Es geht um Deutschland

Emmanuel Todd sieht Deutschland als den Großen Preis des Krieges in der Ukraine und Europa in tiefer Verwirrung.
Im Interview mit der Weltwoche hat er die Ursachen des Krieges, den Einsatz und die Folgen analysiert: ein Weltkrieg.
Dieser Blogbeitrag vergleicht seine heutigen mit früheren Aussagen Emmanuel Todds und den eigenen Veröffentlichungen.

Wegen der irrwitzig-absurden Corona-Politik blieb 3 Jahre lang kaum noch Zeit für die Ideen und Veröffentlichungen von Emmanuel Todd. Ich habe auch immer wieder nach seinen Äußerungen gesucht, aber nichts gefunden. Die Hintergründe offenbart er selbst in seinem jüngsten Interview, ausgerechnet und exklusiv in einer deutschsprachigen Zeitung:

Dieses Interview hat es nun wirklich in sich: Todd schwimmt mal wieder komplett gegen den Strom der veröffentlichen Meinung, er korrigiert in einigen wichtigen Punkten seine früheren Einschätzungen und bestätigt einige von denen, die ich in der Zwischenzeit hier auf dem Blog veröffentlicht habe.

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Zunächst einmal empfehle ich jedem Selberdenker, den Text des n.m.E. brillanten Historikers, Demografen und Sozialanthropologen selbst und ohne Interpreten bei der Weltwoche zu lesen und zu bedenken.
Diese lesenswerte Schweizer Zeitung bietet die Möglichkeit, sich direkt unter dem Artikel zu registrieren und dann bis zu 5 kostenpflichtige Artikel kostenlos zu lesen. Dieses exklusiv auf Deutsch gegebene Interview ist es wert, einer der fünf Beiträge zu sein.
Man findet das Interview darüberhinaus auch als PDF im Netz, wenn man das nicht will oder seine 5 kostenlosen Beiträge bereits verbraucht hat.

Inhalte und Abgleich

Ich stelle hier eine kleine Liste von Inhalten zusammen und gleiche sie mit früheren Blogbeiträgen von mir ab, die ich mit oder ohne Inhalte meines Lieblingssozialwissenschaftlers Emmanuel Todd geschrieben habe:

Interview exklusiv auf Deutsch

Todd berichtet, dass er sich in Frankreich und auf Französisch nicht zum Ukraine-Krieg geäußert hat:
„Frankreich spielt in diesem Krieg keine Rolle. Sein Gewicht ist null. Macron redet, Macron reist – alle lachen über Macron. Er ist nicht der Schlimmste, denn er ist bei weitem nicht der Russenfeindlichste“
„Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich völlig anders denke und fühle als meine Zeitgenossen. Darum habe ich mich nicht mehr geäußert“
„Ihnen gebe ich das erste Interview, denn Sie schreiben auf Deutsch. In diesem Krieg geht es um Deutschland
Außerdem habe er in Japan einen Bestseller zum Ukraine-Krieg veröffentlicht, weshalb er gerade dort unterwegs war.

Mitgefühl mit den Deutschen

Ich habe sehr viel Mitgefühl mit den Deutschen…
Deutschland ist ein Land, das sich vom Krieg losgesagt hat. Ein Land praktisch ohne Armee. Das so wenig Kinder zeugt, dass seine hauptsächlichste Sorge darin besteht, Arbeitskräfte für die Erhaltung seiner Industrie ins Land zu holen…
Deutschland hingegen hat seine Industrie aufrechterhalten. Es interessiert sich nur für die Wirtschaft. Seine Logik war: Russland liefert Gas, unsere beiden Länder sind komplementär. Und seit 1945 sorgt Amerika in einer Welt, für die wir keine Bedrohung mehr sein wollen, für unsere Sicherheit. Aus dieser durch und durch rationalen Überlegung heraus entstand das Projekt Nord Stream. Es ging darum, die von der Ukraine und Polen erhobenen Abgaben zu umgehen. Deutschlands Tragödie besteht darin, dass es noch immer daran glaubte, von den Vereinigten Staaten beschützt zu werden

Ich habe bereits früher darauf hingewiesen, dass Todd keineswegs germanophob ist, nur kritisch bezüglich der Schattenseiten deutscher Tugenden.

Amerika als Gegner Deutschlands

Im Interview fährt er fort:
„Zbigniew Brzezinski hatte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in «Die einzige Weltmacht» Eurasien als neues «großes Schachbrett» der Weltpolitik bezeichnet. Die russischen Nationalisten und Ideologen wie Alexander Dugin träumen tatsächlich von Eurasien. Auf diesem «Schachbrett» muss Amerika seine Vorherrschaft verteidigen – das ist die Doktrin Brzezinskis. Also die Annäherung von Russland und China verhindern. Die Finanzkrise von 2008 hat deutlich gemacht, dass Deutschland mit der Wiedervereinigung zur führenden Macht in Europa wurde und damit auch ein Rivale der USA. Bis 1989 war es politisch ein Zwerg. Nun ließ Berlin seine Bereitschaft erkennen, sich mit den Russen einzulassen. Der Kampf gegen diese Annäherung wurde zu einer Priorität der amerikanischen Strategie. Dass sie das Gasabkommen torpedieren wollten, hatten die USA stets deutlich gesagt. Der Ausbau der Nato in Osteuropa war nicht in erster Linie gegen Russland gerichtet, sondern gegen Deutschland.
Deutschland, das seine Sicherheit Amerika anvertraut hatte, wurde zur Zielscheibe der Amerikaner. Ich empfinde sehr viel Mitgefühl für Deutschland. Es leidet an diesem Trauma des Verrats durch den beschützenden Freund – der 1945 auch ein Befreier war“

Die Möglichkeit, dass es genau so kommen könnte, hatte Todd bereits 2014 ziemlich genau und treffsicher skizziert:
„Man muss also etwas ganz Anderes ins Auge fassen für die kommenden 20 Jahre als den Ost-West-Konflikt: der Machtzuwachs des deutschen Systems legt nahe, dass die USA und Deutschland auf einen Konflikt zulaufen. Das entspricht einer intrinsischen Logik, die auf den Kräfteverhältnissen und der Dominanz basiert. Es ist nach meiner Meinung unrealistisch, sich ein friedliches Einverständnis für die Zukunft vorzustellen

Ursache des Krieges

„Der Westen hat Russland provoziert. Der amerikanische Politologe John Mearsheimer hat nüchtern festgehalten, dass die Zusammenarbeit der Briten und Amerikaner mit seiner Armee die Ukraine faktisch zum Nato-Mitglied machte. Sie wurde aufgerüstet, um Russland anzugreifen. Putins Angriff war eine defensive Invasion. Er hatte diese Reaktion angekündigt und mit Krieg gedroht…
Mearsheimer argumentierte, dass die Ukraine für Russland von
existenzieller Wichtigkeit sei. Den Sieg Putins hielt er für eine Gewissheit. Er dachte aber auch, dass die USA die Ukraine aufgeben würden. In diesem zweiten Punkt irrte er sich. Dieser Krieg ist auch für sie von existenzieller Wichtigkeit: Falls Russland gewinnt, bricht das imperiale System der Vereinigten Staaten zusammen. Ihre Verschuldung ist phänomenal. Zur Erhaltung ihres Wohlstands sind die USA auf den Tribut der anderen Länder angewiesen“

„Ich leide wegen der Ukraine, es ist schrecklich, was ihr angetan wird. Sie war nie wirklich das Problem. Am Anfang ging es darum, die europäische Wiedervereinigung unter deutscher Vorherrschaft zu vereiteln. Die geostrategischen Beziehungen belegen es. Die Wahrheit der Nato sieht so aus: Sie besteht aus der Achse Washington–London–Warschau–Kiew. Deutschland und Frankreich sind ihre Juniorpartner, mit ihrer vorherrschenden Stellung in Europa ist es vorbei. Die Polen und die Ukrainer beschimpfen und beleidigen permanent die Deutschen. Für sie ist das unerträglich. Die Macht, die sie zu beschützen vorgab, hat nichts unversucht gelassen, um die vorherrschende Stellung Deutschlands in Europa zu zerschlagen. Deutschland befindet sich in einer Lage, die es in kognitiver Hinsicht überfordert“

Weltwoche: Was sagt die Demografie über die Ukraine aus?
Todd:
Es hat seit 2001 keine Volkszählung gegeben. Die Bevölkerung nimmt rapide ab. Welche Regionen sind betroffen, wer ist ausgewandert, wer ist geblieben? Man weiß es nicht. Heute wird das Land als angehende Demokratie verklärt. Zu Beginn des Kriegs war es ein failed state und völlig korrupt. Die Ukraine wird fremdfinanziert, sie ist kein klassischer Staat mehr. Das wenige, was ich weiß: Das Land ist fähig, Krieg zu führen. Aber ich habe keine Ahnung, wie es funktioniert. Kaum war es befreit, weigerte es sich, die Kontrolle über die russischen Gebiete abzugeben. Das ist ein bekanntes Verhalten, diesen Fall hat es zwischen den Weltkriegen mehrfach gegeben. Der Anspruch der Ukraine, zwei relativ kleine Regionen gegen deren Willen und jenen des zehnmal mächtigeren Nachbarn Russland behalten zu wollen, ist nicht vernünftig. Er ist absurd. Russland verlangte Garantien für seine Sicherheit. Und es forderte für die russischen Bevölkerungen im Donbass und auf der Krim, die wirklich russisch sind, ein Leben, das ihre kulturelle Autonomie respektiert. Dieser Krieg hätte nicht ausbrechen dürfen. Wie alle Kriege.“

Wer hat Nordstream gesprengt?

„Natürlich die Amerikaner. Aber das ist völlig unwichtig. Es ist normal“

„Die Deutschen wollten nicht in den Krieg. Scholz, der mir ein sehr vernünftiger Mensch zu sein scheint, wurde kritisiert, weil er sich nicht engagieren wollte. Krieg ist grauenhaft, scheußlich, ekelhaft, schrecklich.
Die Deutschen wissen nur zu genau, dass Nord Stream von den Amerikanern
zerstört wurde. Durch eine gemeinsame militärische Aktion der Amerikaner,
Briten und Polen. Gegen Deutschland. Aber sie können es nicht sagen. In Tat
und Wahrheit sind die Deutschen von den Amerikanern angegriffen worden.
Man wollte sie vom russischen Gas abkoppeln“

Das ist natürlich die rationalste Erklärung und sie ist sehr gut bestätigt:

Todd hält es für faszinierend, dass Gesellschaften so verwirrt sein können, dass sie etwas Anderes glauben:
„Wichtig ist die Frage: Wie kann eine Gesellschaft glauben, dass es die Russen
gewesen sein könnten? Wir haben es hier mit einer Umkehrung der
möglichen Realität zu tun. Das ist viel schlimmer. Das Studium einer solchen
Gesellschaft ist faszinierend. Darüber schreibe ich jetzt ein Buch. Es wird
mein letztes sein. Meine Tätigkeit als Autor begann mit dem Essay über den
Zusammenbruch der Sowjetunion. Ich will sie mit einem Werk der Vernunft
über den dritten Weltkrieg abschließen“

Der Westen, Europa und Deutschland sind verwirrt

„Der Westen hat die Russen völlig unterschätzt, sein intellektuelles Defizit ist erschreckend“

„Das Verhalten des Westens ist für mich ein einziges Rätsel…
Die Zeitungen erzählen uns, wie die Russen auf Gefängnisse schießen, die sie besetzt haben. Dass sie Atomkraftwerke beschießen, die sie vor Ort kontrollieren. Dass sie Pipelines in die Luft jagen, die sie selber gebaut haben“

Die Europäer schwadronieren von Frieden und der Verbreitung ihrer humanistischen Werte ohne Armee. Das geopolitische Denken ist ihnen abhandengekommen. Zwischen der offensiven Strategie der Amerikaner und der defensiven Strategie der Russen befinden sich die Europäer in einem atemberaubenden Zustand der geistigen Verwirrung. Das gilt ganz besonders für Deutschland“

„Einerseits ist das Zusammenspannen der chinesischen und deutschen Wirtschaft vernünftig. Und weil China langfristig ein Verbündeter der Russen bleiben wird, bedeutet es auch, dass Deutschland nicht vollständig im westlichen Lager aufgeht. Gleichzeitig wird diese provozierende Reise nach China durch die Anerkennung des Holodomor als Genozid kompensiert. Das ist grotesk. Im Kontext eines beginnenden dritten Weltkriegs will das deutsche Parlament darüber bestimmen, was ein Genozid ist und was nicht. Die Deutschen sind sich der Tragweite dieses Schritts nicht bewusst. Sie setzen damit den Holodomor – der, nebenbei gesagt, proportional weniger Tote forderte als die Große Hungersnot in Irland – auf eine Stufe mit der Shoah. Mit ein bisschen Boshaftigkeit könnte man die Abstimmung im Bundestag als antisemitisch bezeichnen. Dass sie Auschwitz relativiert. In diesem Krieg hat man den Eindruck, als wolle die Welt Deutschland in den Wahnsinn treiben“

