrage und die Produktion nach oben getrieben wurden.

In diesem keynesianischen mentalen System haben die Akteure die Idee verinnerlicht, dass das Voranschreiten des Konsums essentiell ist und dass eine Volkswirtschaft, die vom technologischen Fortschritt getrieben wird, immer von einer Tendenz zur Konsumschwäche bedroht ist. Die optimale Welt von Keynes kombiniert ein gutes Verständnis der wirtschaftlichen Akteure für das Problem des Absatzes und einen sozialen Pakt, der den Konsum begünstigt, der in der Praxis nur im nationalen Rahmen voll realisiert werden kann. Der Triumph des Keynesianismus war deshalb ebenso sehr ein gesellschaftlicher wie ein intellektueller Moment. Aus Sicht der späteren Geschichte und im Besonderen  des Vergessens des Problems der globalen Nachfrage durch die europäischen Regierenden der Jahre 1985-1995 kann man behaupten, dass der Sieg von Keynes mehr dem  hervorragenden Zusammenhalt der Nachkriegsnationen, dem gesellschaftlichen Faktor, verdankt als der ökonomischen Kompetenz der Eliten jener Zeit, dem intellektuellen Faktor. Machtvoll integriert durch die Massenalphabetisierung hatten die Nationen von 1945 gerade die schrecklichste der Prüfungen durchlebt. Der zweite Weltkrieg hat die Arbeit des ersten vollendet und zum Punkt der Vollendung des Gefühls der nationalen Einheit geführt. In jedem Land, Sieger oder Besiegten,  hat das Leiden die Gruppen und Klassen im Gefühl eines gemeinsamen Schicksals zusammengeführt, sei es glücklich oder tragisch. Von da kam die einfache Entstehung, als der Frieden erst einmal wieder gekommen war, einer wirtschaftlichen Regulierung im Stil von Keynes.

Aber was wird aus einer solchen tendenziellen Erhöhung der Nachfrage, wenn sich die Nationen für den Freihandel öffnen oder sich ihm vielmehr ausliefern?

Freihandel und Konsumschwäche

Der Freihandel trennt geografisch, kulturell und psychologisch das Angebot von der Nachfrage. Er verknüpft die Produzenten eines Landes A mit den Konsumenten der Länder B, C, D, E und umgekehrt. Aus der Sicht der Nation wie des Unternehmers zerfällt die globale Nachfrage in zwei Komponenten, die innere Nachfrage und die äußere Nachfrage, was die schicksalhafte Gleichung wiedergibt: Dg=Di+Dx. Der Freihandel erschafft ein wirtschaftliches Universum, in dem der Unternehmer nicht mehr das Gefühl hat, mit den Gehältern, die er auszahlt, zur Bildung einer globalen Nachfrage auf nationaler Ebene beizutragen. Die Gehälter, deren Aggregation auf weltweiter Ebene nur eine unzugängliche Abstraktion ist, stellen von nun an für das Unternehmen nur noch Produktionskosten dar, die so weit wie möglich zu reduzieren, es ein Interesse hat. Eine solche logische Konfiguration erzeugt ideale Bedingungen für einen systematischen Rückstand der globalen Nachfrage gegenüber der Produktivität, die vom technischen Fortschritt geschaffen wird. Dass der Handel außerhalb der Nation gestellt wird, bringt den Kapitalismus in sein primitives, vorkeynesianisches  Stadium zurück: das eines Systems, dessen Akteure es nicht mehr schaffen, die Idee einer globalen Nachfrage  zu erfassen, und total vom mikroökonomischen Spiel der Kräfte dominiert werden.
Die Lektüre der amerikanischen Handbücher für internationale Ökonomie, die unversiegbar über die positiven Effekte des Freihandels für die Produktivität schwätzen, schweigen sich typischerweise aus über die Auswirkungen auf die Nachfrage. Sie spekulieren unermüdlich über die Kostenvorteile für die Verbraucher, deren Existenz problematisch wird. Eine solche Auslassung ist in sich selbst bemerkenswert: es ist nicht vorstellbar, dass ein Problem, das die Mehrheit der Ökonomen zwischen 1930 und 1965 beschäftigt und gepeinigt hat wie durch Verzauberung  jedes intellektuelle und praktische Interesse verloren hat. So viel Schweigen dröhnt im Kopf. Die Welt scheint in die Zeit vor 1930 zurückgefallen zu sein. …

