In dem Beitrag über Sebastian Haffner hatte ich sein brillantes englisches Buch von 1940 erwähnt, in dem er die deutsche Gesellschaft unter dem Nationalsozialismus beschrieb.
Letzte Woche wurde nun intensiv der Widerstandsgruppe ‚Weiße Rose‘ gedacht, weil einige ihrer Mitglieder am 22. Februar 1943, also vor 75 Jahren, hingerichtet wurden.
Das hat mich auf die Frage gebracht, wie ihr Widerstand nach Haffners Buch einzuordnen wäre. Das Buch hat ja die ungewöhnliche Eigenschaft, dass es seinen Kenntnisstand von 1938 wiedergibt, als er aus Deutschland floh, dass man so den dt. Widerstand also gewissermaßen mit dem Vorwissen eines hellsichtigen Zeitgenossen abgleichen und bewerten kann. Das Ergebnis fällt überraschend und klar aus.
Die Möglichkeiten des Widerstands nach Haffner
Fundamental ist Haffners Einteilung der Gesellschaft in 4 Gruppen:
Haffner erwartete nichts von den 1938 noch operierenden Resten der Opposition
Es ist durchaus möglich, jahrelang dort (in Deutschland) zu leben, ohne auch nur im Geringsten die Existenz der im Untergrund wirkenden Kommunisten und Sozialdemokraten, der Deutschen Freiheitspartei, der Schwarzen Front und all der anderen noch kleineren politischen Organisationen zu bemerken. Alles, was außerhalb Deutschlands gelegentlich über geheime Flugblattaktionen dieser Organisationen, über lokale Streiks und über Sabotageakte berichtet wird, ist stark übertrieben. Solche Dinge geschehen zwar, aber ihr Wirkungsradius ist so klein, dass sie statistisch betrachtet fast ignoriert werden können….
Dagegen war der Kampf der Gestapo gegen bereits vorhandene politische Organisationen zweifellos erfolgreich. Die Überbleibsel der organisierten politischen Kräfte, die es 1933 neben den Nazis gegeben hatte, sind in der Defensive oder sind in den Untergrund gedrängt und unwirksam geworden… Diese tun nichts und sind nichts als Todesfallen für ihre Mitglieder…
Eher verhalten sie sich so, als ob sie sich damit begnügen würden, von ihren kleinen Funkstationen aus Botschaften zu verbreiten, die vielleicht einige hundert Menschen erreichen und zwei oder drei von diesen beeindrucken, dafür aber ihre Position verraten und ihr Schicksal besiegeln. Kurz gesagt, die Methoden der illegalen Gruppen sind so sinnlos und töricht, dass selbst ihr Mut und ihr Märtyrertum nur Mitleid, aber keine Bewunderung erwecken können.
Eine hohe Meinung hat er jedoch von der illoyalen Bevölkerung
Aus der Nichtexistenz einer Opposition darf nicht das Nichtvorhandensein illoyaler Bevölkerungsschichten gefolgert werden…
Wenn man lange im Land lebt, bleiben einem die weitverbreitete Ablehnung des Regimes, der Hass, die Wut und die individuelle Auflehnung von Millionen nicht verborgen…:
Das regelmäßige und zuverlässige Durchsickern geheimer Informationen, die auffallend häufigen anonymen Warnungen, die Leute vor ihrer Verhaftung erhalten….
