Die Möglichkeiten des Widerstands

In dem Beitrag über Sebastian Haffner hatte ich sein brillantes englisches Buch von 1940 erwähnt, in dem er die deutsche Gesellschaft unter dem Nationalsozialismus beschrieb.Jekyll&Hyde

Letzte Woche wurde nun intensiv der Widerstandsgruppe ‚Weiße Rose‘ gedacht, weil einige ihrer Mitglieder am 22. Februar 1943, also vor 75 Jahren, hingerichtet wurden.

Das hat mich auf die Frage gebracht, wie ihr Widerstand nach Haffners Buch einzuordnen wäre. Das Buch hat ja die ungewöhnliche Eigenschaft, dass es seinen Kenntnisstand von 1938 wiedergibt, als er aus Deutschland floh, dass man so den dt. Widerstand also gewissermaßen mit dem Vorwissen eines hellsichtigen Zeitgenossen abgleichen und bewerten kann. Das Ergebnis fällt überraschend und klar aus.

Die Möglichkeiten des Widerstands nach Haffner

Fundamental ist Haffners Einteilung der Gesellschaft in 4 Gruppen:
Deutschland1939

Haffner erwartete nichts von den 1938 noch operierenden Resten der Opposition

Es ist durchaus möglich, jahrelang dort (in Deutschland) zu leben, ohne auch nur im Geringsten die Existenz der im Untergrund wirkenden Kommunisten und Sozialdemokraten, der Deutschen Freiheitspartei, der Schwarzen Front und all der anderen noch kleineren politischen Organisationen zu bemerken. Alles, was außerhalb Deutschlands gelegentlich über geheime Flugblattaktionen dieser Organisationen, über lokale Streiks und über Sabotageakte berichtet wird, ist stark übertrieben. Solche Dinge geschehen zwar, aber ihr Wirkungsradius ist so klein, dass sie statistisch betrachtet fast ignoriert werden können….
Dagegen war der Kampf der Gestapo gegen bereits vorhandene politische Organisationen zweifellos erfolgreich. Die Überbleibsel der organisierten politischen Kräfte, die es 1933 neben den Nazis gegeben hatte, sind in der Defensive oder sind in den Untergrund gedrängt und unwirksam geworden… Diese tun nichts und sind nichts als Todesfallen für ihre Mitglieder
Eher verhalten sie sich so, als ob sie sich damit begnügen würden, von ihren kleinen Funkstationen aus Botschaften zu verbreiten, die vielleicht einige hundert Menschen erreichen und zwei oder drei von diesen beeindrucken, dafür aber ihre Position verraten und ihr Schicksal besiegeln. Kurz gesagt, die Methoden der illegalen Gruppen sind so sinnlos und töricht, dass selbst ihr Mut und ihr Märtyrertum nur Mitleid, aber keine Bewunderung erwecken können.

Eine hohe Meinung hat er jedoch von der illoyalen Bevölkerung

Aus der Nichtexistenz einer Opposition darf nicht das Nichtvorhandensein illoyaler Bevölkerungsschichten gefolgert werden…
Wenn man lange im Land lebt, bleiben einem die weitverbreitete Ablehnung des Regimes, der Hass, die Wut und die individuelle Auflehnung von Millionen nicht verborgen…:
Das regelmäßige und zuverlässige Durchsickern geheimer Informationen, die auffallend häufigen anonymen Warnungen, die Leute vor ihrer Verhaftung erhalten….

Der Geist des Verrats breitet sich wie eine gleichmäßig verteilte Saat auf allen Ebenen und in allen Bevölkerungsschichten aus…
Wir müssen ihn vielleicht vornehmlich unter jenen suchen, die von Anfang an Nazigegner waren und noch am 5. März 1933 gegen die Nazis stimmten, das heißt in der Hauptsache unter den Arbeitern, die früher organisiert waren, unter den strenggläubigen Katholiken und in bestimmten Kreisen der gehobenen Mittelschichten in den großen Städten. Aber wir müssen drei wichtige Einschränkungen machen, die das ganze Bild verändern:

  1. Erstens haben die Nazis ihre letzten großen Stimmengewinne im Jahre 1933 erzielt, und zwar unter jenen Leuten, die aufgrund gewisser Gegendoktrinen, welche in ähnlicher Weise gewaltorientiert waren, der Nazipropaganda bisher kein Gehör geschenkt hatten, insbesondere unter jungen Arbeitern, die früher Kommunisten oder linksextreme Sozialisten gewesen waren und in ihrer Wesensart den Nazis mehr oder weniger verwandt sind. Tatsächlich wurde kein nazifeindlicher Teil der Bevölkerung im Dritten Reich so erfolgreich zum Nationalsozialismus bekehrt wie die früheren Kommunisten
    Hitler gewann außerdem loyale Anhänger, wenn nicht gar neue Nazis, in vielen Teilen der patriotisch gesinnten und erfolgssüchtigen Bourgeoisie, welche bis zum letzten Augenblick „nicht an die Nazis geglaubt hatten“, aber während der Jahre ihrer Herrschaft und Erfolge zu ihnen umgeschwenkt waren.
  2. Zweitens wurden aber im Laufe dieser Jahre viele Leute illoyal, die im März 1933 entweder als ihre getreuen Anhänger oder als deutschnationale Sympathisanten für die Nazis gestimmt hatten…Tatsächlich haben viele dieser Menschen ihr eigenes Denken und Handeln einer sehr kritischen Prüfung unterzogen…
  3. Drittens – und das ist der wichtigste Einwand – wäre es sehr falsch zu denken, jene, die von Anfang an gegen die Nazis waren und nie aufgehört haben, gegen sie zu sein, hätten im Laufe dieser Jahre ihre politischen Meinungen und Grundsätze unverändert beibehalten….Besonders die, die ihren unversöhnlichen Hass gegen die Nazis bewiesen, haben sich oft gezwungen gesehen, alle ihre Meinungen, politischen Anschauungen, geliebten Phrasen und Schlagworte über Bord zu werfen, wenn sie nicht geistig von den Nazis entwaffnet werden wollten.

Verzweifelt und fast hoffnungslos geht das Regime gegen die allgemeine, unorganisierte, man kann fast sagen unpolitische Illoyalität vor…
Es ist sehr leicht, von der hohen Warte der garantierten Bürgerrechte aus diese Deutschen der Feigheit zu bezichtigen, nur weil sie für ihre politischen Überzeugungen den Kopf nicht mit der gleichen Sorglosigkeit auf den Richtblock legen, mit dem andere einen Zettel in die Wahlurne werfen…

Die loyale Bevölkerung opfert alles der Reichsidee

Hier verläuft der dicke Trennstrich zwischen den Loyalen und den Illoyalen. Die Loyalen fühlen sich noch dazu verpflichtet, der Reichsidee ihr persönliches Wohlergehen, ihre persönliche Anständigkeit und die Mission und den Geist Deutschlands zu opfern….

Es ist sehr wichtig, dass wir den Unterschied zwischen den Nazis und den loyalen Deutschen begreifen…
Wer stellt die loyale Bevölkerung in Deutschland dar? In welcher Hinsicht unterscheidet sie sich von den Nazis? Wieso toleriert und unterstützt sie diese trotzdem?
Der loyale Teil der deutschen Bevölkerung, das heißt diejenigen, die dem Naziregime treu dienen, ohne Nazis zu sein, macht heute 40% der Gesamtbevölkerung Deutschlands aus, und wenn man allgemein von „den Deutschen“ oder „dem Durchschnittsdeutschen spricht, denkt man unwillkürlich an diese Menschen…

Es ist unmöglich, die loyale Bevölkerung in Deutschland, ebenso wie die Nazis, genauer einzugrenzen, und es lassen sich auch keine bestimmten Organisationen, Klassen, Regionen oder Altersgruppen nennen, denen sich die loyalen Bürger zuordnen ließen. Man kann sie nur als einen psychologischen Typus definieren, nicht als eine organisatorische Einheit. Sie sind faktisch überall anzutreffen, in jeder Gesellschaftsschicht, jeder Gegend und jedem kulturellen Bereich
Die Hochburgen der Loyalität sind das Kleinbürgertum und die gehobenen Mittelschichten in der Provinz…Besonders beim Hochadel, bei den orthodoxen Katholiken (aber nicht bei den orthodoxen Protestanten), bei den Arbeitern mittleren Alters und bei den älteren Arbeitern, die durch die Schule der früheren sozialdemokratischen Gewerkschaften gegangen sind, ist ein Mangel an Loyalität festzustellen…Vom regionalen Gesichtspunkt aus betrachtet ist die Bevölkerung in Ostpreußen, Pommern, Schlesien und Sachsen loyaler eingestellt als in Süd- und Westdeutschland. Die politische Szene ändert sich jedoch erstaunlicherweise von einer Stadt zur anderen. So ist zum Beispiel Nürnberg eine der loyalsten und Würzburg eine der illoyalsten Städte….

In der staatlichen Verwaltung sind die loyalen Untertanen fast genauso zahlreich wie die Nazis, und unter den Juristen bilden sie noch immer die Mehrheit. Sie sind ziemlich zahlreich an Universitäten und Schulen vertreten. Und der Witz besteht darin, dass die Presse viel mehr loyale und sogar nichtloyale Nichtnazis beschäftigt als Nazis. Einer der höchsten Beamten der Reichsschriftkammer hat, wie ich erfahren habe, geäußert, dass seines Wissens 75% der Redakteure politisch unzuverlässig seien und dass er das dulden müsse, da es nicht genügend fähige Nazijournalisten gebe. Und er könne sie dulden, da die „unzuverlässigen“ Redakteure ihre Aufgabe nicht schlechter erfüllen als die besten Nazis. Von Angst und Ehrgeiz getrieben handeln sie gegen ihr Gewissen und tragen als Mitarbeiter der berüchtigten Nazipresse dazu bei, zynisch die Wahrheit zu entstellen.