Der Freihandel, wenn er bis an seine äußersten Konsequenzen getrieben wird, schafft die Möglichkeit einer makroökonomischen Regulierung ab…

Ravi Batra, ein nonkonformistischer amerikanischer Volkswirt, hat für die meisten der entwickelten Länder systematisch offengelegt, wie die Gehälter, also der Konsum, sich von der Produktivität unter der Wirkung des Freihandels abgekoppelt haben…

Die Freihandels-Illusion

Der Protektionismus wird offiziell von den westlichen Eliten als eine überholte Doktrin betrachtet, als ökonomisch und politisch schädlich. Jeder Schutz, selbst ein partieller, für die nationalen Märkte würde die Konkurrenz  behindern und zur Stagnation führen, die den Planeten um Spezialisierungen berauben würden, die allen nützen. Jedes Land zu zwingen, Dinge zu produzieren, die anderswo zu geringeren Kosten produziert werden können, würde bedeuten, die Produktivität und den mittleren Lebensstandard der ganzen Welt zu senken. Die Wiederherstellung  der Zollrechte würde zur Entfesselung der Nationalismen und zum Krieg führen. Wenn man den Ideologen des Freihandels folgt, sei der Protektionismus  die letztliche Ursache der Probleme des frühen 20. Jahrhunderts gewesen….
Die politischen Führer des Westens feiern im Kern den Freihandel und seine Vorzüge, und nutzen als minimales intellektuelles Gepäck im Allgemeinen einige schlecht verdaute Seiten von Adam Smith und von Ricardo über die absoluten oder komparativen Vorteile des internationalen Handels. Sie haben dabei eine deutliche Vorliebe für das völlig archaische Ricardo’sche Beispiel Portugals, das seinen Wein gegen Textilien handelte, die aus Großbritannien kamen. Diese ökonomische Pseudo-Kultur ist voller Boshaftigkeit, da ja Portugal ganz offensichtlich durch zwei Jahrhunderte des Handels mit Großbritannien in der Unterentwicklung festgehalten wurde, während dieses letztere, das durch sein Freihandelsdogma gelähmt war, sich verbot, auf die neuen amerikanischen und deutschen Konkurrenten zu reagieren, und so einen originalen Weg in die relative Unterentwicklung definierte.

Aber welche Bedeutung hat schon die Geschichte und die Realität der Welt!  Warum sollte man sich für das wirtschaftliche Durchstarten Großbritanniens interessieren, das im 17. und 18. Jahrhundert dank  mächtiger protektionistischer Maßnahmen stattfand? Die Schiffahrtsgesetze behalten ab 1651 den Transport von Waren englischen Schiffen vor; die indischen Baumwollstoffe sind während des Aufstiegs der Textilindustrie von Lancashire aus Großbritannien verbannt; der Export britischer Ausrüstungsgüter ist von 1774 bis 1842 verboten.  Lasst uns ebenso das amerikanische industrielle Durchstarten vergessen, das sich nach dem Sezessionskrieg dank Zollschranken abspielte, die 40% des Werts der importierten Objekte überschritten! Lasst uns auch nicht vom deutschen Durchstarten am Ende des 19. Jahrhunderts sprechen, das nicht eine solche Macht gehabt haben könnte, wenn Bismarck nicht 1879 den Protektionismus gewählt hätte. Lasst uns, um ganz sicher zu gehen, auch die Gegenwart abschaffen, dieses Japan, zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, das über sein initiales Durchstarten hinaus protektionistisch bleibt. Lasst uns schamhaft die Augen von diesen unterbewerteten asiatischen Währungen abwenden, die unter dem Regime von flexiblen  Wechselkursen eine der modernen Formen des Protektionismus darstellen. Schließlich wollen wir uns weigern, das Wesentliche zu sehen, das globale Resultat des modernen Freihandels im Sinne des Wohlergehens der Bevölkerungen: die Absenkung der Zollschranken im überwiegenden Teil der westlichen Welt wurde von einem Fall der Wachstumsrate der Weltwirtschaft begleitet und von einem furchtbaren Anstieg der inneren Ungleichheiten in jeder Gesellschaft.