Der Geist des Verrats breitet sich wie eine gleichmäßig verteilte Saat auf allen Ebenen und in allen Bevölkerungsschichten aus…
Wir müssen ihn vielleicht vornehmlich unter jenen suchen, die von Anfang an Nazigegner waren und noch am 5. März 1933 gegen die Nazis stimmten, das heißt in der Hauptsache unter den Arbeitern, die früher organisiert waren, unter den strenggläubigen Katholiken und in bestimmten Kreisen der gehobenen Mittelschichten in den großen Städten. Aber wir müssen drei wichtige Einschränkungen machen, die das ganze Bild verändern:
- Erstens haben die Nazis ihre letzten großen Stimmengewinne im Jahre 1933 erzielt, und zwar unter jenen Leuten, die aufgrund gewisser Gegendoktrinen, welche in ähnlicher Weise gewaltorientiert waren, der Nazipropaganda bisher kein Gehör geschenkt hatten, insbesondere unter jungen Arbeitern, die früher Kommunisten oder linksextreme Sozialisten gewesen waren und in ihrer Wesensart den Nazis mehr oder weniger verwandt sind. Tatsächlich wurde kein nazifeindlicher Teil der Bevölkerung im Dritten Reich so erfolgreich zum Nationalsozialismus bekehrt wie die früheren Kommunisten…
Hitler gewann außerdem loyale Anhänger, wenn nicht gar neue Nazis, in vielen Teilen der patriotisch gesinnten und erfolgssüchtigen Bourgeoisie, welche bis zum letzten Augenblick „nicht an die Nazis geglaubt hatten“, aber während der Jahre ihrer Herrschaft und Erfolge zu ihnen umgeschwenkt waren. - Zweitens wurden aber im Laufe dieser Jahre viele Leute illoyal, die im März 1933 entweder als ihre getreuen Anhänger oder als deutschnationale Sympathisanten für die Nazis gestimmt hatten…Tatsächlich haben viele dieser Menschen ihr eigenes Denken und Handeln einer sehr kritischen Prüfung unterzogen…
- Drittens – und das ist der wichtigste Einwand – wäre es sehr falsch zu denken, jene, die von Anfang an gegen die Nazis waren und nie aufgehört haben, gegen sie zu sein, hätten im Laufe dieser Jahre ihre politischen Meinungen und Grundsätze unverändert beibehalten….Besonders die, die ihren unversöhnlichen Hass gegen die Nazis bewiesen, haben sich oft gezwungen gesehen, alle ihre Meinungen, politischen Anschauungen, geliebten Phrasen und Schlagworte über Bord zu werfen, wenn sie nicht geistig von den Nazis entwaffnet werden wollten.
Verzweifelt und fast hoffnungslos geht das Regime gegen die allgemeine, unorganisierte, man kann fast sagen unpolitische Illoyalität vor…
Es ist sehr leicht, von der hohen Warte der garantierten Bürgerrechte aus diese Deutschen der Feigheit zu bezichtigen, nur weil sie für ihre politischen Überzeugungen den Kopf nicht mit der gleichen Sorglosigkeit auf den Richtblock legen, mit dem andere einen Zettel in die Wahlurne werfen…
Die loyale Bevölkerung opfert alles der Reichsidee
Hier verläuft der dicke Trennstrich zwischen den Loyalen und den Illoyalen. Die Loyalen fühlen sich noch dazu verpflichtet, der Reichsidee ihr persönliches Wohlergehen, ihre persönliche Anständigkeit und die Mission und den Geist Deutschlands zu opfern….
Es ist sehr wichtig, dass wir den Unterschied zwischen den Nazis und den loyalen Deutschen begreifen…
Wer stellt die loyale Bevölkerung in Deutschland dar? In welcher Hinsicht unterscheidet sie sich von den Nazis? Wieso toleriert und unterstützt sie diese trotzdem?
Der loyale Teil der deutschen Bevölkerung, das heißt diejenigen, die dem Naziregime treu dienen, ohne Nazis zu sein, macht heute 40% der Gesamtbevölkerung Deutschlands aus, und wenn man allgemein von „den Deutschen“ oder „dem Durchschnittsdeutschen spricht, denkt man unwillkürlich an diese Menschen…
Es ist unmöglich, die loyale Bevölkerung in Deutschland, ebenso wie die Nazis, genauer einzugrenzen, und es lassen sich auch keine bestimmten Organisationen, Klassen, Regionen oder Altersgruppen nennen, denen sich die loyalen Bürger zuordnen ließen. Man kann sie nur als einen psychologischen Typus definieren, nicht als eine organisatorische Einheit. Sie sind faktisch überall anzutreffen, in jeder Gesellschaftsschicht, jeder Gegend und jedem kulturellen Bereich…
Die Hochburgen der Loyalität sind das Kleinbürgertum und die gehobenen Mittelschichten in der Provinz…Besonders beim Hochadel, bei den orthodoxen Katholiken (aber nicht bei den orthodoxen Protestanten), bei den Arbeitern mittleren Alters und bei den älteren Arbeitern, die durch die Schule der früheren sozialdemokratischen Gewerkschaften gegangen sind, ist ein Mangel an Loyalität festzustellen…Vom regionalen Gesichtspunkt aus betrachtet ist die Bevölkerung in Ostpreußen, Pommern, Schlesien und Sachsen loyaler eingestellt als in Süd- und Westdeutschland. Die politische Szene ändert sich jedoch erstaunlicherweise von einer Stadt zur anderen. So ist zum Beispiel Nürnberg eine der loyalsten und Würzburg eine der illoyalsten Städte….