Bis vor kurzem hatte das Heer noch als sicherer Hort für konservative Loyalität gegenüber dem Reich gegolten. Aber seit dem 4. Februar 1938[1] ist das Heer zunehmend vom Nazismus durchdrungen. Die jüngeren Offiziere sind in der Regel Nazis.

[1] Am 4.2.1938 wurde der bisherige Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch, unter dem unzutreffenden Vorwurf der Homosexualität, entlassen. Hitler übernahm danach das Amt des Reichskriegsministers, machte sich selbst zum Oberbefehlshaber des Heeres und schuf das Oberkommando der Wehrmacht [Anmerkung des Übersetzers]

Der junge Idealismus:
Die ‚Weiße Rose‘

Die Geschichte der ‚Weißen Rose‘ setze ich als in groben Zügen bekannt voraus.
Relativ mühelos ordnet man diese jungen Leute und ihren Inspirator Huber nach Haffners Systematik in die Gruppe der illoyalen Staatsbürger ein. Besonders interessant ist dabei, dass die Geschwister Scholl zwar aus einer nazi-kritischen, christlich-liberalen Familie stammten, Hans Scholl  aber ein ehemals begeistertes Mitglied der Hitler-Jugend war. Er gehört also genau zu jener 2. Gruppe der unerwarteten Illoyalisten, die Haffner schon 1938 besonders aufgefallen waren und die er besonders erwähnenswert fand.

Ungewöhnlich für Illoyalisten im Haffner’schen Sinne waren allerdings ihre Ziele und Methoden:

SophieScholl

Das sind exakt diejenigen der ausgeschalteten Opposition: Leute „wachrütteln“ mit Flugblättern. Haffner schrieb darüber sehr harte Worte:

Botschaften zu verbreiten, die vielleicht einige hundert Menschen erreichen und zwei oder drei von diesen beeindrucken, dafür aber ihre Position verraten und ihr Schicksal besiegeln“
“die Methoden…sind so sinnlos und töricht, dass selbst ihr Mut und ihr Märtyrertum nur Mitleid, aber keine Bewunderung erwecken können“

Die Nachwelt sieht das offensichtlich ganz anders als er:
Kein Widerstand weckt breitere und innigere Sympathie. Die Tatsache seiner vollständigen Aussichtslosigkeit ist essentiell dafür, dass er so weiß und hell strahlt. Das vorhersehbare Scheitern gehört zur Reinheit dazu.

Es kann nicht darum gehen, die Widerstandsgruppe zu kritisieren, deren Mitglieder offensichtlich zu jung, idealistisch und unerfahren waren, um zu verstehen, mit welchem Gegner sie es zu tun hatten.

Die Kritik muss sich an die Nachwelt richten: Liebt ihr den Idealismus wirklich um seiner selbst willen, als „sinnloses und törichtes“  Bekenntnis ohne Wirkmöglichkeit?

Der Loyalismus will sich retten:
20. Juli 1944

Auch die Geschichte des 20. Juli ist hinreichend bekannt. Der Hauptattentäter Claus von Stauffenberg war noch 1940, als Haffner sein Buch schrieb, ein loyaler Offizier und beeindruckt von den phantastischen militärischen Anfangserfolgen. Erst später schloss er sich dem Widerstandskreis an, dem auch schon lange illoyale Offiziere und Diplomaten angehörten.

Weniger bekannt ist, dass schon vor diesem späten Zeitpunkt auch Naziführer Hitler opfern wollten, um ein wenig vom dSchachbrettTeufelst. Reich und vor allem auch ihre eigene Haut zu retten. Zu diesen gehörte auch Heinrich Himmler, der u.a. über seinen persönlichen Adjutanten Karl Wolff auch mit Allen Dulles, dem OSS-Vertreter in Bern und späteren Gründer der CIA, in Kontakt war. Himmler war aber im Gegensatz zu Wolff nicht zu retten. Die Allianz der überlebenden deutschen Loyalisten mit dem US-Establishment war aber auch ohne die Zustimmung der US-Linken um Roosevelt längst unter Dach und Fach, und u.a. in der Person des BND-Chefs Reinhard Gehlen fortan sakrosankt.

Auch in diesem Fall geht es mir weniger um ein Urteil über die Verstrickungen der Beteiligten als um die heillos idealisierte Rezeption durch die Nachwelt:

Der 20. Juli wurde als Symbol der Allianz von deutschen Loyalisten mit dem US-Establishment über alle Maßen idealisiert und verfälscht, Überzeugungstäter mit Opportunisten in einen Topf gerührt, wenn es half, die bestehenden Machtverhältnisse inklusive Ex-Nazis in Top-Positionen zu zementieren. Wundert es da jemanden, dass die Studentenbewegung gegen die offensichtliche Heuchelei rebellierte und nicht recht wusste, ob sie alle Deutschen zu Nazis erklären oder doch eher das Gegenteil behaupten wollte?