Die Fanatiker des Freihandels, die an den Dynamismus des Planeten glauben wollen, hören nicht auf,  bruchstückhafte Daten vorzubringen, lokale oder sektorielle. Sie schinden bei sich selbst Eindruck mit dem Durchstarten, in Europa und Asien, von Irland, Singapur oder des küstennahen China, um nur einige Vorzeige- und untypische Volkswirtschaften aus der Mitte der 1990er Jahre zu zitieren. Sie versichern uns, dass der von diesen winzigen Ländern oder weiten, aber minderheitlichen Regionen gewählte Weg von der Gesamtheit der sich entwickelnden Welt verfolgt werden kann, und entrüsten sich im Voraus über eine mögliche Rückkehr der fortgeschrittenen Gesellschaften zur Protektion. Sie geraten in Verzückung über den weltweiten Boom bei Faxgeräten und Mobiltelefonen, ohne die offensichtliche Tatsache zu erwähnen, dass der Anstieg der Ungleichheiten in jeder Gesellschaft mechanisch die Entwicklung von Partialmärkten für die Privilegierten sicherstellt. Ohne dass sie besonders high-tech wären, fallen der „Führer für Hotels mit Charme“, dasChanel No. 5“ und dieGrands- Crus-Weine“  in diese Kategorie….

Die globalen Daten sind jedoch wenig beeindruckend. Der Weltwirtschaft geht es immer weniger gut. …

Es ist ziemlich leicht, einen logischen Zusammenhang herzustellen zwischen der Wachstumsschwäche und der Öffnung für den Freihandel. Aber man muss dafür aufhören, den internationalen Handel allein wahrzunehmen im Sinne des Angebots von Gütern und Dienstleistungen, wie es fast immer der Fall ist in den rechtmeinenden Handbüchern der Ökonomie, und die Frage stellen nach der globalen, d.h. der weltweiten Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen.

Kommentare:

  • Die notorische Schwäche der Nachfrage mangels Einkommen in der globalisierten Wirtschaft wurde, insbesondere in den USA, aber auch in Europa, teilweise durch exzessive Kredite gemildert, was ein wichtiger Grund für die ausufernde Verschuldung ist. Inzwischen ist diese Verschuldung selbst an ihre Grenze gestoßen und nicht mehr steigerbar. Das ist der Grund, warum das Thema des Freihandels gerade jetzt mit Macht zurückkommt.
    Die Verschuldung ist in dieser Betrachtung also keine letzte Ursache, kein weiteres Argument gegen den Keynesianismus, sondern selbst nur eine Folge einer angebotsorientierten, freihändlerischen Politik, die die elementaren Erkenntnisse von Keynes in den Wind geschlagen hat.
  • Die inzwischen extrem hohen deutschen Exportüberschüsse sind ein Hinweis darauf, dass auch Deutschland kläglich dabei versagt, Angebot und Nachfrage in ein Gleichgewicht zu bringen. Deutschland schafft es damit zwar, seine Arbeitslosigkeit ins Ausland zu exportieren, was aber keine Lösung für das globale Problem darstellt. Die ganze Aussichtslosigkeit der konservativen deutschen Ansicht, dass Deutschland ein Vorbild für andere Länder sei, ist damit offensichtlich.
  • Wie der Zufall so will, hat gerade heute der renommierte Schweizer Volkswirt Mathias Binswanger in der ZEIT darauf hingewiesen, dass Freihandel natürlich nicht immer für alle Beteiligten vorteilhaft ist. Diese Tatsache werde aber von der herrschenden Lehre ignoriert. Erfreulicherweise nimmt er sich ebenfalls Ricardos Beispiel des Freihandels zwischen Portugal und England vor, um die Irrtümer zu erläutern. Er kommt zum selben Ergebnis wie Todd: Portugal war der Loser in diesem Deal und ist ihn auch nicht ganz aus freien Stücken eingegangen.
  • Todds Schlussfolgerung, dass der ungehinderte Freihandel nicht funktioniert und zu grundlegenden Problemen in der Weltwirtschaft führt, scheint mir zuverlässiger zu sein, als die Lösung einer Rückkehr zu den national und keynesianisch regulierten Volkswirtschaften der Jahre 1950-1980. Er nennt den starken nationalen Zusammenhalt nach dem Krieg als einen der begünstigenden Faktoren. Man kann also davon ausgehen, dass die Suche nach einem neuen Modell schwierig und chaotisch wird. Ein Präsident Trump mit seinem Teilverständnis und vielen ökonomischen Beratern aus der etablierten (Finanz-)Wirtschaft, die bisher dem Freihandel anhängen, könnte also viel Chaos anrichten und leicht an der epochalen Herausforderung scheitern. Jedenfalls leitet er aber die offizielle Abkehr vom Freihandelsdogma ein. Und genau hier liegt auch der Grund für Todds begrenzte Sympathie für die Präsidentschaft von Trump.