In der staatlichen Verwaltung sind die loyalen Untertanen fast genauso zahlreich wie die Nazis, und unter den Juristen bilden sie noch immer die Mehrheit. Sie sind ziemlich zahlreich an Universitäten und Schulen vertreten. Und der Witz besteht darin, dass die Presse viel mehr loyale und sogar nichtloyale Nichtnazis beschäftigt als Nazis. Einer der höchsten Beamten der Reichsschriftkammer hat, wie ich erfahren habe, geäußert, dass seines Wissens 75% der Redakteure politisch unzuverlässig seien und dass er das dulden müsse, da es nicht genügend fähige Nazijournalisten gebe. Und er könne sie dulden, da die „unzuverlässigen“ Redakteure ihre Aufgabe nicht schlechter erfüllen als die besten Nazis. Von Angst und Ehrgeiz getrieben handeln sie gegen ihr Gewissen und tragen als Mitarbeiter der berüchtigten Nazipresse dazu bei, zynisch die Wahrheit zu entstellen.
Bis vor kurzem hatte das Heer noch als sicherer Hort für konservative Loyalität gegenüber dem Reich gegolten. Aber seit dem 4. Februar 1938[1] ist das Heer zunehmend vom Nazismus durchdrungen. Die jüngeren Offiziere sind in der Regel Nazis.
[1] Am 4.2.1938 wurde der bisherige Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch, unter dem unzutreffenden Vorwurf der Homosexualität, entlassen. Hitler übernahm danach das Amt des Reichskriegsministers, machte sich selbst zum Oberbefehlshaber des Heeres und schuf das Oberkommando der Wehrmacht [Anmerkung des Übersetzers]
Der junge Idealismus:
Die ‚Weiße Rose‘
Die Geschichte der ‚Weißen Rose‘ setze ich als in groben Zügen bekannt voraus.
Relativ mühelos ordnet man diese jungen Leute und ihren Inspirator Huber nach Haffners Systematik in die Gruppe der illoyalen Staatsbürger ein. Besonders interessant ist dabei, dass die Geschwister Scholl zwar aus einer nazi-kritischen, christlich-liberalen Familie stammten, Hans Scholl aber ein ehemals begeistertes Mitglied der Hitler-Jugend war. Er gehört also genau zu jener 2. Gruppe der unerwarteten Illoyalisten, die Haffner schon 1938 besonders aufgefallen waren und die er besonders erwähnenswert fand.
Ungewöhnlich für Illoyalisten im Haffner’schen Sinne waren allerdings ihre Ziele und Methoden:
Das sind exakt diejenigen der ausgeschalteten Opposition: Leute „wachrütteln“ mit Flugblättern. Haffner schrieb darüber sehr harte Worte:
„Botschaften zu verbreiten, die vielleicht einige hundert Menschen erreichen und zwei oder drei von diesen beeindrucken, dafür aber ihre Position verraten und ihr Schicksal besiegeln“
“die Methoden…sind so sinnlos und töricht, dass selbst ihr Mut und ihr Märtyrertum nur Mitleid, aber keine Bewunderung erwecken können“
Die Nachwelt sieht das offensichtlich ganz anders als er:
Kein Widerstand weckt breitere und innigere Sympathie. Die Tatsache seiner vollständigen Aussichtslosigkeit ist essentiell dafür, dass er so weiß und hell strahlt. Das vorhersehbare Scheitern gehört zur Reinheit dazu.