„Allerdings wünschte ich mir, dass die Deutschen begreifen würden: Die Seite des Guten, auf der sie stehen möchten, ist diesmal nicht jene der Vereinigten Staaten. Das Gute bedeutet: diesen Krieg beenden. Aber als Historiker analysiere ich ihn ohne Sentimentalität“

„Die Deutschen tun so, als würden sie zum Westen gehören. Auch das ist Teil ihrer Neurose. Durch den Krieg ist die führende europäische Wirtschaftsmacht wieder zu einem verängstigten, bevormundeten Protektorat geworden. Aber ich kann die Deutschen sehr wohl verstehen. Auch mich hat dieser Krieg in eine tiefe Sinnkrise gestürzt…
Ich dachte immer, wir, die Franzosen, seien Dummköpfe. Und ich tröstete mich mit England, wo drei meiner Enkel leben. Ich habe in Cambridge studiert, es ist meine geistige Heimat. Aber heute ist England ein verwirrtes Land im Untergang. Seine Presse und seine Regierung frönen einem Kriegsdelirium, wie es nicht einmal in Deutschland zu beobachten ist.
Bei allem, was ich in den letzten Jahrzehnten geschrieben habe, auch zum
Irakkrieg: Nie habe ich die Engländer auch nur mit einem einzigen Wort
kritisiert. Jetzt bringen sie mich zur Verzweiflung“

Das ist allerdings nachvollziehbar. Seine Bewunderung für England war enorm und hat sich als übertrieben bis unbegründet herausgestellt: Die Brexit-Hoffnungen liegen in Trümmern, sind fast schon vergessen. Der Ukraine-Krieg scheint als einzige Hoffnung auf Größe übrig zu sein.

Amerikaner und Russen denken rational und brutal

Weltwoche: Der Realitätsverlust unterscheidet Europa von den Russen?
Todd:
Auch von den Amerikanern, die sehr wohl wissen, was sie tun. Ihre Vorstellung von Macht ist klar und zynisch. Zur Durchsetzung ihrer Interessen haben sie immer wieder Kriege geführt – auch angezettelt. Sie können Putin sehr wohl verstehen. Auch die Russen sprechen von Machtverhältnissen, aber ihre Sprache ist defensiv

„Was in Russland passiert, ist mir völlig klar. Ich verstehe Putins Denken und Handeln und kann es in drei Minuten erklären. Die Russen sind brutal und rational, sogar ihre Lügen sind quasi vernünftig“

Mir war sehr früh aufgefallen, dass Russen und Amerikaner bei den nackten Fakten über den Krieg übereinstimmen.

Wie geht es weiter?

Mit Weltkriegen ist es immer dasselbe: Es kommt völlig anders, als man denkt. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren alle überzeugt, dass er sehr schnell vorbei sein würde. 1940 galt die Maginot-Linie als unüberwindbar und Frankreichs Armee als stärkste der Welt. Diesmal herrschte die Vorstellung von den übermächtigen Russen. Völlig unerwarteterweise hat die ukrainische Armee dem Angriff standgehalten –dank der Unterstützung. Die Sanktionen wurden in der Überzeugung erlassen, dass sie Russland in die Knie zwingen würden. Aber seine Wirtschaft ist nicht zusammengebrochen. Kein Mensch kann das erklären. Das Bruttosozialprodukt von Russland – Belarus inbegriffen – beträgt 3,3 Prozent des gesamten Bruttosozialprodukts des Westens. Gegenüber dem Dollar hat der Rubel seit Ausbruch des Kriegs um 23 Prozent zugelegt, 36 Prozent gegenüber dem Euro. Inzwischen stellt sich nicht mehr die Frage, ob die russische Wirtschaft widerstehen kann. Sondern die europäische“

„Auf beiden Seiten kommen zusehends weniger hochentwickelte Waffen zum Einsatz, man kann nicht abschätzen, welche Seite zuerst aufgeben wird. Der Krieg macht das fundamentale Problem der Amerikaner bewusst: Es fehlt ihnen an Ingenieuren. In den USA werden 7 Prozent der Studenten zu Ingenieuren ausgebildet. In Russland sind es 25 Prozent“
Weltwoche: Bei einem vergleichbaren intellektuellen Niveau?
Todd:
„Es ist in Russland zweifellos höher. Die Amerikaner kompensieren ihr Defizit mit der Einwanderung. Die Hälfte der amerikanischen Wissenschaftler und Ingenieure kam außerhalb des Landes zur Welt. Es handelt sich vor allem um Inder und Chinesen. Man kann sich ausrechnen, was passiert, falls China die Auswanderung seiner Studenten verbietet. Die Waffenindustrie ist auf Ingenieure angewiesen. Auch eine moderne Armee besteht aus Ingenieuren. Ich habe Putins Texte gelesen. Er weiß um die Schwäche der Amerikaner und die Deindustrialisierung. Ihm ist bewusst, dass ihre Wirtschaft zum Teil auf fiktiven Werten beruht und sie ihren Wohlstand der Notenpresse verdanken. Deshalb hat er es gewagt, sie anzugreifen. Ich habe keine Ahnung, wie es sich mit dem gegenwärtigen Kräfteverhältnis verhält. Die Nato ist dabei, ihre Bestände zu verbrauchen. Russland genauso. Trotz seines lächerlich kleinen Bruttosozialprodukts ist es in der Lage, den Amerikanern zu widerstehen“

Weltwoche: Putin und die Russen sind intelligenter?
Todd:
„Ihre Strategie setzt auf die «longue durée» des amerikanischen Niedergangs. Amerika kompensiert ihn mit dem Druck auf seine alten Protektorate. Die Kontrolle über Europa – vor allem Deutschland – und Japan ist zu seiner Priorität geworden. Gegen seinen Krieg im Irak hatten Chirac, Schröder und Putin an einer gemeinsamen Pressekonferenz protestiert. Seither hat Amerika das erreicht, was man auf Deutsch die «Gleichschaltung» Europas nennt. Der Rest der Welt aber hält es mit Russland. Als es kommunistisch war, verbreitete es Angst und Schrecken. Es war atheistisch, imperialistisch. Heute steht Russland für eine konservative Weltsicht und verteidigt die Souveränität der Völker und Nationen, die alle ein Recht auf Existenz haben“

Weltwoche: Und jetzt ist es ein Weltkrieg.
Todd:
„Wenn Russland überlebt, den Donbass und die Krim behält, wenn seine Wirtschaft weiterhin funktioniert und es seine Handelsbeziehungen neu gestalten kann, mit China und Indien – dann hat Amerika den Krieg verloren. Und in der Folge wird es seine Alliierten verlieren. Deshalb werden Amerika und die Nato weitermachen. Und darum handelt es sich um einen Weltkrieg, der andauern wird. Seine hauptsächlichste Ursache ist die Krise des Westens“

„Der Westen hat seine Werte verloren und befindet sich in einer Spirale der Selbstzerstörung. Europa gerät wieder unter die amerikanische Herrschaft. Wegen seiner schwachen Demografie wird nicht China die Welt beherrschen, sondern Indien zur Supermacht aufsteigen. Russland ist im Begriff, sich als kulturell konservative, in technischer Hinsicht fortschrittliche Großmacht neu zu bestimmen. Doch obwohl es die traditionellen Werte der Familie verteidigt und die LGBT-Bewegung bekämpft, wird seine Geburtenrate nicht besser. Das bedeutet, dass es bereits in der gleichen metaphysischen Krise steckt wie der Westen“

Über die indische Stärke und Strategie habe ich im Juni 2022 einen Beitrag geschrieben, der damit voll kompatibel ist.

Eine Warnung zum Schluss

„In der Ukraine führen sie gegeneinander Krieg. Wenn er nicht gestoppt wird, werden ihn alle verlieren“

Nachtrag 15.1.2023
Am 12.1. hat auch der Figaro ein Interview mit Emmanuel Todd veröffentlicht.
Mathias Bröckers hat Auszüge auf dem Umweg über das Englische auf Deutsch gebracht.
Wer lieber die englische Zusammenfassung von Arnaud Bertrand liest, findet sie hier:

und hier.

Die Wahrheit über Klimaschutz-Politik

Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, was es bedeutet, wenn hochrangige Politiker sich treffen und über „Klimaschutz“ sprechen und sich dafür auch noch viel Geld in die Tasche stecken?

Ein wunderbares Beispiel dafür war Anfang Mai der Staatsbesuch des indischen Ministerpräsidenten Modi in Berlin bei Kanzler Scholz:

Textanalyse

Auffällig ist zunächst, dass schon im Titel ein kurzfristig eminent wichtiges Thema wie der Krieg in der Ukraine und der scheinbar langfristige Klimaschutz gleichberechtigt nebeneinander stehen. Im ganzen Artikel laufen beide Themen ständig nebeneinander her, als ob beide ganz eng zusammenhingen. Aber in Klimafragen ist man sich einig, in der Bewertung des Krieges dagegen zögernd. Nun, Scholz und Deutschland sind in der Bewertung des Krieges nicht zögernd, seit Wochen gibt es kaum ein wichtigeres Thema und es wird kräftig bewertet. Zögernd ist also Indien, und es weigert sich, Russland zu verurteilen, auch in der UN. Und das ist ein Problem:

Und es fließt (deshalb) auch kräftig Geld von Deutschland an Indien: 10 Milliarden in 10 Jahren – für die Klimaschutz-Anstrengungen Indiens.
Was sind diese Klimaschutz-Anstrengungen? Indien verbraucht pro Kopf sehr viel weniger Öl und Gas als Deutschland, seine Bevölkerung wächst schneller als die Chinas: wobei und wie soll es sich (mehr) anstrengen?
Modis primäre Herausforderung besteht darin, das oft unterschätzte Riesenland mit dem zu versorgen, was es zum Leben braucht.

Indien kauft billig russisches Öl

Weil Russland weniger Öl in Europa verkaufen kann, verkauft es mit Rabatt (auf den stärker gestiegenen Ölpreis, also immer noch mit mehr Gewinn) an Indien:

Und Indien lässt sich die Chance nicht entgehen, für seine riesige, oft energiearm lebende Bevölkerung an günstigere Energie zu kommen, die für andere Staaten kaum noch erschwinglich ist.
Im Ergebnis kauft Indien mehr Öl von Russland als vor dem Krieg, nämlich viel von dem Öl, das andere Staaten weniger kaufen:

Den Indern ist völlig bewusst, dass sie in diesem Wirtschaftskrieg sehr viel Macht besitzen: wenn sie noch mehr Öl (und Gas) kaufen würden, würden sie die Sanktionen sofort (und für alle sichtbar) zum Scheitern bringen. Dafür haben sie aber auch nicht wirklich das Geld, denn Öl ist auch mit Rabatt teurer geworden. Deshalb kaufen sie nicht ganz so viel Öl und vor allem Gas aus Russland, wie sie brauchen könnten, lassen sich diese Nettigkeit aber von Deutschland bezahlen und finanzieren damit das Öl, geben also genau das Geld letztlich an Russland weiter, das Deutschland den Russen nicht mehr direkt geben will:
Da die Regierung Neu-Delhi jedoch unter dem Druck des Westens steht, hofft sie bei Verzicht auf gesteigerte Gasimporte aus Russland auf eine – wie auch immer geartete – Gegenleistung des Westens. Indiens Diplomatie in Europa läuft vor diesem Hintergrund auf Hochtouren„, beschreibt das der indische Ex-Diplomat M. K. Bhadrakumar.

Ein wunderbares Arrangement

Der Hase läuft also so:

  • Die EU und Deutschland boykottieren (so weit sie können) die russ. Energieexporte
  • Weil Energie aber durch den Krieg insgesamt teurer geworden ist, kommt Russland finanziell trotzdem gut weg und nimmt mit Energie sogar mehr ein als zuvor. Weil es die Europäer sogar erfolgreich zwingen konnte, in Rubel zu bezahlen, steigt auch der Rubel stark an.
  • Die europäischen Verbraucher zahlen jetzt aber erheblich mehr für Öl und Gas
  • Weil Indien jede Wirkung der Sanktionen zunichte machen könnte, zahlen ihm europäische Regierungen, vor allem die deutsche, noch Geld, mit dem Indien Russland für Öl bezahlen kann.
  • Damit das deutsche Publikum nicht merkt, was da gespielt wird, nennen deutsche Medien das indische Spiel „Klimaschutz-Anstrengungen“ und behaupten, dass die eigene Regierung genau diese „Anstrengungen“ mit Geld unterstützt, und dass man sich genau darin sehr einig ist.