Nachtrag 26.2.2017:
Patrick Kacmarczyk: Wachstum durch Freihandel – Ein Mythos

Die strategische Trump-Karte

Anlässlich von Trumps gestriger Amtseinführung (und des immer rein moralischen Medien-Buheis in Deutschland und großen Teilen der westlichen Welt) wollte ich nochmals auf eine intelligente geostrategische Erklärung von Norbert Häring für das Phänomen Trump hinweisen:

Trump – Ein geostrategischer Erklärungsversuch

Trumps Rolle sei es, dem geostrategischen Wechsel vom Buhmann Russland (alias Putin) zum Hauptgegner China ein populistisches Gesicht zu geben. Die Hauptverlierer dieses Schrittwechsels seien die Europäer, weil sie auf einen Wink Washingtons (der gleichzeitig in Preußen auf besonders fruchtbaren Grund gefallen ist) die Last der Sanktionen gegen Russland getragen haben und jetzt düpiert sind. Das ist nicht unplausibel, denn es würde insbesondere die heftigen europäischen Abwehrreaktionen im Vorfeld von Trumps Wahl erklären. Auf die stark verschlechterte geostrategische Lage des amerikanischen Imperiums hatte vor Norbert Haering schon Emmanuel Todd drastischer in diesem Interview hingewiesen: „Das amerikanische System existiert nicht mehr. Sie tun nur noch so als ob“.
Auch Todd plädiert am Ende desselben Interviews für einen anderen Blick auf Russland und geißelt die „russische Obsession“ insbesondere der US-Demokraten. Er vertritt diese Position zu Russland schon mindestens ebenso lange wie er der Meinung ist, dass die amerikanische Hegemonie ihre beste Zeit hinter sich hat. Unter anderem hat er früh darauf hingewiesen, dass die einfache US-Bevölkerung objektiv an der Globalisierung leidet. Hier trifft sich die neue Geostrategie mit den legitimen Interessen normaler Amerikaner.

Deutschland könnte ein Hauptverlierer sein

Wenn aber Norbert Haering sagt, dass die Europäer die Leidtragenden dieses Strategiewechsels seien, dann wird es innerhalb Europas doch enorme Unterschiede geben. Er selbst vermutet, dass der Brexit dabei helfen soll, den Schaden für Großbritannien gering zu halten, einen privilegierten (und natürlichen) Verbündeten der USA.

In Frankreich haben Kommentatoren unmittelbar nach Trumps Wahl darauf hingewiesen, dass Berlin der Hauptverlierer von Trumps Schwenk sein würde:
„Deutschland hat unter dem Strich die amerikanischen Wahlen verloren. Während die französischen Aristokraten bei ihrer betretenen Mimik von erstaunten Männern von Welt bleiben, müssen sich die Deutschen ein wenig Sorgen machen: sie sind die großen Verlierer der Wahl von Trump in den USA“.
Er nennt mehrere Gründe:

  • Die bisherige Russland-Politik sei am Ende. Diese hält er eher für einen preußischen Plot, um alte Einflussgebiete in Osteuropa wieder gegen Russland zu behaupten. Die Preußen hätten es bisher geschafft, die USA als Schild gegen Russland einzusetzen und dabei Frankreich dazu zu bringen, dass es entgegen seinem traditionellem Interesse an einem starken Russland mitmacht.
    Eine steile These: war die Atlantik-Brücke vielleicht gar nicht so sehr eine Einbahnstraße, wie in Deutschland viele vermuten?
  • Trump würde die Europäer nötigen, mehr für Verteidigung auszugeben und das beträfe Deutschland mehr als Frankreich. Letztlich verlange Frankreich von Deutschland schon länger nichts anderes.
  • Trumps Vorgehen gegen einen ungezügelten Freihandel würde nicht nur China treffen, sondern auch Deutschland, den wichtigsten Netto-Exporteur in Europa.