Es kann nicht darum gehen, die Widerstandsgruppe zu kritisieren, deren Mitglieder offensichtlich zu jung, idealistisch und unerfahren waren, um zu verstehen, mit welchem Gegner sie es zu tun hatten.
Die Kritik muss sich an die Nachwelt richten: Liebt ihr den Idealismus wirklich um seiner selbst willen, als „sinnloses und törichtes“ Bekenntnis ohne Wirkmöglichkeit?
Der Loyalismus will sich retten:
20. Juli 1944
Auch die Geschichte des 20. Juli ist hinreichend bekannt. Der Hauptattentäter Claus von Stauffenberg war noch 1940, als Haffner sein Buch schrieb, ein loyaler Offizier und beeindruckt von den phantastischen militärischen Anfangserfolgen. Erst später schloss er sich dem Widerstandskreis an, dem auch schon lange illoyale Offiziere und Diplomaten angehörten.
Weniger bekannt ist, dass schon vor diesem späten Zeitpunkt auch Naziführer Hitler opfern wollten, um ein wenig vom dt. Reich und vor allem auch ihre eigene Haut zu retten. Zu diesen gehörte auch Heinrich Himmler, der u.a. über seinen persönlichen Adjutanten Karl Wolff auch mit Allen Dulles, dem OSS-Vertreter in Bern und späteren Gründer der CIA, in Kontakt war. Himmler war aber im Gegensatz zu Wolff nicht zu retten. Die Allianz der überlebenden deutschen Loyalisten mit dem US-Establishment war aber auch ohne die Zustimmung der US-Linken um Roosevelt längst unter Dach und Fach, und u.a. in der Person des BND-Chefs Reinhard Gehlen fortan sakrosankt.
Auch in diesem Fall geht es mir weniger um ein Urteil über die Verstrickungen der Beteiligten als um die heillos idealisierte Rezeption durch die Nachwelt:
Der 20. Juli wurde als Symbol der Allianz von deutschen Loyalisten mit dem US-Establishment über alle Maßen idealisiert und verfälscht, Überzeugungstäter mit Opportunisten in einen Topf gerührt, wenn es half, die bestehenden Machtverhältnisse inklusive Ex-Nazis in Top-Positionen zu zementieren. Wundert es da jemanden, dass die Studentenbewegung gegen die offensichtliche Heuchelei rebellierte und nicht recht wusste, ob sie alle Deutschen zu Nazis erklären oder doch eher das Gegenteil behaupten wollte?
Eine besondere Blüte erlebte die Verklärung nach der deutschen Einheit. Das Verteidigungsministerium zog ausgerechnet in den Bendlerblock ein. Von dort zogen dann deutsche Truppen unter der Führung von „Peter von Stauffenberg“ weiter in die Welt hinaus, als sie unter Hitler je gekommen waren. Aber natürlich dieses Mal nur für das Gute in der Welt. Der 20. Juli war das ideale Vehikel für die Remilitarisierung Deutschlands und deshalb immer der staatlich bevorzugte Widerstand.
Das einsame Lamm: Georg Else
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Der Schreinergeselle Georg Elser von der Ostalb wurde im Gegensatz zur Weißen Rose und zum 20. Juli lange Zeit wenig gewürdigt, sogar verschwiegen oder verleumdet. Langsam hat sich das geändert und so gibt es einige Gedenktafeln und eine sehr gelungene Website zu seiner Geschichte. In Heidenheim widmet sich ein Arbeitskreis dem Leben Elsers.
Ein Illoyaler durch und durch
Nach Haffners Einordnung gehörte er eindeutig zur ‚illoyalen Bevölkerung‘ und passt ganz gut zu Haffners 3. Anmerkung dazu: er hat sich in seinen Gesellen- und Wanderjahren von 1925-32 , die er im Bodenseegebiet verbrachte, zwar entsprechend seinen wirtschaftlichen Interessen im linken, gewerkschaftlich organisierten Milieu auf Veranstaltungen informiert und ist auch Mitglied im Rotfrontkämpferbund geworden. Er hat sich aber nie aktiv in irgendeiner Organisation engagiert.