So ist das ein wunderbares Arrangement für viele Beteiligte, aber nicht für den deutschen Steuerzahler, der das Ganze bezahlt (und darüber zunehmend verarmt).
So ist das also mit dem Klimaschutz: ein Talking-Point, eine vermeintlich gute Sache, hinter der sich herrlich verstecken lässt, worum es wirklich geht: um Energie-Geopolitik, nicht ums Klima, das die Politik nämlich gar nicht steuern kann.

„Klimaschutz“ = Energie-Geopolitik

In einem Beitrag vor 2,5 Jahren habe ich ausführlich auseinandergesetzt, wie und warum sich die Klima-Debatte in den USA in den letzten 15 Jahren gedreht hat, obwohl die „Klimawissenschaft“ wissenschaftlich viel weniger taugt, als man vermuten würde. Hier das Fazit knapp zusammengefasst:

  • G.W. Bush hat mit dem Krieg im Irak 2003 versucht, die Ölquellen des Mittleren Ostens unter amerikanische Kontrolle zu bringen.
    In Afghanistan ging es um die Energieverteilung, z.B. mit Pipelines an einem neuralgischen Drehkreuz zwischen Russland, Indien, China und Iran:
  • als dieser Versuch mit der Niederlage im Irak absehbar gescheitert war, also gegen Ende der Amtszeit von Bush, wurden fossile Brennstoffe böse, weil sie absehbar von anderen kontrolliert wurden. Inzwischen ist die NATO auch aus Afghanistan abgezogen und hat also die Kontrolle über das Drehkreuz auch noch verloren. Iran, Russland, China und Indien können sich dort jetzt über Energielieferungen arrangieren. Der größte Störfaktor für alle vier ist Pakistan, das allein aus diesem Grund wichtiger, aber anstrengender US-Verbündeter bleibt.
  • In dem Moment, als die Niederlage im Irak absehbar war, kam Al Gore (der von G.W.Bush 2000 um seinen Wahlsieg gebracht worden war, damit die Ölkriege in Nahost überhaupt geführt werden konnten) mit Unbequeme Wahrheit (2006) wieder groß heraus
  • die Klima-Wissenschaft, die insbesondere von US-Konservativen bekämpft worden war, wurde plötzlich eine unbestreitbare Wahrheit, weil sie benötigt wird, um die sogenannte Klimaschutz-Politik, die Energie-Geopolitik der krachend gescheiterten Öl-Eroberer, dem schlecht informierten breiten Publikum moralisierend zu verkaufen.

Mainstream dackelt hinterher – bisschen spät

In einem weiteren Blogbeitrag vor gut 2 Jahren hatte ich insbesondere die für die Versorgungssicherheit fatale Politik gegen Kohlekraftwerke kritisiert: Energiezukunft statt Klimahysterie
Es war einfach klar, dass man zwar auf Kernkraftwerke oder Kohlekraftwerke verzichten kann, aber nicht auf beides gleichzeitig, ohne in eine schwere Energiekrise zu rutschen. Erst unter dem Eindruck der akuten Krise, kommen hochbezahlte Politiker und Medien zur selben Erkenntnis:

Zweifel kann es daran übrigens wenig geben: die letzten heimischen Energieträger wie Braunkohle sind in Zeiten der Energie-Geopolitik goldwert für die Versorgungssicherheit der Bevölkerung und sollten nicht komplett aufgegeben, aber sparsam ausgebeutet werden.

Indien handelt nach seinen Interessen

Noch ein Blogbeitrag von vor 2,5 Jahren hatte mich auf einen Autor und sein Buch von 2010 gebracht, das mir lange vor diesem Krieg die indische Politik verständlich und seine (sehr maßvolle, rationale) Haltung zum Krieg in der Ukraine vorhersehbar gemacht hat:

Der Autor Martin Sieff erklärt darin die indische Politik und ihre Kerninteressen:

  • Die Versorgung und Entwicklung seiner wachsenden Bevölkerung
  • Standhalten gegen den (noch) übermächtigen Nachbarn China
  • Sich nicht für fremde Interessen zum Rammbock und Kanonenfutter gegen China machen lassen (wie es der Ukraine mit Russland passiert ist)

Diese Interessen, schreibt Sieff, habe Indien immer und unabhängig von Regierungswechseln in einer stabilen Wirtschafts- und Militär-Zusammenarbeit mit Russland gesucht, auch über den Zerfall der Sowjetunion hinweg. Gerade weil Russland freundliche Beziehungen zu China unterhält und für China wichtig ist, ist es auch in der Lage, Indien zu schützen und Konflikte mit China vermeiden zu helfen. Außerdem ist Russland kein Verbündeter seines Erbfeindes Pakistan, um dessen Gunst wiederum China mit den USA konkurriert. Das erklärt auch, warum sich die Atommacht Indien mit langfristig guten Beziehungen zu Russland und einer insgesamt ruhigen Außenpolitik am sichersten fühlt und daran festhält. So seien zB G.W.Bushs Versuche, Indien als Truppensteller in den Irakkrieg hineinzuziehen, krachend gescheitert.

Das wichtigste Fazit von Sieffs Buch ist, dass die USA (und Großbritannien) Indien notorisch falsch einschätzen würden wegen der ex-kolonialen, im Grunde aber nicht unfreundlichen Beziehungen zu den Angelsachsen und weil es eine Demokratie ist wie kein anderes Riesenland der Welt. Die indische Demokratie versuche im besten Interesse ihres Landes zu entscheiden und sei dabei moderat, ausgleichend und rational unterwegs. Die letzten 3 Monate deuten stark daraufhin, dass Martin Sieff das alles sehr richtig eingeschätzt hat, die US-Außenpolitiker aber nicht.

Fazit

Die indische Politik scheint Egon Bahrs fast schon berühmtes Zitat sehr genau umzusetzen:

Man könnte Bahrs Ansicht ergänzen: „Es geht auch nicht um Klimaschutz“
Er hat im Dezember 2013, wenige Monate vor dem 1. offenen Ausbruch des Ukraine-Konflikts, als dieses Zitat in Heidelberg gefallen ist, übrigens noch mehr Richtiges gesagt:

Sehr hellsichtig, und er dürfte sich mit Helmut Schmidt einige Monate später einig gewesen sein, wo die Lunte brannte.

Nachtrag 10.06.2022
Stichwort „Klimaschutz-Anstrengungen“:
Indien will insgesamt 200 stillgelegte Kohlegruben versteigern, um sie wieder ausbeuten zu lassen. Als Pilotprojekt geht es mit 20 Gruben los. Ziel ist die Verstromung der geförderten Kohle.
Der indische Außenminister hat Europa und den USA doppelte Standards vorgeworfen:
„Europa kauft mehr Öl als Indien…
Wir schicken keine Leute los, um russisches Öl zu kaufen, sondern um das beste Öl auf dem Markt zu kaufen“

Nachtrag 26.06.2022
4 Tage nach meinem Blogbeitrag wurde gemeldet, dass Annalena Baerbock in Pakistans positiv auf Corona getestet wurde und deshalb dort festsaß:

Nicht berichtet wurde über das, worüber sie mit den Pakistanis verhandelt hat. Erklärungen über afghanische Flüchtlinge dürften eher ein Nebenthema gewesen.
Oben hatte ich geschrieben:
„Iran, Russland, China und Indien können sich dort (in Afghanistan) jetzt über Energielieferungen arrangieren. Der größte Störfaktor für alle vier ist Pakistan, das allein aus diesem Grund wichtiger, aber anstrengender US-Verbündeter bleibt
War Baerbock wohl wegen Feminismus in Pakistan oder wegen dieser wichtigen Rolle des Landes?

Nachtrag 27.6.2022
Am 2. Tag des G7-Gipfels gibt es wieder diese Paarung aus Ukraine und Klimaschutz im Gespräch mit den Gastländern Indien, Indonesien, Senegal, Südafrika und Argentinien:
Man versucht Schwellenländer mit ins Boot zu holen in Abgrenzung zu Russland, weil Teile dieser Länder keine Berührungsängste mit Russland haben“
Auch in der Hauptsendung der Tagesschau um 20:00 Uhr ist dieser Punkt mit Indien und Südafrika wieder vertieft worden:

Mit dem G7-Gipfel wäre also erwiesen, dass es sich nicht um eine Marotte der dt. Politik, sondern um eine gemeinsame G7-Geostrategie handelt:

Nachtrag 28.06.2022
Aus Elmau wurde mir ein (offensichtlich nicht ganz offizieller) Videomitschnitt eines Gesprächs zwischen Emmanuel Macron und Joe Biden ansichtig, der sehr klar bestätigt, worüber man leise zwischen den offiziellen Reden spricht: Darüber, wer wann wieviel Öl liefern kann, nicht etwa über Klimaschutz:

Klar verständlich ist vor allem Macrons Aussage, dass die Saudis keine riesigen Kapazitäten haben und in den nächsten 6 Monaten die Lieferungen nur sehr wenig steigern können. Das Video wird unverständlich und endet dann abrupt, als er Biden („Allerletzter Punkt…“) auf seine Haltung zum russischen Öl anspricht. Schade!

Nachtrag 1.9.2022
Indien hat im 2. Quartal 2022 ein Wirtschaftswachstum von 13,5% gemeldet.
Dieser Artikel („Die indische Öl-Brücke von Russland zu denen, die es sanktionieren“) schlüsselt auf, um wieviel dafür die indischen Importe von russ. Öl gewachsen sind:
„In the April to June 2022 period since shortly after the outbreak of the war in Ukraine (we exclude March as refiners had not yet had time to significantly react), Indian refiners imported an average of 583 kb/d of Russian crude. This compares to just 36 kb/d in 2021.“
Die Produkte, die aus diesem Rohöl raffiniert wurden, flossen hauptsächlich in diese Länder, die Russland sanktionieren: „Of these, the top 5 countries are South Korea, Singapore, the USA, Australia, and the Netherlands

Nachtrag 13.1.2023
Der indische Außenminister wurde im österreichischen Fernsehen von ORF-Obermacker Armin Wolf interviewt:

Das Interview im O-Ton fehlt im ORF-Artikel inzwischen, angeblich „aus rechtlichen Gründen“. Es ist zB hier noch zu finden:

Es geht ziemlich kontrovers bis turbulent zu, worüber im ORF-Artikel nichts zu lesen ist. Man ahnt also, warum es herausgenommen wurde.
Dass der Inder nicht spurt, mag für Herrn Wolf und seine Zuschauer eine Überraschung sein, die zornig macht. Die Leser meines Blogs wissen es seit 9 Monaten sine ira et studio (Tacitus): teilweise begründet der Außenminister seine Politik sogar mit genau den Beweggründen, die ich oben aus meiner Kenntnis und Lektüre vermutet und genannt habe.

Nachtrag 18.1.2023
Indien bricht alle Rekorde bei Käufen von russischem Öl. Aber wer ist der überraschende Käufer?
„Indien hat im Januar (2023) seine Käufe von russischem Rohöl nochmals gesteigert vom Rekordniveau des vergangenen Monats. Erstaunlicherweise haben sich die USA als größter Käufer von Raffinerieprodukten herausgestellt“

Der größte Fehler der Russen?

Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Die eine Seite berichtet die Fehler und die Verluste der anderen, und umgekehrt ist es auch nicht anders.

Umso bemerkenswerter ist es dann, wenn beide Seiten in einem Punkt anscheinend übereinstimmen.
So zitiert die Website des US-Verteidigungsministeriums am 4. Mai 2022 in einem Beitrag mit dem Titel ‚Führungskräfte des Verteidigungsministeriums sagen, dass sich die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte auszahlt‘ einen ukrainischen Soldaten:

„Der größte Fehler, den die Russen gemacht haben, war, dass sie uns 8 Jahre Zeit gelassen haben, um uns auf diesen Krieg vorzubereiten“

Weiter oben im Text heißt es:
„Ukrainian service members trained at the Yavoriv Combat Training Center in the Lviv region of western Ukraine right up until the Russian invasion in February“
Mitglieder der ukrainischen Dienste trainierten am Kampf-Training-Zentrum von Jarowiw in der Region Lemberg in der Westukraine bis zur russischen Invasion im Februar

Danach konnten sie dort nicht mehr trainieren, sondern zogen um auf den Truppenübungsplatz Grafenwöhr in Deutschland.