Exakt dieser letzte Punkt ist diese Woche auch endlich in Deutschland angekommen. Drei Ökonomen haben darauf hingewiesen, dass Trump natürlich auch Deutschland meint und damit Recht hat: Heiner Flassbeck, Daniel Stelter und Jochen Fricke.
Wenn Trump behauptet, dass die EU nur noch deutschen Interessen diene, wird er in Südeuropa und Frankreich zweifellos Verbündete finden (die nur die berechtigten Interessen ihrer Länder vertreten) und Europa mit diesem Konflikt effektiv kontrollieren können.

Nicht Moral, sondern Interessen

Es ist also wohl gar kein Zufall, dass die deutschen Medien seit fast einem Jahr wie die Wutbürger auf Trump einschlagen, dass der deutsche Außenminister den diplomatischen Ton zwischenzeitlich hat fahren lassen. Die gewaltigen Interessengegensätze sind relativ klar zu erkennen.
Das hochmoralische Geschwätz kaschiert diese Interessenkonflikte und dient gleichzeitig dazu, eine weitgehend blind moralisierte deutsche Öffentlichkeit hinter einer nationalen Agenda zu versammeln, u.a. der Verteidigung der heiligen Exportindustrie. Das sollte man immer im Kopf behalten, wenn wieder allzu heftig auf die Moraldrüse gedrückt wird. Und vor allem sollten wir als kleine Bürger ernsthaft darüber nachdenken, welche Interessen wirklich legitim und zu wahren sind und welche so zweifelhaft oder unhaltbar sind, dass wir sie lieber freiwillig aufgeben sollten: Billiglöhner haben wenig vom Export, auch wenn er noch so boomt. Dass im Zweifel eher mehr Billiglöhner herangeschafft als Löhne erhöht wurden, konnte jeder seit mindestens 10 Jahren verfolgen. Binnennachfrage ist besser als Export.
Hochmoral ist in der Regel dazu da, Menschen von solchen schlichten Einsichten abzuhalten und für die Interessen von echten Profiteuren einzuspannen.

2017 wird ein spannendes Jahr.

Nachtrag 23.01.2017:
Sehr schöner Kommentar über den moraltriefenden Größenwahn in der Wirtschaftswoche: Deutschland soll die Welt retten? Lächerlich
Ferdinand Knauß ist immer wieder lesenswert.
Matthias Heitmann im Cicero: Das Trumpeltier ist nicht das Problem
„Niemand würde indes einen Abrissunternehmer für einen Architekten halten, auch wenn er zuerst zum Zug kommt.“
Die Gegenrede von Christoph Schwennicke: Das Trumpelstilzchen
„Nicht alle Ansätze von Donald Trump sind falsch. Doch sie werden überschattet von seinem Wesen, das offenbar nie der Pubertät entkommen ist.“
Und Makroskop: Der Trumpf des kleinen Mannes?
„In der Tat, das ist radikal, das ist gefährlich. Wäre er kein Milliardär, würde man glauben, er sei ein Sozialist. Der Mann klagt die Armut an und macht dafür das Establishment verantwortlich. Da dreht das deutsche Establishment vollkommen durch, vergisst sogar seine große Liebe zu Amerika und geifert in einer Art und Weise gegen den gewählten amerikanischen Präsidenten wie man es noch nie zuvor gesehen hat.“