Verschwiegen und zielstrebig
Nach 1933 gab es keinerlei politische Aktivitäten, aber seine wenigen Freunde wussten, dass er nicht viel vom Nationalsozialismus hielt, ohne dass es irgendjemand an die große Glocke gehängt hätte. Elser scheint Bescheid gewusst zu haben, dass Flugblätter „sinnlos und töricht“ waren und hat ab 1938 still und zielstrebig auf die ernsthafte Tat hingearbeitet.
In seine Pläne hat er offensichtlich niemanden eingeweiht. Dadurch hat er einerseits das Risiko einer Entdeckung minimiert, andererseits hat er seine engsten Angehörigen und Freunde so auch vor Folter und Vergeltung geschützt: alle wurden zwar nach seiner Verhaftung im Berliner Hauptquartier von der Gestapo verhört, aber ihre Unwissenheit scheint dabei so klar geworden zu sein, dass sie recht unbeschadet aus der Sache herausgekommen sind.
Sehr begrenzte Ziele

Gedenktafel für Elser, unweit des Brenztopfs in Elsers Heimatort Königsbronn bei einer Fahrradtour aufgenommen
Elser strebte nicht nach der Weltrevolution, sondern ganz lapidar:
„Die von mir angestellten Betrachtungen zeitigten das Ergebnis, dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden könnten. Unter der Führung verstand ich die ‚Obersten‘, ich meine damit Hitler, Göring und Goebbels. Durch meine Überlegungen kam ich zu der Überzeugung, dass durch die Beseitigung dieser 3 Männer andere Männer an die Regierung kommen, die an das Ausland keine untragbaren Forderungen stellen, die kein fremdes Land einbeziehen wollen und die für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Arbeiterschaft Sorge tragen werden.“
Das Entscheidende ist der ohne ideologischen Überbau gezielt gegen den Kopf des Systems geführte Enthauptungsschlag. So kann es funktionieren. Schade, dass er das Ziel durch Pech verfehlt hat!
Technisches Geschick und hoher Einsatz
Es kam seiner Verschwiegenheit sehr entgegen, dass er als außerordentlich geschickter Handwerker technisch in der Lage war, die Bombe ganz allein zu konstruieren und zu bauen. Durch eine Tätigkeit in einem Steinbruch verschaffte er sich auch den Sprengstoff und die Zünder selbst. Die akribischen Vorbereitungen zieht er konsequent durch. Der Einbau der Bombe in die Säule im Bürgerbräukeller ist riskant und eine geradezu unmenschliche Knochenarbeit. Die hölzerne Wandverkleidung baut der Schreiner in ein optimales Versteck für die Bombe um.
König der Illoyalen
Georg Elser aus Königsbronn wäre der unbestrittene König von Haffners ‚Illoyalen Bürgern‘ und agierte bereits 1939 voll auf der Höhe der Erkenntnisse, die Haffner erst 1940 in England veröffentlichte.
Auffälliges, Merkwürdiges
Sowohl die Geschwister Scholl, als auch Claus von Stauffenberg, als auch Georg Elser stammten aus Schwaben.
Hans und Sophie Scholl wurden am 22.Februar 1943 nur 4 Tage nach ihrer Verhaftung hingerichtet, Claus von Stauffenberg am 20. Oder 21. Juli 1944, also innerhalb von 1-2 Tagen nach dem gescheiterten Putsch.
Georg Elser dagegen saß seit seinem Attentat von 1939 und noch zur Zeit der Hinrichtung der Mitglieder der Weißen Rose und des 20. Juli. im KZ. Der diskutierte Grund, die Nazis planten, ihn nach dem gewonnenen Krieg in einem Prozess in London als Kronzeugen gegen die Engländer zu präsentieren, erscheint mir unglaubwürdig. Spätestens zum Zeitpunkt des 20. Juli 1944 wäre der Plan Makulatur gewesen, der Krieg war lange verloren. Und warum wurde dann eigentlich der Schweizer Maurice Bavaud, der am 9. November 1938, exakt ein Jahr vor Elser, einen Mordplan gegen Hitler in München nicht umsetzen konnte, nicht ebenfalls als Kronzeuge gegen ausländische Auftragggeber am Leben gelassen, sondern bereits 1941 hingerichtet?