„[Ukrainian] soldiers are extremely competent and eager to learn the systems that we are providing them“
„Ukrainische Soldaten sind extrem kompetent und willig, an den Systemen zu lernen, die wir ihnen liefern“

Alle drei Sätze aus dem US-Bericht sind gar nicht sehr weit von dem entfernt, was laut ZEIT Wladimir Putin heute am 9. Mai in Moskau gesagt hat:

Im Detail heißt es dort:

„Die Ukraine habe sich aufgerüstet mit Waffen der Nato und so eine Gefahr für das Land dargestellt“

Genau betrachtet sind die Einschätzungen aus der amerikanischen Quelle und Putins Rede sogar zu 100% miteinander vereinbar, wenn man nur berücksichtigt, dass sie von der jeweils anderen Seite der Frontlinie stammen.

Nachtrag 10.05.2022
Der Text, der diesem Blogbeitrag den Titel gegeben hat, wurde seit gestern geändert:

An der roten Auslassungsmarkierung fehlt jetzt „a Ukrainian as stating to a U.S. trainer“.

Spiel um den Krieg

Prof. Christian Rieck hat einen Youtube-Kanal, auf dem er ab und zu interessante Überlegungen präsentiert, oft zu spieltheoretischen Themen, aber nicht immer.
Dieser Beitrag zum Ukraine-Konflikt (der morgen nun wohl doch nicht in einen Krieg mündet) gehört dazu:

In den Fußnoten verweist Rieck auf diesen Artikel von Bernd Lucke im Cicero, der ähnliche Überlegungen anstellt. Rieck merkt aber an, dass Lucke verschweigen würde, dass es innerhalb der NATO deutlich unterschiedliche Interessen gebe, auf die er selbst im Video relativ ausführlich eingeht. Man könnte fast sagen, dass sie den eigentlichen Mehrwert seines Videos darstellen, zu dem er vorrückt, sobald er den eigentlich trivialen Teil der Darstellung verlässt.

Im Ukraine-Beitrag schlägt er eine Brücke zu dem ebenfalls interessanten Gespräch, das er kürzlich mit Prof. Quaschning zum Thema Energiewende geführt hat:

Sowohl Quaschning als auch Rieck bringen da einige überzeugende Punkte:

  • Quaschning erläutert (aus meiner Sicht überzeugend), warum der Zug für eine Laufzeitverlängerung der existierenden Kernkraftwerke abgefahren ist.
  • Beide sind sich einig, dass Gas eine Schlüsselrolle für die Energiewende spielt. Rieck ist aber (aus meiner Sicht überzeugend) der Meinung, dass EE-Enthusiasten die Schwierigkeiten und den Zeitaufwand bei der Umsetzung unterschätzen, u.a. auch für den notwendigen Bau neuer Gaskraftwerke.

Die Abhängigkeit vom russischen Gas für die Umsetzung der Energiewende ist genau die Brücke von der Energiewende zum Ukraine-Konflikt. Und genau an der Stelle unterstellt er der US-Regierung unter Biden ein Eigeninteresse, die deutsche Energiewende zu sabotieren.
Mit meinem Blogbeitrag Energiezukunft statt Klimahysterie fühle ich mich nach 2 Jahren hervorragend bestätigt durch die extreme Verteuerung von Energie in den letzten Monaten und auch die Zuspitzung von Konflikten in der Energie-Geopolitik:
Auch wenn es erstens länger dauert, als zweitens die Peak-Experten denken, bin ich aber nach dem Buch noch überzeugter davon, dass wir uns in den nächsten Jahrzehnten auf eine spürbare Verknappung bei Öl und Gas einstellen sollten. Entsprechende Investitionen, zB eine sparsamere Öl- oder Gasheizung oder ihre Ergänzung um eine mit einer Solaranlage versorgte elektr. Wärmepumpe, könnten wirtschaftlich sein

Ein ebenfalls interessanter Beitrag Riecks hat sich vor einem Jahr mit der Frage beschäftigt, welche Absicht Twitter mit der Sperrung von Donald Trumps Twitter-Account wirklich verfolgte:

Starke Analyse zur Twitter-Sperre von Trump

Riecks These war, dass der eigentliche Adressat der Sperre nicht Trump war, sondern Biden. Dass es sich um eine Warnung der Technologiekonzerne an den neuen Präsidenten handelte, begründete er u.a. mit einer Parallele zum Film ‚Spiel mir das Lied vom Tod‘ von Sergio Leone.

Nachtrag 18.02.2022
Passend zu Riecks Analyse ein Interview im Stern:

Nachtrag 28.03.2022
Neues Video zum Embargo im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg:

Baerböcke als Gärtner

Es ist Zeit, von dem nichtendenden Trauerspiel um Annalena Baerbocks geschönten Lebenslauf und ihr schlechtes Buch zu den Sachthemen zurückzukehren.
Weil das an sich weniger lustig ist, nimmt zunächst der Kabarettist Helmut Schleich ihre grünen Ideen zur Außenpolitik in kurzweiligen 1,5 Minuten aufs Korn:


Nachtrag 12.04.2022
Nun ja, das Video wurde privatisiert, aber es gibt die öffentlich-rechtliche Version noch hier und andere Kopien:

Nachtrag 27.1.2023
Merkwürdig, alle Videokopien bei Youtube sind entweder gelöscht oder gesperrt.
Hier gibt es noch eine Kopie:

„Es geht nicht um einen Diktator“

schrieb Prof. Hans-Christof Kraus in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schon 2012, als der Syrienkrieg gerade ein Jahr im Gange war.

Heute hat Angela Merkel diesen Versuch, Assad von außen zu stürzen, für einen Fehler und für gescheitert erklärt:

Was hat das zu bedeuten?

Bietet Sie sich als Vermittlerin zwischen den Konfliktparteien an?
Mit den grün unterstrichenen Passagen schont sie jedenfalls erkennbar beide Parteien, die sich in Idlib gegenüberstehen, die türkische Regierung einerseits und die syrisch-russische Allianz andererseits, die sie sehr sachlich und fast neutral als Tatsache beschreibt. Die Türken mögen heute auch Leidtragende des Konflikts sein, aber aus russisch-syrischer Sicht hat die Türkei auch eine wesentliche Rolle dabei gespielt, islamistische Kämpfer in Syrien zu infiltrieren und zu unterstützen. Das deutet sie mit dem letzten, rot unterstrichenen Satz an: wer islamistische Kämpfer entwaffnen könnte, hat wohl auch (viel) Einfluss auf sie. Damit ist sie nahe an der russischen Sicht. Aber sie gibt zu bedenken, dass der Einfluss der Türkei vielleicht überschätzt wird.
Ganz oben im Text finden sich aber noch zwei Hämmer: dem Westen gibt sie auch eine Mitschuld. Er habe wohl damals (irgendwann um 2011 oder davor) den Plan gefasst, die syrische Regierung zu stürzen und sei damit gescheitert. Damals war sie auch schon deutsche Kanzlerin und hat sich durchaus zum Westen gerechnet. War sie dagegen oder distanziert sie sich nachträglich?

Es ging immer um Geopolitik

Jetzt aber die Rückblende auf die Sicht des Geschichtsprofessors Kraus, die heute noch genauso interessant ist wie 2012:

Die wichtigsten Passagen passen hervorragend zu Angela Merkels Kritik:

Es geht nicht vorrangig darum, der syrischen Bevölkerung zu helfen

Im Gegenteil: Sie haben auch nach 1945 immer wieder gerade dort interveniert, wo es ihnen erforderlich schien, die eigene Machtstellung konsequent zu stärken. Nicht zuletzt der Ölreichtum und die auch strategisch entscheidend wichtige Lage der Region zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Arabischen Meer haben gerade dieses Gebiet zu einem Hauptaktionsfeld amerikanischer Außenpolitik werden lassen, bis hin zum letzten Irak-Krieg

Hier war Hans-Christof Kraus sehr nahe an Daniele Gansers Sicht der Politik im Nahen Osten. Und er beschrieb auch die russischen und chinesischen Interessen an Syrien ganz sachlich:

Das Blatt hat sich gewendet

Russen und Chinesen nehmen die gegenteilige Perspektive ein. Die russische Militärbasis am Mittelmeer, im syrischen Hafen Tartus gelegen, steht ebenfalls auf dem Spiel – wie die allgemeine machtpolitische Stellung Moskaus und Pekings im nahöstlich-vorderasiatischen Raum. Der Blick auf einen möglichen militärischen Konflikt zwischen Israel und Iran macht es für die beiden größten Mächte Asiens unabdingbar, hier präsent zu sein.

Es lohnt sich, den ganzen FAZ-Artikel zu lesen. Warum sollte Angela Merkel aus Sicht dieser Beschreibung nicht vermitteln wollen?
Es steht viel auf dem Spiel – für alle Beteiligten. Und die Risiken sind groß.

Nachtrag 09.3.2020
Peter Frey kommentiert:
„Jetzt aber signalisiert ihnen (den Türken) der Wertewesten, dass vor allem sie die Konsequenzen der mit ihm betriebenen, verheerenden Politik schultern sollen“
Das zeigt die Strategie und erklärt auch sehr gut die Wut Erdogans und der türkischen Bevölkerung, die auch in diesem Tagesschau-Bericht zum Vorschein kommt:
„Immer wieder hört man von den Türken, sie fühlen sich inzwischen fremd im eigenen Land. Der innenpolitische Druck auf Erdogan hat in den letzten Monaten zugenommen, etwas gegen die vielen Flüchtlinge zu machen“. Die Flüchtlinge sind natürlich eine Folge einer Syrienpolitik, die die Türkei und westliche Länder gemeinsam verantworten.

Pipeline zur Hölle?

Im Frühsommer habe ich mich mit dem Großen Zittern von Angela Merkel beschäftigt, mit der Unglaubwürdigkeit der üblichen Erklärungen und der Frage, welche Gründe es für Existenzangst von Angela Merkel  geben könnte.

Dirk Pohlmann hat sich jetzt mit den US-Sanktionen gegen Nordstream 2 und ähnlichen früheren Projekten beschäftigt, die eine sehr gute Begründung für Angela Merkels Ängste liefern könnten. Helmut Schmidt soll bereits mit dem Erdgas-Röhren-Geschäft zu weit gegangen sein:

Pipeline to Hell

Das US Parlament hat beschlossen, Sanktionen gegen die Firmen zu verhängen, die am Bau der Pipeline Nordstream 2 beteiligt sind. Was jetzt noch fehlt, ist die Zustimmung von Präsident Trump. Wie seine Entscheidung ausfallen wird, ist klar. Washington masst sich an, darüber entscheiden zu können, von wem Deutschland seine Energie beziehen soll. Es mache sich durch die Pipeline von Russland abhängig, was die übergriffig fürsorgliche USA verhindern wolle. Dass sie nebenbei auch ein Geschäftsinteresse an dieser Entscheidung hat, schließlich will sie sicherstellen, dass die Deutschen teures Fracking-Gas aus den USA beziehen, wird in der Entscheidung nicht erwähnt.

Die USA benehmen sich erneut wie ein Schulhofschläger, der Jacke und Handy von einem Opfer einfordert. Das ist nicht neu. Neu ist: Es regt sich Widerstand in der deutschen Politik, in der Wirtschaft und in den Medien gegen diese Entscheidung. Es wird sogar über Gegenmaßnahmen nachgedacht. So etwas dürfe man sich nicht bieten lassen, heißt es. So weit, so gut. Erstaunlich ist, dass der Eindruck entsteht, es sei das erste mal, dass die USA sich so verhalten. Der Geschichts-Alzheimer der deutschen Medien setzt auch bei diesem Thema ein. Er verhindert zuverlässig eine Mustererkennung beim Publikum. Nämlich, die Realitätswahrnehmung, dass es sich bei den Beziehungen der USA zu Europa, mit Ausnahme Großbritanniens, das bald auch formal nicht mehr dazugehört, nicht etwa um Beziehungen unter Freunden handelt, sondern um eine Beziehung Herr und Diener, Hegemon und Vasallen.