Nachtrag 24.01.2017:
Aber Makroskop sieht Trump keineswegs unkritisch: Trumps Rede zur Vereidigung
Jan Fleischhauer im SPIEGEL: Wie man sich auf einen Handelskrieg vorbereitet
„Rechnen wir mit dem Naheliegenden. Rechnen wir damit, dass er meint, was er sagt, und das auch durchsetzt…Man kann Trump nur zustimmen, wenn er sagt, dass Handel keine Einbahnstraße sein sollte. Das gilt auch für Handelsdrohungen. Fangen wir mit Facebook an.“
Mit Facebook könnte man zum Beispiel so anfangen, dass man es mit unerfüllbaren Forderungen zur Zensur von „Fake News“ aus Deutschland vertreibt. Mit einer Klappe könnte  die Bundesregierung also zwei Fliegen schlagen: „Kampf gegen Rechts “ und Vergeltungs-Protektionismus gegen einen US-Konzern. Ähnlichkeiten mit realen Ereignissen sind natürlich rein zufällig.
ZEIT: Darauf war China nicht vorbereitet: Das Feindbild heißt China
Es sieht so aus, als liege der Blogger Norbert Häring nicht so ganz falsch. Die ZEIT braucht eben immer etwas länger (Als 1993 der Arbeitsmarkt für Chemiker ein tränenreiches Desaster war, hat es nur 2 Jahre gedauert, bis die ZEIT einen großen Artikel darüber gebracht hat. Zu dem Zeitpunkt war das Schlimmste bereits wieder überstanden!)

Nachtrag 27.01.2017:
Don Alphonso hat heute einen wunderbaren Text: Die Trump-Familie in Nepotentradition
Liebe Leser, merken Sie eigentlich auch, wie viele alternative Medien und Blogs ganz verschiedener Ausrichtung ihr Bestes geben, um zu verstehen, was Trump darstellt, während der Mainstream regelrecht unfähig ist zu irgendeiner Analyse, die Sie weiterbringen könnte? Spüren Sie auch die totale Ratlosigkeit?

Nachtrag 28.01.2017:
Mathias Bröckers hat auch eine Serie zu Trump: Real Game of Thrones: Der Mafia-Don

Nachtrag 1.2.2017:
Sehr gut zu Norbert Härings Theorie passt dieser aktuelle Beitrag bei Zerohedge und auch dieser zynische alte Kommentar von John Kornblum: Mach weiter so, Kanzlerin!

Nachtrag 5.2.2017:
Die irrsinnige Konfrontation zwischen Trump-Gegnern und -Anhängern kritisiert Fritz Goergen. Wolfgang Herles distanziert sich deutlich von der Trump-Begeisterung eines Teils der Rechten.
Ganz ähnlich wie Herles äußert sich auch erneut Matthias Heitmann im Cicero: Politische Amnesie und hysterische Paranoia
Alle unterstützen meine Ansicht, dass es töricht ist, sich durch die völlig entgleiste deutsche Trump-Berichterstattung in eine Trump-Unterstützung treiben zu lassen. Trumps Wahl ist ein Krisensymptom, nicht die Ursache, aber auch noch keine Lösung.

Nachtrag 7.2.2017:
In Makroskop gibt es eine vernichtende Kritik von Obamas Regierungszeit:
Der Präsident der Liberalen: Acht Jahre mit Barack Obama

Nachtrag 10.4.2017:
Makroskop: Trump – Freund oder Feind?

Nachtrag 18.05.2017:
Ein interessanter Beitrag, der exakt zu Norbert Härings Hypothese passen würde:
Der große britische Brexit-Raubzug: Wie unsere Demokratie gekapert wurde
Ist da etwas dran oder ist es ein Mindfuck von Leuten, die die Welt nicht mehr verstehen? Schwierige Frage. Was dagegen spricht: Nigel Farage, Donald Trump, Steve Bannon, Peter Thiel und Robert Mercer sollen die „Köpfe“ dieser Verschwörung sein. Farage? Really? Und dann auch noch die Russen im Boot? Hm. Ungewöhnlich, dass die Nachdenkseiten eine solche Theorie verbreiten. Zu viel für mich, das glaube ich vorerst nicht, behalte es aber im Hinterkopf.

Nachtrag 31.7.2017:
Paul Schreyer über die wachsende Rolle der Militärs in der US-Administration unter Trump. Eine Oligarchie von Bankern und Militärs.

Nachtrag 13.08.2017:
Christoph Schwennicke: Trump hat eine kurze Zündschnur

Nachtrag 6.10.2017:
Großartiger Vortrag von James Corbett über Kriegsvorbereitungen gegen China:
Echoes of WWI: China, the US, and the Next “Great” War