Georg Elsers Ermordung soll jedenfalls Anfang April 1945 einzeln angeordnet und am 9. April in Dachau ausgeführt worden sein, mitten im Chaos des bereits laufenden Zusammenbruchs.
Unter anderem diese Merkwürdigkeit führte schon während des Krieges zu Theorien, dass Elser insgeheim mit Wissen und im Auftrag der Gestapo oder SS gehandelt habe. Diese Theorie verbreitete insbesondere der Pastor Martin Niemöller.
Eine gute Literaturliste über Elser findet man u.a. hier.
Update 24.03.2018
Wegen der Merkwürdigkeiten und Martin Niemöllers Behauptung, dass Georg Elser sein Attentat im Auftrag der SS ausgeführt habe, habe ich ein weiteres Buch darüber gelesen. Das Buch von Tom Ferry ist insofern interessant, als es zwei Handlungsstränge eng miteinander verzahnt: Elsers Attentatsvorbereitungen, seine späteren Verhöre und seine KZ-Haft einerseits und die Umstände des sogenannten Venlo-Zwischenfalls sowie die KZ-Haft des britischen Geheimdienstmannes Sigismund Payne Best andererseits. Beide sind sich im KZ Sachsenhausen begegnet. Das Buch lässt ausgerechnet den ermordeten Elser in der Ich-Form erzählen und erzählt die Erlebnisse des überlebenden Best in der Er-Form. Praktisch alle Informationen bringt es in Dialoge unter, von denen manche offensichtlich fiktiv sein müssen. Es ist also keine historisch zuverlässige Quelle, bietet aber viele Anreize für Recherchen aus anderen Quellen.
Mindestens zwei starke Argumente sprechen dafür, dass die NS-Führung Vorwissen über Elsers Attentat hatte:
- Elsers zahlreiche durchgearbeitete Nächte und bekannte kleine Pannen im Saal des Bürgerbräukellers machen es recht wahrscheinlich, dass seine Aktivitäten nicht ganz unentdeckt geblieben sind.
- Die vorzeitige Abreise der NS-Führer Hitler und Göbbels war ungewöhnlich und verdächtig: die Rede dauerte normalerweise 90 Minuten und war von 20:30 – 22:00 Uhr angesetzt. Die Bombenexplosion war auf 21:20 eingestellt und pünktlich. Nun war die Rede aber kurzfristig auf 20:00 Uhr vorgezogen und um 21:07 beendet worden. Und die Berliner NS-Führer blieben auch entgegen früheren Jahren danach nicht im Saal, sondern reisten sofort mit der Bahn nach Berlin ab.
Die Verschwörungstheorie von Martin Niemöller, der übrigens ebenfalls mit Best und Elser in Sachsenhausen einsaß, war also nicht völlig unvernünftig, vielleicht nur nicht ganz korrekt. Sie war eine MIHOP-Theorie: Make It Happen On Purpose. Auch ein LIHOP (Let It Happen On Purpose) wäre aber möglich: Elsers Aktivitäten wären entdeckt, aber laufengelassen worden, um sie für NS-Pläne nutzbar zu machen, z.B. Hand in Hand mit dem Venlo-Zwischenfall, der bereits vorbereitet wurde.
Entscheidend dafür, dass frühe Verschwörungstheorien à la Niemöller verworfen wurden, waren die 1964 entdeckten Vernehmungsprotokolle Elsers. Solche Protokolle sind geeignet eine MIHOP-Theorie zu verwerfen, aber sie sagen naturgemäß nichts über eine LIHOP-Theorie aus, die ja eben davon ausgeht, dass der Attentäter ohne sein eigenes Wissen von Geheimdiensten für andere Zwecke nutzbar gemacht wird.
Die Frage bliebe, wer im Detail die Fäden zog. Immer schon diskutiert wurde die Tatsache, dass Göring in diesem Jahr 1939 ausnahmsweise nicht im Bürgerbäukeller anwesend war.