Beim Öl hört die Freundschaft auf… Weiterlesen

Entstehung des deutschen Europa

Im letzten Beitrag habe ich Emmanuel Todds Skizze des „Deutschen Europa“ vorgestellt. In diesem zweiten Beitrag geht es jetzt um die Teile I+II des Interviews von 2014 mit Olivier Berruyer:

Entstehung und Antrieb des ‚Deutschen Europa‘

Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise und Russland kommt Todd auf Deutschland zu sprechen:

Emmanuel Todd: …Man registriert widersprüchliche Signale von Deutschland. Manchmal findet man es eher pazifistisch, auf einem Pfad von Rückzug und Kooperation. Manchmal erscheint es im Gegenteil sehr an der Spitze im Disput und in der Auseinandersetzung mit Russland. Diese harte Linie nimmt jeden Tag an Stärke zu. Steinmeier hat sich von Fabius und Sikorski nach Kiew begleiten lassen. Merkel besucht nun das neue ukrainische Protektorat allein (Anm. des Übersetzers: im Jahr 2014).
Aber nicht nur in dieser Auseinandersetzung ist Deutschland an der Spitze. Sechs Monate lang und auch in den letzten Wochen, als sie in den ukrainischen Ebenen schon virtuell im Konflikt mit Russland war, hat Merkel die Engländer gedemütigt, indem sie ihnen mit einer unglaublichen Grobheit Juncker als Kommissionspräsident aufgezwungen hat. Eine noch außerordentlichere Sache war es, dass die Deutschen begonnen haben, die Auseinandersetzung mit den Amerikanern zu suchen, indem sie sich einer Spionageaffäre der Amerikaner bedient haben. Das ist absolut unglaublich, wenn man die Verflechtung der amerikanischen und deutschen Spionageaktivitäten seit dem Kalten Krieg kennt. Es sieht im Übrigen heute so aus, als ob der deutsche Geheimdienst ganz normal auch die amerikanischen Politiker ausspioniert. Mit dem Risiko zu schockieren würde ich sagen, dass ich angesichts der Ambiguitäten der deutschen Politik im Osten ganz dafür bin, dass die CIA die deutschen politisch Verantwortlichen überwacht. Ich hoffe übrigens, dass die französischen Geheimdienste ihre Arbeit machen und an der Überwachung eines Deutschland teilnehmen, dass auf dem internationalen Feld immer aktiver und abenteuerlustiger wird. Es bleibt dabei, dass diese antiamerikanische Aggressivität ein neues Phänomen ist, das man sich bewusst machen muss. Ihr Stil ist faszinierend. Die Art und Weise, in der die deutschen Politiker über die Amerikaner gesprochen haben, bezeugt eine tiefe Verachtung. Es gibt einen bedeutenden antiamerikanischen Untergrund auf der anderen Seite des Rheins. Ich hatte Gelegenheit gehabt, ihn zu messen, anlässlich der Veröffentlichung meines Buches „Weltmacht USA: Ein Nachruf“ auf Deutsch. Nach meiner Meinung erklärt er (der Antiamerikanismus, Anmerkung des Übersetzers) weitgehend den außerordentlichen Bucherfolg dieser Übersetzung. Wir sehen schon einen Moment, in dem die deutsche Regierung sich lustig macht über amerikanische Ermahnungen in der Wirtschaftspolitik: einen Beitrag leisten zur globalen Nachfrage? Und was sonst noch? Deutschland hat sein Projekt, eher von Macht als von eigenem Wohlergehen: die Nachfrage in Deutschland drücken, die verschuldeten Staaten des Südens versklaven, die Osteuropäer dazu bringen, dass sie sich an die Arbeit machen, den französischen Banken, die den Elysée-Palast (also den französischen Präsidenten, Anmerkung des Übersetzers) kontrollieren, einige Peanuts spendieren, etc.

In einer ersten Zeit, im Moment der Eroberung der Krim, war ich eher sensibel gewesen für die Wiederherstellung Russlands: eine Macht, die sich nicht mehr auf die Füße steigen lassen will und die in der Lage ist, Entscheidungen zu fällen. Aktuell stelle ich fest, dass Russland fundamental eine Nation in der Stabilisierung ist, und nur in der Stabilisierung, selbst wenn die Leute aus ihr einen bösen großen Wolf machen. Die wahre sich zeigende Macht, noch vor Russland, ist Deutschland. Es hat einen außergewöhnlichen Weg hinter sich, von seinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zur Zeit der Wiedervereinigung zu seiner wirtschaftlichen Wiederherstellung, dann zur Übernahme der Kontrolle über den Kontinent in den letzten fünf Jahren. Alles das ist es wert, dass man es neu interpretiert. Die Finanzkrise hat nicht einfach nur die Solidität Deutschlands gezeigt. Es hat auch seine Fähigkeit gezeigt, die Schuldenkrise zu nutzen, um die Gesamtheit des Kontinents zum Gehorsam zu zwingen. Wenn man sich von der archaischen Rhetorik des Kalten Krieges befreit, wenn man aufhört, die ideologische Rassel der liberalen Demokratie und ihrer Werte zu schütteln, und wenn man es lässt, dem pro-europäischen Blabla zuzuhören, um die historische Sequenz zu beobachten, die in roher und beinahe kindlicher Weise im Gang ist, kurz, wenn man bereit ist zu sehen, dass der König nackt ist, stellt man fest:

1.) In den letzten fünf Jahren hat Deutschland auf dem wirtschaftlichen und politischen Feld die Kontrolle über Europa übernommen.
2.) Europa ist am Ende dieser fünf Jahre virtuell bereits im Krieg mit Russland

Frankreich und die USA leugnen die deutsche Realität

Dieses Phänomen wird durch eine doppelte Leugnung vernebelt. Zwei Länder handeln wie Riegel, damit man die Realität dessen, was geschieht, nicht versteht.
Zunächst Frankreich, das noch immer nicht zugeben will, dass es sich in den Zustand einer freiwilligen Knechtschaft gegenüber Deutschland begeben hat. Es kann nicht anders handeln, solange es nicht unumwunden diesen Machtanstieg Deutschlands zugibt und die Tatsache, dass es nicht auf dem Niveau ist, um es (Deutschland) zu kontrollieren. Wenn es eine geopolitische Lektion des Zweiten Weltkriegs gibt, dann ist das sehr wohl die, dass Frankreich Deutschland nicht kontrollieren kann, dessen immense Qualitäten in der Organisation und wirtschaftlichen Disziplin wir anerkennen müssen – ebenso wie das nicht minder immense Potenzial zur politischen Irrationalität. Die französische Verweigerung der deutschen Realität ist eine Offensichtlichkeit. Schon eine ganze Weile spreche ich von François Hollande als dem „Vize-Kanzler Hollande“. Beziehungsweise sogar jetzt eher von einem einfachen „Kommunikationsdirektor des Kanzleramts“. Er ist nichts, er hat außergewöhnliche Niveaus der Unpopularität erreicht, die zu einem Teil von seiner Servilität gegenüber Deutschland kommen. François Hollande wird auch von den Franzosen verachtet, weil er ein Mann ist, der Deutschland gehorcht. Umfassender betrachtet nehmen die französischen Eliten, journalistische ebenso wie politische, an diesem Prozess der Leugnung teil.

Die Akteure sind inkompetent und sich sehr wenig bewusst, was sie tun

Olivier Berruyer: Sie sagen, dass „Frankreich letztendlich Deutschland nicht kontrollieren kann“: kann man nichts tun oder muss es jemand anders tun?

Emmanuel Todd: Jemand anders muss es tun. Das letzte Mal ist diese Aufgabe Amerikanern und Russen zugefallen. Man muss zugeben, dass das „System Deutschland“ eine außergewöhnliche Kraft entfalten kann. Als Historiker und Anthropologe könnte ich Dasselbe über Japan, über Schweden oder die jüdische, baskische oder katalanische Kultur sagen. Das ist eine Tatsache: gewisse Kulturen sind so. Frankreich hat andere Qualitäten. Es hat die Ideen von der Gleichheit und der Freiheit hervorgebracht, eine Lebensart, die den Planeten fasziniert, und es macht von nun an mehr Kinder als seine Nachbarn und bleibt dabei ein fortschrittliches Land auf dem intellektuellen und technologischen Feld. Es ist wahrscheinlich, dass man am Ende, wenn man wirklich urteilen müsste, zugeben müsste, dass Frankreich eine ausgeglichenere und befriedigendere Vision von der Welt hat. Aber es geht hier nicht um Metaphysik oder Moral: wir sprechen von internationalen Kräfteverhältnissen. Wenn ein Land sich auf die Industrie oder den Krieg spezialisiert, muss man das berücksichtigen und zusehen, wie diese wirtschaftliche, technologische und Macht-Spezialisierung kontrollierbar wird.

Olivier Berruyer: Welches ist das zweite Land in der Verleugnung?

Emmanuel Todd: Die USA. Die amerikanische Verleugnung war im ersten Stadium der Emanzipation Deutschlands zur Zeit des Irakkriegs im Jahr 2003 und des Bündnisses Schröder-Chirac-Putin formalisiert worden. Gewisse amerikanische Strategen hatten damals gesagt: „Man muss Frankreich bestrafen, Deutschland (also, was es gemacht hat) vergessen und Russland verzeihen“ (“Punish France, forget Germany, forgive Russia“). Warum? Weil der Schlüssel zur Kontrolle Europas durch die USA, das Erbe des Sieges von 1945, die Kontrolle Deutschlands ist. Die Emanzipation Deutschlands von 2003 schriftlich niederzulegen, hätte bedeutet, den Beginn der Auflösung des amerikanischen Imperiums schriftlich niederzulegen. Diese Vogel-Strauß-Strategie hat sich begründet, verfestigt und scheint heute den Amerikanern eine korrekte Sicht auf die deutsche Entpuppung zu verbieten, eine neue Bedrohung für sie, nach meiner Meinung auf Dauer sehr viel gefährlicher für die Integrität des Imperiums als Russland, das außerhalb des Imperiums liegt. Deutschland spielt eine komplizierte, ambivalente Rolle, treibt aber die Krise an. Häufig erscheint die deutsche Nation als pazifistisch und Europa, das unter deutsche Kontrolle steht, als aggressiv. Oder umgekehrt. Deutschland hat von nun an zwei Hüte auf: Europa ist Deutschland, und Deutschland ist Europa. Es kann also mit mehreren Stimmen sprechen. Wenn man die psychische Instabilität kennt, die historisch die deutsche Außenpolitik charakterisiert, und seine Bipolarität im psychiatrischen Sinn in seiner Beziehung zu Russland, ist das ziemlich beunruhigend. Ich bin mir bewusst, dass ich hart spreche, aber Europa befindet sich (Anmerkung des Übersetzers: das Interview fand im Sommer 2014 statt) am Rande des Krieges mit Russland und wir haben nicht mehr die Zeit, höflich und glatt zu sein. Bevölkerungen russischer Sprache, Kultur und Identität werden in der Ostukraine angegriffen mit Billigung, Unterstützung und wahrscheinlich schon mit Waffen aus der EU. Ich denke, dass die Russen wissen, dass sie in der Tat im Krieg mit Deutschland sind. Ihr Schweigen über diesen Punkt ist nicht wie in den französischen und amerikanischen Fällen eine Weigerung, die Realität zu sehen. Es ist gute Diplomatie. Sie brauchen Zeit. Ihre Selbstkontrolle, ihre Professionalität, wie Putin oder Lavrov sagen würden, ringen Bewunderung ab.

Bisher war es die Strategie der Amerikaner in dieser Krise, hinter den Deutschen her zu laufen, damit man nicht sieht, dass sie die europäische Situation nicht mehr kontrollieren. Dieses Amerika, das nicht mehr kontrolliert, aber die regionalen Abenteuer der Vasallen genehmigen muss, ist ein Problem geworden, das geopolitische Problem Nr. 1. Im Irak muss Amerika schon mit dem Iran kooperieren, seinem strategischen Gegner, um sich den Jihadisten entgegenzustellen, die von Saudi-Arabien subventioniert werden. Saudi-Arabien hat wie Deutschland den Status eines wichtigen Alliierten, sein Verrat darf deshalb nicht schriftlich festgehalten werden… In Asien beginnen die Südkoreaner aus Ressentiment gegen die Japaner, mit den Chinesen krumme Geschäfte zu machen, den strategischen Rivalen der Amerikaner. Überall, und nicht nur Europa, bekommt das amerikanische System Risse, löst sich auf oder Schlimmeres.

Die deutsche Macht und Hegemonie in Europa verdienen also eine Analyse, in einer dynamischen Perspektive. Man muss explorieren, hochrechnen, voraussehen, um sich in der Welt zu orientieren, die in Entstehung begriffen ist. Man muss akzeptieren, diese Welt so zu sehen, wie sie die realistische strategische Schule sieht, diejenige von Henry Kissinger zum Beispiel, das heißt, ohne sich die Frage der politischen Werte zu stellen: diejenige von reinen Kräfteverhältnissen zwischen nationalen Systemen. Wenn man so nachdenkt, stellt man fest, dass Russland nicht das Problem der Zukunft ist, dass China noch nicht viel darstellt, was die militärische Macht angeht. In unserer globalisierten wirtschaftlichen Welt, können wir die Entstehung einer neuen Frontstellung zwischen zwei großen Systemen vorausahnen: der amerikanischen Kontinent-Nation und diesem neuen deutschen Reich, einem ökonomisch-politischen Reich, das die Leute aus Gewohnheit weiterhin Europa nennen. Es ist interessant, das Kräfteverhältnis zwischen den beiden zu bestimmen.