Eine besondere Blüte erlebte die Verklärung nach der deutschen Einheit. Das Verteidigungsministerium zog ausgerechnet in den Bendlerblock ein. Von dort zogen dann deutsche Truppen unter der Führung von „Peter von Stauffenberg“ weiter in die Welt hinaus, als sie unter Hitler je gekommen waren. Aber natürlich dieses Mal nur für das Gute in der Welt. Der 20. Juli war das ideale Vehikel für die Remilitarisierung Deutschlands und deshalb immer der staatlich bevorzugte Widerstand.

Das einsame Lamm: Georg ElseGeorgElserr

Der Schreinergeselle Georg Elser von der Ostalb wurde im Gegensatz zur Weißen Rose und zum 20. Juli lange Zeit wenig gewürdigt, sogar verschwiegen oder verleumdet. Langsam hat sich das geändert und so gibt es einige Gedenktafeln und eine sehr gelungene Website zu seiner Geschichte. In Heidenheim widmet sich ein Arbeitskreis dem Leben Elsers.

Ein Illoyaler durch und durch

Nach Haffners Einordnung gehörte er eindeutig zur ‚illoyalen Bevölkerung‘ und passt EinsamerAttentäterganz gut zu Haffners 3. Anmerkung dazu: er hat sich in seinen Gesellen- und Wanderjahren von 1925-32 , die er im Bodenseegebiet verbrachte, zwar entsprechend seinen wirtschaftlichen Interessen im linken, gewerkschaftlich organisierten Milieu auf Veranstaltungen informiert und ist auch Mitglied im Rotfrontkämpferbund geworden. Er hat sich aber nie aktiv in irgendeiner Organisation engagiert.

Verschwiegen und zielstrebig

Nach 1933 gab es keinerlei politische Aktivitäten, aber seine wenigen Freunde wussten, dass er nicht viel vom Nationalsozialismus hielt, ohne dass es irgendjemand an die große Glocke gehängt hätte. Elser scheint Bescheid gewusst zu haben, dass Flugblätter „sinnlos und töricht“ waren und hat ab 1938 still und zielstrebig auf die ernsthafte Tat hingearbeitet.
In seine Pläne hat er  offensichtlich niemanden eingeweiht. Dadurch hat er einerseits das Risiko einer Entdeckung minimiert, andererseits hat er seine engsten Angehörigen und Freunde so auch vor Folter und Vergeltung geschützt: alle wurden zwar nach seiner Verhaftung im Berliner Hauptquartier von der Gestapo verhört, aber ihre Unwissenheit scheint dabei so klar geworden zu sein, dass sie recht unbeschadet aus der Sache herausgekommen sind.

Sehr begrenzte Ziele

ElsterTafel
Gedenktafel für Elser, unweit des Brenztopfs in Elsers Heimatort Königsbronn bei einer Fahrradtour aufgenommen

Elser strebte nicht nach der Weltrevolution, sondern ganz lapidar:

„Die von mir angestellten Betrachtungen zeitigten das Ergebnis, dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden könnten. Unter der Führung verstand ich die ‚Obersten‘, ich meine damit Hitler, Göring und Goebbels. Durch meine Überlegungen kam ich zu der Überzeugung, dass durch die Beseitigung dieser 3 Männer andere Männer an die Regierung kommen, die an das Ausland keine untragbaren Forderungen stellen, die kein fremdes Land einbeziehen wollen und die für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Arbeiterschaft Sorge tragen werden.“

Das Entscheidende ist der ohne ideologischen Überbau gezielt gegen den Kopf des Systems geführte Enthauptungsschlag. So kann es funktionieren. Schade, dass er das Ziel durch Pech verfehlt hat!

Technisches Geschick und hoher Einsatz

Es kam seiner Verschwiegenheit sehr entgegen, dass er als außerordentlich geschickter Handwerker technisch in der Lage war, die Bombe ganz allein zu konstruieren und zu bauen. Durch eine Tätigkeit in einem Steinbruch verschaffte er sich auch den Sprengstoff und die Zünder selbst. Die akribischen Vorbereitungen zieht er konsequent durch. Der Einbau der Bombe in die Säule im Bürgerbräukeller ist riskant und eine geradezu unmenschliche Knochenarbeit. Die hölzerne Wandverkleidung baut der Schreiner in ein optimales Versteck für die Bombe um.

König der Illoyalen

Georg Elser aus Königsbronn wäre der unbestrittene König von Haffners ‚Illoyalen Bürgern‘ und agierte bereits 1939 voll auf der Höhe der Erkenntnisse, die Haffner erst 1940 in England veröffentlichte.

Auffälliges, Merkwürdiges

Sowohl die Geschwister Scholl, als auch Claus von Stauffenberg, als auch Georg Elser stammten aus Schwaben.