Und auch eine andere Personalie ist hochinteressant: Arthur Nebe, der Elser als Erster in München verhörte und der Tat überführte (mit den verletzten Knien) war bereits zu diesem Zeitpunkt selbst in die Pläne zur Septemberverschwörung eingebunden gewesen. Später war er Mitverschwörer des 20. Juli, tauchte unter und wurde erst im Januar 1945 gefasst und im März 1945 hingerichtet. Im Buch von Tom Ferry wird Nebe als Beschützer Georg Elsers dargestellt. Eine mögliche Erklärung für sein langes Überleben könnte also sein, dass er durch eine sehr komplexe Gemengelage von Mitwissern, Verschwörern und Intriganten geschützt wurde, die sich erst durch die Verschwörung vom 20. Juli und den herannahenden Zusammenbruch im April 1945 auflöste. Es scheint nicht ganz gesichert zu sein, dass der Befehl zur Verschonung von VIP-Gefangenen wie Best, Schuschnigg, Halder, Schacht und zur Ermordung von Georg Elser von Heinrich Müller unterzeichnet wurde. Müller begegnet wie Nebe, Heydrich und Himmler Elser in Ferrys Buch immer wieder persönlich. Elser war also zweifellos selbst ebenfalls so etwas wie ein VIP-Gefangener. Es bleibt der Verdacht, dass Elser etwas wusste, was sonst fast niemand wusste, und deshalb anders als etwa Halder kurz vor dem Ende noch ermordet wurde, von wem auch immer.
Der Fall Georg Elser und Ferrys Buch sind ein Wundermittel gegen den Irrglauben, man selbst hätte in des NS-Zeit immer genau gewusst, wer die Bösen und wer die Guten waren.
Georg Elser mit Arthur Nebe:
Quelle und weitere Fotos
Das oben erwähnte Buch von Ortner „Der einsame Attentäter“ geht über alle verbleibenden Zweifel an Elsers Attentat hinweg und verkündet eine geschlossene neue Wahrheit. Nach dem Lesen von Ferrys Buch und vieler Teilaspekte beim Georg-Elser-Arbeitskreis ist mir das eher suspekt geworden. Denn viele Zweifel und Überlegungen lassen sich nicht mehr wegdiskutieren. Und hinter dem Mythos Elser bleibt die Wirklichkeit schwer erkennbar.
Update 5.4.2018
Auf Empfehlung eines Elser-Experten habe ich noch ein drittes Buch gelesen. Es ist für eine Einführung das beste der drei, sehr gut recherchiert und geschrieben.
Haasis berichtet z.B. aus Schweizer Nachforschungen über die Arbeit Elsers in Bottighofen/Thurgau:
Elser hatte die Angewohnheit, im Sommer bei schönem Wetter nachmittags während der Arbeitszeit seine Badehose zu nehmen und an den See zu gehen. Der Meister wie sein Sohn waren einverstanden. Der Sohn fügte vor der Polizei anerkennend hinzu: „Die versäumte Zeit hat er jeweils abends wieder reichlich nachgeholt.“
Elser war mit der Anwendung der flexiblen Arbeitszeit nicht nur seiner Zeit weit voraus, er offenbarte darin ein Selbstbewusstsein, das zu einem Proletarier nicht so recht passte. Und das genau zu der Zeit, als er in kommunistischen Kreisen verkehrte. Wenn Elser, was nicht zu bezweifeln ist, sich als Sozialist fühlte, so war er doch gleichzeitig auch Individualist mit einem Drang zur Selbständigkeit, zur eigenen Verantwortung, mit einem starken Freiheitsbedürfnis. Sein wenig proletarisches Verhältnis zur Arbeit zeigte sich ähnlich an anderen Arbeitsverhältnissen.
Sagen wir so: Elser war ein freisinniger Arbeiter und hat damit gut in die Schweiz gepasst. U.a. den Verlust der Vertragsfreiheit für Arbeiter, also des Rechts, ihren Arbeitgeber frei zu wechseln, hat er später den Nazis sehr übel genommen.