Wir wissen nicht, wie die Ukraine-Krise enden wird. Wir müssen aber die Anstrengung unternehmen, uns hinter diese Krise zu versetzen. Das Interessanteste ist zu versuchen, sich vorzustellen, was ein Sieg des „Westens“ hervorbringen würde. Und wir gelangen so zu etwas Erstaunlichem: wenn Russland in die Knie gehen oder nur nachgeben würde, würde das Ungleichgewicht der demografischen und industriellen Kräfte zwischen dem deutschen System, erweitert um die Ukraine, und den USA wahrscheinlich zu einem Umschlagen des Schwerpunkts des Westens und zum Zusammenbruch des amerikanischen Systems führen. Was die Amerikaner heute am meisten fürchten müssten, ist der Zusammenbruch Russlands. Aber eine der Charakteristiken der Situation ist, dass die Akteure inkompetent sind und sich dessen sehr wenig bewusst, was sie tun. Ich spreche nicht nur von Obama, der von Europa nichts versteht. Er ist in Hawai geboren, hat in Indonesien gelebt. Nur die pazifische Zone existiert für ihn.
Aber die klassischen amerikanischen Geopolitiker der „europäischen“ Tradition sind ebenfalls überholt. Ich denke besonders an Zbigniew Brzezinski, der jetzt alt ist, aber der Theoretiker der Kontrolle Eurasiens durch die USA bleibt. Besessen von Russland hat er Deutschland nicht kommen sehen. Er hat nicht gesehen, dass die amerikanische Militärmacht durch die Erweiterung der NATO auf die baltischen Staaten, auf Polen und auf die früheren Volksdemokratien für Deutschland ein Reich schneiderte, ein ökonomisches zu Anfang, aber heute schon ein politisches. Deutschland beginnt, sich mit China zu verstehen, dem anderen großen Exporteur der Welt. Erinnert man sich in Washington, dass das Deutschland der 30er Jahre lange gezögert hat zwischen der chinesischen und der japanischen Allianz und dass Hitler damit begonnen hatte, Tschiangkaischeck zu bewaffnen und seine Armee aufzubauen? Die Erweiterung der NATO nach Osten könnte letztendlich eine Version B des Alptraums von Brzezinski realisieren: eine Wiedervereinigung Eurasiens unabhängig von den USA. Seinen polnischen Ursprüngen treu fürchtete er ein Eurasien unter russischer Kontrolle. Er läuft in das Risiko, in die Geschichte einzugehen als „einer dieser absurden Polen, die aus Hass gegen Russland die Größe Deutschlands gewährleistet haben“.

Olivier Berruyer: Wie Sie mich gebeten haben, schlage ich vor, dass Sie die nachfolgenden Grafiken analysieren, die das um Deutschland zentrierte Europa mit den USA vergleichen:

Bevölkerung

BIP

IndustrielleWertschöpfung(eine 4., weniger wichtige Grafik weggelassen)

Emmanuel Todd: Was diese Grafiken zeigen, ist die potenzielle industrielle Überlegenheit Europas. Gewiss ist das deutsche Europa heterogen und intrinsisch zerbrechlich, potenziell instabil, aber der wirkende Mechanismus der Hierarchisierung der Bevölkerungen beginnt, eine kohärente und manchmal effiziente Struktur von Dominanz zu definieren. Die junge deutsche Macht hat sich dadurch gebildet, dass ehemals kommunistische Bevölkerungen kapitalistisch an die Arbeit gebracht wurden. Das ist vielleicht eine Sache, derer sich die Deutschen wahrscheinlich selbst nicht bewusst genug sind, und gerade dort könnte ihre wahre Zerbrechlichkeit sein: die Dynamik der deutschen Wirtschaft ist nicht nur deutsch. Ein Teil des Erfolgs unserer Nachbarn von der anderen Rheinseite stammt daher, dass die Kommunisten sich sehr für Bildung interessiert haben. Sie haben nicht nur überholte Industriesysteme zurückgelassen, sondern auch überdurchschnittlich gebildete Bevölkerungen.
Die Bildungssituation Polens in Europa vor dem Krieg mit der von heute zu vergleichen, die sehr viel  besser ist, bedeutet zuzugeben, dass es einen Teil seines aktuell guten wirtschaftlichen Zustands dem Kommunismus, schlimmer vielleicht, Russland verdankt. Wir werden sehen, in welchem Zustand das deutsche Management Polen hinterlassen wird. Es bleibt, dass sich Deutschland in der Tat an die Stelle Russlands gesetzt hat als Macht, die den europäischen Osten kontrolliert und daraus eine Kraft gemacht hat. Russland seinerseits war geschwächt worden durch seine Kontrolle der Volksdemokratien, indem die Militärkosten nicht durch den ökonomischen Gewinn kompensiert wurden. Dank der USA sind die Kosten der militärischen Kontrolle für Deutschland nahe bei Null.

Teil III enthielt den letzten Beitrag zum „Deutschen Europa“

Danach der Teil IV:

Das industrielle Ungleichgewicht zugunsten der EU im Vergleich mit den USA ist spektakulär

Olivier Berruyer: Die Grafiken erlauben, die relativen Stärken der amerikanischen Nation und dieses neuen deutschen Reiches zu vergleichen:

(erste Grafik ausgelassen, kann im Original eingesehen werden)
BeschäftigungIndustrie

BeschäftigungIndustrie2

Emmanuel Todd: die interessanteste Grafik ist nach meinem Verständnis diejenige, die die in der Industrie tätigen Bevölkerungen darstellt. Das industrielle Ungleichgewicht zugunsten der EU im Vergleich mit den USA ist spektakulär. Die Tatsache, dass es in Europa noch unterentwickelte industrielle Sektoren gibt, ist nicht negativ, im Gegenteil: im industriellen Bereich in Europa gibt es Erweiterungskapazitäten in Zonen mit niedrigen Gehältern. Es ist wahrscheinlich dieses Ungleichgewicht, das das Töten des amerikanischen Industriesystems durch Deutschland erlauben würde. Im aktuellen Stadium ist es Deutschland, das TTIP am meisten will.

Olivier Berruyer: Man stellt klar einen europäischen Absturz beim realen BIP bezogen auf Deutschland fest:

(Grafiken mit absolutem BIP pro Kopf habe ich weggelassen)

BIPpE1

BIPpE2

BIPpE3BIPpE4

Emmanuel Todd: Man sieht auf diesen Grafiken auch die unerbittliche Hierarchisierung Europas um das deutsche Epizentrum ab 2005: das Abfallen der europäischen Länder im Vergleich mit Deutschland, eingeschlossen die großen Länder wie Frankreich oder das Vereinigte Königreich. Man kann auf allen diesen Kurven die Schnelligkeit einer Entwicklung sehen, die gerade erst begonnen hat. Vielleicht leidet ein Teil des deutschen Volkes an seinen geringen Gehältern, aber global betrachtet endet es immer damit, dass das BIP pro Kopf sich zugunsten Deutschlands absetzt. Wir bewegen uns auf ein System zu, in dem die Deutschen davon profitieren werden, dass die Industriesysteme des Rests des Kontinents in die Knie gehen.

Wir stellen ebenfalls fest, dass die USA im Vergleich mit diesem Kontinent unter deutscher Kontrolle nicht mithalten können, was die Bevölkerung betrifft.

Kommentare:

  • Dieser Beitrag hat sich im Original auch viel Kritik von Lesern zugezogen. Exemplarisch für Kritik, die ich bedenkenswert finde, sei hier der von vielen Lesern empfohlene Kommentar von ‚Kellhus‘ wiedergegeben:
    „Todd sagt interessante Dinge, besonders zur Wirtschaft (Kritik des Euro), aber täuscht sich schwer über andere (wir erinnern uns an das, was er über den ‚revolutionären Hollandismus‘ gesagt hat). Hier wiederum habe ich den Eindruck, dass er sich täuscht, indem er Deutschland ins Visier nimmt und indirekt die Rolle der USA kleinredet. Welches ist der Staat, der am meisten verantwortlich ist für das aktuelle finanzialisierte Wirtschaftssystem, das von Krise zu Krise eilt und uns in die Katastrophe führt? Derjenige des rheinischen Industrie- und Familienkapitalismus oder derjenige der Wall Street? Welches ist der Staat, dessen Handeln in der Ukraine das schädlichste war? Derjenige von Merkel, die, selbst wenn sie nicht enorm viel zur Beruhigung der Dinge beigetragen hat, sich mehr folgend als führend gezeigt hat und in einem relativen Pragmatismus bleibt? Oder doch jener von Nuland und anderen neokonservativen Extremisten, bekennende Anhänger des amerikanischen Exzeptionalismus und des Schlimmsten fähig, um ihre Hegemonie zu konsolidieren?
    Gewiss befindet sich Deutschland heute auf dem wirtschaftlichen Feld in einer Position der Stärke in Europa und es nutzt sie, um Gewicht für sein Eigeninteresse auszuüben in den europäischen Orientierungen. Aber das Europa des Euro ist ein immer zerbrechlicherer Verbund, und Deutschland kann in seinen Forderungen nicht allzu weit gehen. Man sieht auch bereits die Grenzen seines wirtschaftlichen Erfolgs (..). Schließlich verfügt Deutschland weder über die militärische Macht, noch über die Soft Power, die aus ihm einen Rivalen der USA machen würde (ganz zu schweigen von einer imperialen Ideologie, die es mit dem US-Exzeptionalismus aufnehmen könnte). Es ist deshalb nach meiner Meinung ein Missbrauch, von einem ‚Deutschen Reich‘ zu sprechen.“
  • Trotz dieser berechtigten Kritik an Todds Übertreibung bleibt ein wahrer Kern an seiner Beobachtung, dass sich Deutschland ein wirtschaftliches und politisches Imperium gebaut hat, das nicht für alle Völker Europas positiv wirkt. Es macht deshalb Sinn, sich auch mit diesem Konstrukt zu beschäftigen, seinen Absichten und seiner Mechanik, insbesondere auch mit seiner brutalen und anti-demokratischen Mechanik, die sehr wohl registriert wird.
  • Die Grafiken über die seit 2003 oder 2007 stark abfallende Wirtschaftsleistung der meisten europäischen Volkswirtschaften im Vergleich mit Deutschland sind absolut schockierend, gerade auch dann, wenn man die großen Länder UK, Italien und Frankreich betrachtet. Das kann nicht gutgehen.
  • Es gibt aber auch Punkte, in denen ich eine ganz andere Wahrnehmung habe als Todd: Juncker war nicht Merkels Mann für Brüssel. Falls doch, hat sie es gut verborgen. In deutschen Medien habe ich das so gelesen, dass sie Juncker nach langem Zögern notgedrungen akzeptiert hat. Auch in der Spionage-Affäre war die deutsche Binnensicht so, dass Merkel abgewiegelt und die Amerikaner gedeckt habe.
  • Die Frage „Deutsches Europa“ oder „Europäisches Deutschland“ wurde auch hierzulande ab 2009/2010 intensiv diskutiert. Zahlreiche Bekenntnisse der Art „kein deutsches Europa“ helfen aber nicht gegen die Realität der Machtverhältnisse in Europa. Es gibt andere Autoren, die diese Realität klar sehen.

Fortsetzung: ein deutsch-amerikanischer Konflikt?

Nachtrag 4.4.2017:
German Foreign Policy: „Vor dem Hintergrund drastischer Warnungen vor einem möglichen Zerfall der EU bemüht sich Berlin, die Bildung von Gegenmacht in der Union zu verhindern.“ Gegenmacht! In dem Artikel wird praktisch alles bestätigt, was Emmanuel Todd über die Funktionsweise des „Deutschen Europa“ behauptet.