Hans und Sophie Scholl wurden am 22.Februar 1943 nur 4 Tage nach ihrer Verhaftung hingerichtet, Claus von Stauffenberg am 20. Oder 21. Juli 1944, also innerhalb von 1-2 Tagen nach dem gescheiterten Putsch.
Georg Elser dagegen saß seit seinem Attentat von 1939 und noch zur Zeit der Hinrichtung der Mitglieder der Weißen Rose und des 20. Juli. im KZ. Der diskutierte Grund, die Nazis planten, ihn nach dem gewonnenen Krieg in einem Prozess in London als Kronzeugen gegen die Engländer zu präsentieren, erscheint mir unglaubwürdig. Spätestens zum Zeitpunkt des 20. Juli 1944 wäre der Plan Makulatur gewesen, der Krieg war lange verloren. Und warum wurde dann eigentlich der Schweizer Maurice Bavaud, der am 9. November 1938, exakt ein Jahr vor Elser, einen Mordplan gegen Hitler in München nicht umsetzen konnte, nicht ebenfalls als Kronzeuge gegen ausländische Auftragggeber am Leben gelassen, sondern bereits 1941 hingerichtet?
Georg Elsers Ermordung soll jedenfalls Anfang April 1945 einzeln angeordnet und am 9. April in Dachau ausgeführt worden sein, mitten im Chaos des bereits laufenden Zusammenbruchs.

Unter anderem diese Merkwürdigkeit führte schon während des Krieges zu Theorien, dass Elser insgeheim mit Wissen und im Auftrag der Gestapo oder SS gehandelt habe. Diese Theorie verbreitete insbesondere der Pastor Martin Niemöller.

Eine gute Literaturliste über Elser findet man u.a. hier.

Update 24.03.2018

Wegen der Merkwürdigkeiten und Martin Niemöllers Behauptung, dass Georg Elser sein Attentat im Auftrag der SS ausgeführt habe, habe ich ein weiteres BucZitherPlayerh darüber gelesen. Das Buch von Tom Ferry ist insofern interessant, als es zwei Handlungsstränge eng miteinander verzahnt: Elsers Attentatsvorbereitungen, seine späteren Verhöre und seine KZ-Haft einerseits und die Umstände des sogenannten Venlo-Zwischenfalls sowie die KZ-Haft des britischen Geheimdienstmannes Sigismund Payne Best andererseits. Beide sind sich im KZ Sachsenhausen begegnet. Das Buch lässt ausgerechnet den ermordeten Elser in der Ich-Form erzählen und erzählt die Erlebnisse des überlebenden Best in der Er-Form. Praktisch alle Informationen bringt es in Dialoge unter, von denen manche offensichtlich fiktiv sein müssen. Es ist also keine historisch zuverlässige Quelle, bietet aber viele Anreize für Recherchen aus anderen Quellen.
Mindestens zwei starke Argumente sprechen dafür, dass die NS-Führung Vorwissen über Elsers Attentat hatte:

  1. Elsers zahlreiche durchgearbeitete Nächte und bekannte kleine Pannen im Saal des Bürgerbräukellers machen es recht wahrscheinlich, dass seine Aktivitäten nicht ganz unentdeckt geblieben sind.
  2. Die vorzeitige Abreise der NS-Führer Hitler und Göbbels war ungewöhnlich und verdächtig: die Rede dauerte normalerweise 90 Minuten und war von 20:30 – 22:00 Uhr angesetzt. Die Bombenexplosion war auf 21:20 eingestellt und pünktlich. Nun war die Rede aber kurzfristig auf 20:00 Uhr vorgezogen und um 21:07 beendet worden. Und die Berliner NS-Führer blieben auch entgegen früheren Jahren danach nicht im Saal, sondern reisten sofort mit der Bahn nach Berlin ab.

Die Verschwörungstheorie von Martin Niemöller, der übrigens ebenfalls mit Best und Elser in Sachsenhausen einsaß, war also nicht völlig unvernünftig, vielleicht nur nicht ganz korrekt. Sie war eine MIHOP-Theorie: Make It Happen On Purpose. Auch ein LIHOP (Let It Happen On Purpose) wäre aber möglich: Elsers Aktivitäten wären entdeckt, aber laufengelassen worden, um sie für NS-Pläne nutzbar zu machen, z.B. Hand in Hand mit dem Venlo-Zwischenfall, der bereits vorbereitet wurde.
Entscheidend dafür, dass frühe Verschwörungstheorien à la Niemöller verworfen wurden, waren die 1964 entdeckten Vernehmungsprotokolle Elsers. Solche Protokolle sind geeignet eine MIHOP-Theorie zu verwerfen, aber sie sagen naturgemäß nichts über eine LIHOP-Theorie aus, die ja eben davon ausgeht, dass der Attentäter ohne sein eigenes Wissen von Geheimdiensten für andere Zwecke nutzbar gemacht wird.
Die Frage bliebe, wer im Detail die Fäden zog. Immer schon diskutiert wurde die Tatsache, dass Göring in diesem Jahr 1939 ausnahmsweise nicht im Bürgerbäukeller anwesend war.
Und auch eine andere Personalie ist hochinteressant: Arthur Nebe, der Elser als Erster in München verhörte und der Tat überführte (mit den verletzten Knien) war bereits zu diesem Zeitpunkt selbst in die Pläne zur Septemberverschwörung eingebunden gewesen. Später war er Mitverschwörer des 20. Juli, tauchte unter und wurde erst im Januar 1945 gefasst und im März 1945 hingerichtet. Im Buch von Tom Ferry wird Nebe als Beschützer Georg Elsers dargestellt. Eine mögliche Erklärung für sein langes Überleben könnte also sein, dass er durch eine sehr komplexe Gemengelage von Mitwissern, Verschwörern und Intriganten geschützt wurde, die sich erst durch die Verschwörung vom 20. Juli und den herannahenden Zusammenbruch im April 1945 auflöste. Es scheint nicht ganz gesichert zu sein, dass der Befehl zur Verschonung von VIP-Gefangenen wie Best, Schuschnigg, Halder, Schacht und zur Ermordung von Georg Elser von Heinrich Müller unterzeichnet wurde. Müller begegnet wie Nebe, Heydrich und Himmler Elser in Ferrys Buch immer wieder persönlich. Elser war also zweifellos selbst ebenfalls so etwas wie ein VIP-Gefangener. Es bleibt der Verdacht, dass Elser etwas wusste, was sonst fast niemand wusste, und deshalb anders als etwa Halder kurz vor dem Ende noch ermordet wurde, von wem auch immer.
Der Fall Georg Elser und Ferrys Buch sind ein Wundermittel gegen den Irrglauben, man selbst hätte in des NS-Zeit immer genau gewusst, wer die Bösen und wer die Guten waren.

Georg Elser mit Arthur Nebe:
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Quelle und weitere Fotos

Das oben erwähnte Buch von Ortner „Der einsame Attentäter“ geht über alle verbleibenden Zweifel an Elsers Attentat hinweg und verkündet eine geschlossene neue Wahrheit. Nach dem Lesen von Ferrys Buch und vieler Teilaspekte beim Georg-Elser-Arbeitskreis ist mir das eher suspekt geworden. Denn viele Zweifel und Überlegungen lassen sich nicht mehr wegdiskutieren. Und hinter dem Mythos Elser bleibt die Wirklichkeit schwer erkennbar.

Update 5.4.2018

Auf Empfehlung eines Elser-Experten habe ich noch ein drittes Buch gelesen. Es ist für eine Einführung das beste der drei, sehr gut recherchiert und geschrieben.HaasisElser
Haasis berichtet z.B. aus Schweizer Nachforschungen über die Arbeit Elsers in Bottighofen/Thurgau:
Elser hatte die Angewohnheit, im Sommer bei schönem Wetter nachmittags während der Arbeitszeit seine Badehose zu nehmen und an den See zu gehen. Der Meister wie sein Sohn waren einverstanden. Der Sohn fügte vor der Polizei anerkennend hinzu: „Die versäumte Zeit hat er jeweils abends wieder reichlich nachgeholt.“
Elser war mit der Anwendung der flexiblen Arbeitszeit nicht nur seiner Zeit weit voraus, er offenbarte darin ein Selbstbewusstsein, das zu einem Proletarier nicht so recht passte. Und das genau zu der Zeit, als er in kommunistischen Kreisen verkehrte. Wenn Elser, was nicht zu bezweifeln ist, sich als Sozialist fühlte, so war er doch gleichzeitig auch Individualist mit einem Drang zur Selbständigkeit, zur eigenen Verantwortung, mit einem starken Freiheitsbedürfnis. Sein wenig proletarisches Verhältnis zur Arbeit zeigte sich ähnlich an anderen Arbeitsverhältnissen.

Sagen wir so: Elser war ein freisinniger Arbeiter und hat damit gut in die Schweiz gepasst. U.a. den Verlust der Vertragsfreiheit für Arbeiter, also des Rechts, ihren Arbeitgeber frei zu wechseln, hat er später den Nazis sehr übel genommen.