Nachtrag 28.7.2017:
Thomas Fazi erläutert in Makroskop, warum er das „Deutsche Europa“ für planmäßig konstruiert hält: Deutschlands „neues Imperium“

Das deutsche Europa

Dieses Interview mit Emmanuel Todd wurde für den Blog Les-Crises.fr von Olivier Berruyer im August 2014 durchgeführt, am 8. September 2014 veröffentlicht und ebendort am 7. Februar 2017 nochmals als PDF veröffentlicht, weil es sich im Jahr 2016 als außerordentlich hellsichtig herausgestellt hat.
Ich beginne gleich mit dem Teil III des Originaldokuments:

Deutschland hat den Kontinent im Griff

Karte

Olivier Berruyer: Diese Karte zeigt das neue deutsche Reich so, wie es nach Ihrer Meinung ist. Man sieht die zentrale Stellung Deutschlands angesichts verschiedener Satelliten oder jener, wie Sie es sehr gut sagen, im Zustand freiwilliger Knechtschaft. Was drückt diese Karte für Sie aus?

Emmanuel Todd: Ich hätte gerne, dass sie hilft, die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, dass Europa seine Natur verändert hat, und dass sie nicht nur die Gegenwart ausdrückt, sondern auch eine mögliche nahe Zukunft… Das hier ist ein erster Versuch einer visuellen Darstellung der neuen Realität Europas. Sie hilft, den zentralen Charakter Deutschlands zur Kenntnis zu nehmen und die Art und Weise, wie es den Kontinent im Griff hält.
Die erste Sache, die diese Karte zu sagen versucht, ist, dass eine informelle Zone existiert, die größer ist als Deutschland selbst, die „direkte deutsche Zone“, die Länder enthält, deren Volkswirtschaften eine quasi-absolute Abhängigkeit von Deutschland haben.

Olivier Berruyer: Eine Zone von ca. 130 Millionen Einwohnern

Emmanuel Todd: In der Tat. Aber diese Zone ist nicht der einzige Grund für den deutschen Einfluss. Ich glaube, dass Deutschland niemals in der Lage gewesen wäre, die Kontrolle über den Kontinent zu erlangen, ohne die Kooperation Frankreichs. Das ist ein anderes Element, das durch diese Karte dargestellt wird: die freiwillige Knechtschaft Frankreichs und seines wirtschaftlichen Systems und in diesem Rahmen die Akzeptanz durch die französischen Eliten des goldenen Euro-Käfigs, der er vielleicht für sie ist, aber nicht für das französische Volk. Die französischen Banken überleben mehr schlecht als recht in diesem goldenen Käfig. Frankreich fügt seine 65 Millionen Einwohner der direkten deutschen Zone hinzu und verschafft ihm eine Art von kritischer Masse auf der kontinentalen Skala.

Olivier Berruyer: Nahe bei 200 Millionen

Emmanuel Todd: Was bedeutet, dass wir schon oberhalb der russischen oder japanischen Größenordnung sind. Dieser schwarze und graue Block stellt das Herz der deutschen Macht dar; er hält Südeuropa in der Unterwerfung, das eine dominierte Zone im Inneren des europäischen Systems selbst geworden ist. Deutschland wird in Italien für seine eiserne Hand in Budgetfragen verabscheut, in Griechenland und wahrscheinlich in ganz Südeuropa. Aber diese Länder können dagegen nichts machen, weil Deutschland mit seinem Nahbereich plus Frankreich die Kapazität hat, alles zu dominieren. Diese Länder sind auf der Karte in orange dargestellt (Anmerkung des Übersetzers: ich sehe da eher gelb).
Ich schlage eine weitere spezifische Kategorie von Ländern vor, in Rot diejenigen, die ich die „russophoben Satelliten“ genannt habe. Paradoxerweise haben diese Länder ein gewisses Maß von Freiheit. Sie sind im deutschen Souveränitätsraum, aber ich qualifiziere ihren Status nicht als Knechtschaft, weil sie reale autonome Bestrebungen haben und besonders eine antirussische Leidenschaft. Beachten Sie: Frankreich hat keinen Traum mehr unter der Führung der Sozialistischen Partei, der UMP und seiner Finanzinspektoren. Es strebt nur noch danach zu gehorchen, nachzuahmen und seine Jetons fürs Dabeisein einzustecken. Polen, Schweden und die baltischen Staaten ihrerseits haben einen Traum: Russland das Fell über die Ohren zu ziehen. Ihre freiwillige Teilnahme am Raum unter deutscher Dominanz erlaubt ihnen, daran zu glauben. Aber ich frage mich, ob tiefer drinnen das wieder nach rechts gerückte Schweden nicht dabei ist, wieder vollständig das zu werden, was es vor 1914 war, d.h. germanophil.
Die russophoben Satelliten verdienen eine besondere Kategorie, weil sie zu den Kräften gehören, die Deutschland helfen können zu verkommen. Die französischen Eliten haben ihrerseits schon daran mitgewirkt, dass Deutschland verkommen ist, indem sie es vergöttert und sich geweigert haben, es zu kritisieren. Die französische Unterwerfung wird künftigen Historikern als fundamentaler Beitrag zur kommenden psychischen Schräglage Deutschlands erscheinen. Mit Schweden oder Polen oder den Balten ist es wieder etwas anderes. Hier geht es frei und direkt darum, Deutschland wieder in die Gewalttätigkeit der internationalen Beziehungen hinein zu ziehen.
Ich habe Finnland und Dänemark nicht in dieser Kategorie platziert. Im Gegensatz zu Schweden ist Dänemark von authentisch liberalem Temperament. Seine Bindung an England geht über die einfache Zweisprachigkeit eines guten Teils der Bevölkerung hinaus, die typisch skandinavisch ist. Es schaut nach Westen und ist nicht von Russland besessen. Finnland hat seinerseits gelernt, mit den Sowjets zu leben, und hat keinen wirklichen Grund, an der Möglichkeit zu zweifeln, dass es sich mit den Russen versteht. Gewiss war es gegen sie im Krieg. Es hat zwischen 1809 und 1917 zum Zarenreich gehört, aber in der Form eines Großherzogtums, eine Situation, die es ihm erlaubt hat, dem schwedischen Einfluss zu entkommen. Die wirkliche Kolonialmacht ist für die Finnen Schweden und ich zweifle daran, dass sie wirklich Lust haben, wieder unter schwedische Führung zu geraten. Auf der Karte sind Finnland und Dänemark deshalb dominiert wie die Länder des Südens. Absurd? Die finnische Wirtschaft bezahlt bereits den Preis für die europäische Aggression gegen Russland. Und Dänemark wird durch die englische Flucht in Schwierigkeiten geraten.
Das Vereinigte Königreich habe ich als „dabei zu entweichen“ beschrieben, weil die Engländer nicht in einem kontinentalen System bleiben können, das ein Horror für sie ist. Weil sie nicht die Gewohnheit wie gewisse Franzosen haben, den Deutschen zu gehorchen. Aber auch deshalb, weil sie zu einer anderen Welt gehören, viel aufregender, weniger alt und autoritär als das deutsche Europa, die „Anglosphäre“: Die USA, Kanada, die ehemaligen Kolonien… Ich habe Gelegenheit gehabt zu sagen, dass ich mit ihrem Dilemma sympathisiere, wie furchtbar es sein muss, britisch zu sein angesichts eines Europas, das so wichtig ist in den Handelsbeziehungen, aber geistig arthritisch.

Olivier Berruyer: Glauben Sie, dass sie eines Tages die EU verlassen werden?
(Erinnerung des Übersetzers: das Interview wurde im August 2014 geführt)

Emmanuel Todd: Die Engländer sind nicht stärker oder besser, aber sie haben natürlich die USA hinter sich. Schon ich, ein kleiner Franzose, der mit dem Verschwinden der Autonomie seiner Nation konfrontiert ist, würde ohne Zögern die amerikanische Hegemonie wählen, wenn ich die Wahl hätte zwischen der deutschen und der amerikanischen Hegemonie. Also was, glauben Sie, werden die Engländer wählen?
Ich habe Ungarn in seinem Bestreben zu entkommen zu den Briten geschlagen. Viktor Orban hat sich in Europa einen schlechten Ruf erarbeitet. Angeblich, weil er autoritär und hart rechts ist. Vielleicht.
Aber vor allem, weil er dem deutschen Druck widersteht. Man kann sich fragen, warum Ungarn nicht antirussisch ist, obwohl es doch 1956 eine gewalttätige russische Repression erlitten hat. Wie so oft muss das „obwohl“ hier wahrscheinlich durch ein „weil“ ersetzt werden. 1956 hat nur Ungarn etwas unternommen. Mehr als die Polen oder die Tschechen, die sich damals wenig oder gar nicht gerührt haben, kann Ungarn stolz sein auf seine Geschichte unter russischer Dominanz. Es kann verzeihen. Ein guter ungarischer Witz der 1970er Jahre kann helfen, die osteuropäischen Unterschiede zu verstehen: „1956 haben sich die Ungarn wie Polen verhalten, die Polen wie Tschechen und die Tschechen wie Schweine“.
Ich habe die Ukraine als „wird annektiert“ dargestellt. Die Ukraine erscheint nicht gerade wie ein Traum-Anschlusskandidat für die Europäer. Es geht um die Annexion einer Zone in staatlicher und industrieller Auflösung, die durch die Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union beschleunigt werden wird. Aber es geht auch um die Annexion einer aktiven Bevölkerung zu sehr niedrigen Kosten. Nun beruht aber das neue deutsche System auf der Annexion von aktiven Bevölkerungen. In einer ersten Zeit hat man diejenigen von Polen, Tschechien, Ungarn etc. genutzt. Die Deutschen haben ihr industrielles System neu organisiert, indem sie ihre Arbeit zu geringen Kosten einsetzten. Die aktive Bevölkerung einer Ukraine von 45 Millionen Einwohnern, mit seinem guten Ausbildungsniveau, das es von der sowjetischen Epoche geerbt hat, wäre ein  außergewöhnlicher Fang für Deutschland, die Möglichkeit eines dominanten Deutschland für sehr lange, und vor allem würde es mit seinem Reich sofort an wirtschaftlicher Potenz oberhalb der USA herauskommen. Armer Brzezinski!

Olivier Berruyer: Und bei dem, was  bei der Energieversorgung auf dem Spiel steht (siehe Karte)

KartePipelines

Emmanuel Todd: Hier sind die wichtigsten Gas-Pipelines (franz.: gazoducs) angegeben, um einen Mythos umzuwerfen. Den Mythos, dass die Russen durch den Bau der Pipeline South Stream nur der Kontrolle ihrer Energiebeziehungen durch die Ukraine entkommen wollen. Wenn man alle Verläufe der existierenden Pipelines betrachtet, ist nicht ihre einzige Gemeinsamkeit die Durchquerung der Ukraine, sondern auch, dass sie alle in Deutschland ankommen. Tatsächlich ist das wirkliche Problem der Russen nicht nur die Ukraine, sondern auch die Kontrolle der Ankünfte der Pipelines durch Deutschland. Und das ist auch das Problem der Südeuropäer.
Wenn man aufhört, Europa in naiver Weise als ein egalitäres System zu denken, das Probleme mit dem russischen Bären habe, sieht man auch, dass Deutschland auch ein Interesse daran haben könnte, dass die Pipeline South Stream nicht gebaut wird, weil sie dafür sorgen würde, dass die Energieversorgung desjenigen Teils Europas seiner Kontrolle entgleiten würde, den es dominiert. Strategisch steht mit South Stream also nicht nur etwas zwischen Ost und West, zwischen der Ukraine und Russland, auf dem Spiel, sondern auch zwischen Deutschland und dem dominierten Südeuropa.

Aber nochmals: diese Karte ist keine definitive Karte; es ist eine Karte mit dem Ziel, ein Anfangsbild zu zeichnen von der Realität in Europa und uns herauszuholen aus der Ideologie der neutralen Karten, die verbergen, was Europa gerade wird: ein System von ungleichwertigen Nationen, die in eine Hierarchie gezogen werden, in der es ernsthaft dominierte Länder gibt, aggressive Länder, ein dominantes Land sowie ein Land, das die Schande des Kontinents ist, das unsere, Frankreich.

Olivier Berruyer: Sie sagen nichts zur türkischen Frage….

Emmanuel Todd: Wenn ich davon nicht gesprochen habe, dann deshalb, weil das keine Frage mehr ist. Die Europäer wollen von der Türkei nichts wissen. Sehr viel wichtiger ist aber, dass die Türken von Europa nichts mehr wissen wollen. Wer würde von nun an noch in dieses Völkergefängnis eintreten wollen?