Ich bin nun mal Deutscher

Biografie eines klugen Preußen und Patrioten

 

Lebenslauf in Eckdaten

1907 geb. als Raimund Pretzel u. Sohn eines Lehrers
1933 Er will nicht dem NS-Regime dienen und beendet die Juristerei nach dem 2. Staatsexamen, wird Journalist
1938 Er folgt seiner halbjüdischen Geliebten nach England
1939/40 Haffner wird als verdächtiger Ausländer 2x interniert und versucht mit Frau und bald 3 Kindern als Publizist, der den Krieg (u.a. zus. mit George Orwell) unterstützt, Fuß zu fassen
1941 Haffner schreibt fortan als Kopf der Redaktion für die Zeitung ‚Observer‘ in London über Deutschland und die Welt
1956 H. kehrt als Deutschland-Korrespondent nach Berlin zurück
1961 H. verlässt den Observer, schreibt für ‚Welt‘, ‚Christ und Welt‘
1962 H. ergreift in der Spiegel-Affäre Partei für den Spiegel und überwirft sich darüber mit seinen konservativen Blättern, schreibt fortan für den ‚Stern‘ und eher für Willy Brandts Kanzlerschaft
1967 H. ergreift vehement Partei für die Freiheit der Studentenbewegung und gegen das staatliche Vorgehen. Er wird zu einer Art Verräter-Paria für die konservative dt. Politik und Publizistik. Er beginnt nach und nach mit der Veröffentlichung seiner historischen und politischen Bücher
1990 Haffner fremdelt mit der deutschen Vereinigungspolitik und steht dazu
1999 Haffner stirbt in seiner Geburtsstadt Berlin

Die hier besprochene Biografie des Autors Uwe Soukup[1] kann ich wärmstens empfehlen. Sie konzentriert sich sehr auf die intellektuelle Haltung und die publizistische Entwicklung von Sebastian Haffner. Das private Leben Haffners spielt nur am Rande und klatschfrei eine Rolle.
In der folgenden Zusammenfassung konzentriere ich mich auf Aspekte von Haffners Denken, die nach meiner Meinung dauerhaft und vor allem in der aktuellen politischen Lage ein guter Leitfaden sind.

Das Verhältnis zu England

England blieb zeitlebens das Land, das ihm Zuflucht gewährt hatte, als er Deutschland verlassen musste, und das er für seine Freiheiten in der Debatte und im Denken bewunderte. Dem Kriegspremier Winston Churchill widmete er eine Biografie.

Dabei hatte ihm England einen kühlen Empfang bereitet: um ein Haar wäre er im Frühjahr 1939 abgeschoben worden. Nach Kriegsbeginn wurde er zwei Mal als „feindlicher Ausländer“ für mehrere Monate inhaftiert. Die Engländer hatten Angst vor Spionage und Sabotage durch deutsche Agenten. Die Regierung befürchtete außerdem auch Übergriffe gegen unschuldige deutsche Emigranten bei einer Verschärfung des Krieges, insbesondere im Zusammenhang mit zivilen Opfern bei Luftangriffen. Deshalb ließ sie die Emigranten von Komitees in 3 Kategorien einteilen und Tausende von ihnen in den beiden gefährlichsten Kategorien internieren. Haffner selbst wurde als nichtverfolgter Emigrant in die gefährlichste Kategorie eingeteilt. Die Behandlung war streng, aber korrekt. Haffner hegte keinen Groll, sondern nahm es sportlich:

„Ich nehme es den Engländern gar nicht übel. Sie mögen diesen halben Schwindel, zu dem ich verurteilt war, nicht, das mögen sie noch heute nicht, und das ist ein anständiger Zug bei ihnen. Für mich war das sehr bedrohlich.“

Man vergleiche diese Haltung mit dem Getue um Flüchtlinge im heutigen Deutschland, denen nicht einmal eine medizinische Altersfeststellung zumutbar sein soll!

Das Verhältnis zu Deutschland

Haffner Verhältnis zu seinem Land könnte durch nichts besser ausgedrückt werden als durch den Titel dieser Biografie: „Ich bin nun mal Deutscher“.
Diese Haltung hielt ihn zeitlebens von zwei Übeln fern: von einem dummen Nationalismus, der sich über andere Nationen erhebt, aber gleichzeitig auch von einem irrationalen Hass auf die eigene Nation. Schon kurz nach seiner Emigration nach England machte er seinem englischen Publikum in seinem ersten Buch klar, dass die Deutschen keineswegs alle Nazis seien. Nur eine Minderheit seien sie:

Deutschland1939

Ihre enorme Macht erhielten die Nazis durch Hitler an der Spitze des Staates und die „loyalen“ Staatsbürger, die den Staat unterstützen, egal, was er tut. Gegen diese Neigung seiner Landsleute, sich Regierungshandeln eher zu fügen, als es mit eigenem Verstand kritisch zu prüfen und ggf. auch mutig in Frage zu stellen, hegte er seit seiner Erfahrung mit dem Hitlerismus eine intensive Abneigung.