Kommentare:

  • Die hier wiedergegebene Analyse stammt nicht von mir, sondern von Emmanuel Todd. Ich bin nur der Übersetzer.
  • Ich stelle sie hier vor, weil sie in sehr interessanter Weise allem widerspricht, was in der deutschen Debatte (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) zu diesen Fragen zu hören ist:
    • Es ist völlig klar, dass der rein moralische, interessenfreie Diskurs des deutschen Mainstreams über die Lage und die Konflikte in Europa völliger Unsinn ist, eine Erzählung für den Kindergarten: „Wir sind die Guten! Wir wollen nur helfen!“
    • Aber auch die rechte Opposition, die bedauerlicherweise das Feld ernsthafter Opposition fast für sich allein hat, ist tief in einer deutschen Sicht gefangen, in der Südeuropa auf deutsche Kosten lebt und der Konflikt in der Ukraine ein Konflikt zwischen den USA und Russland ist, ebenfalls auf deutsche Kosten. Sie kann oder will nicht erkennen, dass Deutschland mit seinen Interessen tief in den Ukrainekonflikt verstrickt ist und dass zumindest die deutsche Elite Südeuropa mehr dominiert als alimentiert.
  • Mit der These von der kommenden Flucht Englands aus der EU hat Todd mal wieder einen Volltreffer gelandet, fast 2 Jahre vor dem Brexit-Votum! Und dieser Treffer zeigt eben auch, dass das keine Laune einer „rassistischen“ Bevölkerung war, kein Unfall, sondern sehr viel tiefere Ursachen hat. Dieser Treffer sollte ein Hinweis sein, sich auch die anderen Teile der Analyse ganz genau und vorurteilsfrei anzusehen. Könnte beispielsweise auch die Analyse der ungarischen Rolle stimmen?
  • In diesem Interview mit der ZEIT aus dem Frühjahr 2014 sind die Grundideen zum deutschen Europa bereits enthalten, aber sehr viel zahmer formuliert und weniger ausgearbeitet als im Interview oben
  • Im nächsten Beitrag wird es um den Weg zu dieser deutschen Dominanz in Europa gehen, also um die Teile I und II des Originalinterviews

Fortsetzung: Entstehung und Antrieb des deutschen Europa

Nachtrag 16.3.2017:
Der Russe bedroht Schweden. Wirklichkeit oder doch wieder Fake News?

Nachtrag 23.3.2017:
Russland fordert mit seinen Rüstungsausgaben die NATO heraus.

Nachtrag 25.3.2017:
Einen ganz anderen, nicht Deutschland-zentrierten, Blick auf die Russophobie hat Strategic Culture: Russophobia – Symptom of US Implosion

Nachtrag 30.3.2017:
Im März-Heft des Cicero findet sich ein Artikel darüber, dass in Polen ca. 80000 Zivilisten in paramilitärischen Gruppen für die Landesverteidigung trainieren. Als Bedrohung Nr. 1 werde Russland angesehen. Der Artikel ist bis zum Monatsende noch nicht online gestellt worden.

Trüber Frühling für Europa

Der Gaullist Roland Hureaux hat im französischen Magazin ‚Causeur‘ am 14. Februar einen Kommentar über die außenpolitische Lage Europas veröffentlicht, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt:

matruschkas
Souvenirladen in St. Petersburg

Der trübe Frühling, der Europa erwartet

Chronik des Endes einer Herrschaftsepoche

Westeuropa befindet sich heute im Zustand der Schwerelosigkeit. Alles, was seine Politik in den letzten Jahren bestimmt hat, ist dabei zusammenzubrechen, aber Europa weiß das noch nicht.

Am 20. Januar hat Donald Trump sein Amt im Weißen Haus übernommen; er hat bereits Rex Tillerson, der Putin nahesteht, zum Außenminister ernannt. In einigen Wochen werden sich Trump und Putin persönlich treffen. Sie werden wahrscheinlich eine Liste von Problemen regeln, in erster Linie dasjenige des Nahen Ostens, vielleicht das der Ukraine. Sie werden auch über China sprechen. Werden Sie über Westeuropa sprechen? Das ist noch nicht einmal sicher. Zunächst, weil es nichts Dringendes zu regeln gibt, dann, weil die Meinung der Europäer ihnen sehr unwichtig ist, sobald sie sich einig sind. Und danach? Es ist nicht absurd vorauszusehen, dass wenn sich die guten Beziehungen der beiden Mächte bestätigen, sie eine Art von Co-Vormundschaft über Westeuropa installieren werden.

Die Verlassenheit Westeuropas

Die Verlassenheit der Länder Westeuropas ist groß. Zunächst aus Gründen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage: Rezession, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Geburtenmangel, immense Frustration der Völker. Dann auch aus Gründen ihrer Engagements der letzten 10 Jahre. Die Weigerung Jaques Chiracs im Jahr 2003, am Irakkrieg teilzunehmen, war der letzte Akt des Widerstands einer europäischen Regierung gegen Washington. Seit damals waren die Positionen der Regierungen, der dominierenden Parteien, der wichtigsten Entscheider und der Medien, sich ohne Nuancen an die amerikanische Politik im Hinblick auf Russland und den Nahen Osten anzuschließen; eine Politik, die in Europa darin bestand, den Ukraine-Konflikt zu verschärfen und Sanktionen gegen Moskau zu verhängen, die streng gescholten wurden von einem so maßvollen Mann wie Helmut Schmidt, und im Nahen Osten darin, dschihadistische Bewegungen zu unterstützen, um  vor langer Zeit etablierte Regime zu destabilisieren oder zu stürzen, die von Washington öffentlich angeprangert worden waren.

Es sind in gar keiner Weise die Interessen Europas, die diese Politik erklären, es ist die Unterwerfung seiner Anführer. Sie haben sich in Wahrheit gar nicht nach der amerikanischen Politik als solcher ausgerichtet, sondern nach der neokonservativen Ideologie, die jene seit 25 Jahren inspiriert. Nun hat aber diese Ideologie im November 2016 einen tödlichen Schlag erhalten: die Niederlage Hillary Clintons, die sie personifizierte, für die alle Europäer ohne Ausnahme unter Missachtung des Prinzips der Nichteinmischung Partei ergriffen hatten. Und dann noch einen anderen: die Niederlage der Dschihadisten, die vom Westen unterstützt worden waren, in den Straßen von Aleppo.

Die Reaktion der wichtigsten europäischen Entscheider angesichts des Siegs von Trump war bedeutsam: kalte Communiqués, moralische Lektionen, die ebenso duckmäuserisch wie lächerlich waren (besonders von Seiten der deutschen Kanzlerin). Die Reaktion auf die Ereignisse im Nahen Osten war nicht weniger desolat: unsinnige Denunziation von imaginären Kriegsverbrechen; Initiativen Frankreichs, im Extremfall die Charta der Vereinten Nationen zu ändern, um humanitäre Interventionen zu erlauben in dem Moment, wo diese gerade ein wenig überall ihren desaströsen Charakter gezeigt hatte; Ermutigungen der Briten an gewisse dschihadistische Gruppen, die  Waffenruhe zu brechen, die gerade um Putin beschlossen worden war; und Verlängerung der gegen Russland beschlossenen Sanktionen, während man weiß, dass die USA sie zügig aufheben werden: statt voranzupreschen, graben sich die Europäer in der Leugnung ein.

Angesichts des Zusammenbruchs der neokonservativen Ideologie (ultraliberal in der Wirtschaft und libertär im Gesellschaftlichen), die den gleichen integrativen und globalistischen Charakter hat wie die europäische Ideologie à la Brüssel, sind die Europäer heute wie eine Ente ohne Kopf, die weiterläuft ohne zu merken, dass sie schon tot ist. TTIP, das in gewisser Weise eine Ausdehnung der europäischen Mechanik auf den Nordatlantik darstellte, ist beerdigt.

Zwischen zwei Giganten

Aber das Schwerwiegendste für Europa ist, dass es von nun an mit zwei Giganten zu tun hat: Putin, der in seinem Land populärer ist als jemals zuvor und der angesehene Sieger im Nahen Osten, Trump, der es hinbekommen hat, gegen seine Partei und gegen die Gesamtheit der wirtschaftlichen Oligarchie und der Medien gewählt zu werden.

Keiner der beiden Männer hat Anlass, die geringste Sympathie für die aktuellen Anführer Westeuropas zu haben, die alle gegen sie Partei ergriffen haben, auf dem diplomatischen und militärischen Terrain im Falle Putins, in der Wahlarena im Falle Trumps. Der dritte große Mann, der beunruhigendere, ist Erdogan, dessen Ambitionen sich an einer aufgewühlten innenpolitischen Situation stoßen und den Putin Mühe hat, im Zaum zu halten. Deutlich abgerückt vom Brüsseler Europa bleibt er ein starker Mann.

Angesichts dieser Großen, was für ein Desaster! Deutschland hat sozusagen keine Kanzlerin mehr, so sehr hat sich Angela Merkel diskreditiert, indem sie auf unverantwortliche Weise das Land für eine Million Migranten geöffnet hat. Frankreich hat einen Präsidenten-Zombie, der auf der internationalen Bühne entwertet ist und sich noch nicht einmal zur Wiederwahl stellen konnte. Italien hat den Rücktritt des Illusionisten Renzi gesehen, der politisch so korrekt ist. Frau May scheint noch am besten dazustehen, aber noch wenig bekannt im Ausland scheint sie absorbiert zu werden von Tausend und einer rechtlichen Schwierigkeit des Brexits, wahrscheinlich weil auf keiner Seite des Ärmelkanals jemand wagt, den gordischen Knoten zu durchschlagen. Und lasst uns nicht von Juncker in seinen hellen Stunden sprechen! Das alles vor dem Hintergrund der Krise des Euro, der in der höchsten Not der griechischen Affäre durch den Druck Obamas gerettet wurde. Was wird Trump beim nächsten Mal machen?

Es ist möglich, dass sich Westeuropa, wie es heute funktioniert, auf strukturelle Weise als unfähig erweist, wirkliche Anführer zu erschaffen. In diesem Frühjahr, in dem wir darauf warten, was die französische Präsidentenwahl bringt, die erste im Kalender, wird die Sternenleere, die heute diejenige Westeuropas ist, ganz groß sichtbar werden. Eine ganzer historischer Zyklus kommt für es an ein Ende.

Mein Kommentar:
Ich lasse diesen Text inhaltlich einfach mal so stehen. Man kann das so sehen, muss aber natürlich nicht. Man sollte aber wissen, dass dieses Thema viele in unserem Nachbarland so sehen, rechte und linke Souveränisten, keineswegs nur Anhänger von Le Pen.
Roland Hureaux ist ein konservativer gaullistischer Kommentator der Außenpolitik, der sich am ehesten irgendwo in dem Umfeld einordnen lässt, das den konservativen Präsidentschaftskandidaten Fillon unterstützt.
Denken Sie einfach mal darüber nach, wo Sie in Deutschland eine solche schonungslose Analyse der Lage Europas erwarten würden. Aus welcher Partei, in welcher Zeitung?

Nachträge 26.2.2017:
Lost in EU: Warum Frankreich an der EU verzweifelt.
Die FAZ sieht das Thema ganz anders als Hureaux: Zurück zur russischen Normalität, verwendet aber lustigerweise das gleiche Matruschka-Foto. Die Welt ist klein.

Nachtrag 06.3.2017:
Kein Land in Westeuropa ist (von allen guten Geistern) verlassener als Deutschland. Wie von Hureaux im Artikel (und bereits früher) ausgeführt, wird ihm das von Erdogan vorgeführt: Sultan Erdogan fordert Tribut von Merkel – und sie zahlt.

Nachtrag 10.3.2017:
ZEIT: Es wird einsam um Deutschland. Deshalb brauche Deutschland Frankreich so dringend. Nach meiner Meinung werden die deutsch-französischen Beziehungen damit auf Dauer überlastet. Es darf nicht passieren, dass Frankreich der einzige Freund wird, der die Feindseligkeit aller anderen kompensieren muss. Außerdem ist Angela Merkel dafür die komplett falsche Kanzlerin: sie hat keinerlei Beziehung zu Frankreich, versteht noch nicht einmal die Sprache. Sie hat nur sterile Machtbeziehungen zu französischen Politikern, keinerlei Einblick in die Gemütslage der Franzosen, in ihre Spaltung auch und gerade im Verhältnis zu Deutschland. So wird die deutsch-französische Achse zuerst überlastet werden und dann wird sie brechen, mit katastrophalen Folgen für Deutschland. Es bleibt absolut notwendig, mit Polen, Großbritannien und Italien gleichermaßen in einem guten Dialog zu bleiben, zum Wohle auch des deutsch-französischen Verhältnisses!

Nachtrag 18.3.2017:
Ein Althistoriker aus Belgien sieht Das Ende des Westens.

Nachtrag 01.10.2019:
Es scheint ein bisschen, als ob der franz. Präsident 2,5 Jahre später auf einen außenpolitischen Kurs eingeschwenkt ist, der die Bedenken aufgreift, die Hureaux hier geäußert hat. Meint die NZZ:
NZZMacron