Überlegungen zur Deutschen Geschichte

Seine Gedanken zur Deutschen Geschichte, die er in zahlreichen Büchern niedergelegt hat und ihm auch den Ruf einbrachten, ein ernsthafter Historiker zu sein, neigten nie der These zu, dass die Deutschen schlechtere Menschen seien als andere – ein wenig sehr zu obrigkeitstreu, gutgläubig und feige allerdings schon.
Die Frage, die ihn tief beschäftigte, war immer, ob und inwiefern das Reich, in dem er aufwuchs, das Deutsche Reich Wilhelms II., eine Fehlkonstruktion war und Hitler die „schlechtestmögliche Wendung“ (Dürrenmatt)  des Deutschen Reiches.
Die Schlüsselfigur zum Verständnis dieses Reiches war natürlich Bismarck. Diesen Staatsgründer sah er anfangs in „Germany: Jekyll & Hyde“ sehr kritisch, milderte später aber sein Urteil in dem Maße, wie er anerkennend[2] feststellte, dass Bismarck selbst von großen Bedenken über die Haltbarkeit dieses Reiches geplagt wurde und genau deshalb bis zur Abdankung 1890 eine äußerst vorsichtige Politik betrieb.
In seinem Buch „Von Bismarck zu Hitler“ finden sich dazu mindestens zwei bemerkenswerte Passagen. Zunächst berichtet Haffner Bismarcks Zögerlichkeit, den 1866 gegründeten Norddeutschen Bund auf Süddeutschland auszudehnen:

„Ich spreche das Wort Norddeutscher Bund unbedenklich aus, weil ich es, wenn die nötige Konsolidierung des Bundes gewonnen werden soll, für unmöglich halte, das süddeutsch-katholisch-bayerische Element hinzuzuziehen. Letzteres wird sich von Berlin aus noch für lange Zeit nicht gutwillig regieren lassen.“

Dann ein Zitat Bismarcks, mit dem der sich 1871 an den französischen Geschäftsträger in Berlin wandte:

„Einen Fehler haben wir begangen, indem wir euch Elsass-Lothringen wegnahmen, wenn der Friede dauerhaft sein sollte. Denn für uns sind diese Provinzen eine Verlegenheit, ein Polen mit Frankreich dahinter.“

Für mich als romanophilen Süddeutschen sind das tiefe Einblicke:
Der kluge Preuße Bismarck hatte Angst vor dem Limes, einer kulturhistorischen Grenze weitgehend unterschätzter Mächtigkeit. Und der kluge Preuße Haffner hat das richtig erkannt.

Haffner und die Spiegel-Affäre

Seine Abneigung gegen den Autoritarismus wurde nach seiner Heimkehr nach Deutschland erstmals wieder in der Spiegel-Affäre 1962 heftig aktiviert: Haffner gehörte zu den schärfsten Kritikern von Strauß und Adenauer. Als seine konservativen Zeitungen diese Kritik so nicht drucken wollten, verbreitete er sie kurzerhand über andere Kanäle und überwarf sich nicht nur mit seinen Blättern, sondern mit einem erheblichen Teil des konservativen journalistischen Spektrums. Er erinnerte sich daran, dass viele von ihnen bereits in der NS-Zeit staatliches Handeln publizistisch unterstützt hatten, und wandte sich mit Grausen von ihnen ab. Er war bisher zwar ein kalter Krieger gewesen und blieb ein Konservativer und Antikommunist, aber damit wollte er dann doch nichts zu tun haben. Die zeitweilige Stilllegung der Spiegel-Redaktion hielt er für einen massiven Angriff auf die Pressefreiheit, den er nur aus Prinzip bekämpfte.
Denn den Spiegel selbst mochte er eigentlich gar nicht, weder seine journalistische Arbeit, noch seine Sprache. Angebote des ihm dauerhaft dankbaren Rudolf Augstein, für den Spiegel zu arbeiten, lehnte er deshalb beharrlich ab.

Später äußerte er über seine Rolle die Ansicht, dass er in der Spiegel-Affäre wahrscheinlich zu viel für den Spiegel und seine Aufwertung in der öffentlichen Meinung getan habe.

Haffner und der demokratische Machtwechsel

Nach der Spiegel-Affäre überdachte er seine Haltung zu Adenauer. Neben seinem autoritären Auftreten, das sich eben in der Affäre deutlicher als je zuvor gezeigt hatte, ärgerte er sich auch über Adenauers Kühle gegenüber England, die er „als  gegenüber einem Verbündeten gerade noch erträglich“ beschrieb und die einen starken Kontrast bildete zu Adenauers Beziehungen zu den USA und zu Frankreich.
Haffner schrieb laut Biograph über den fälligen Abgang Adenauers:

„Eine Regierungskrise ist etwas Gesundes, eine Staatskrise etwas Todgefährliches. Ja, man könnte weitergehen und sagen: Regierungskrisen sind das von der Demokratie bereitgestellte Mittel, Staatskrisen zu vermeiden.“ Eine Staatskrise wäre gegeben, wenn die Regierung ohne jede personelle Konsequenzen weiterregieren würde. Dann wäre „das allgemeine Vertrauen der Bürger in die Verfassungsgrundsätze der Gewalten- und Kompetenzenteilung, der Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht, des Ausschlusses jeder Gewalt- und Willkürherrschaft“ nicht mehr intakt. Die Bürger müßten sich fragen: „In was für einem Staat leben wir eigentlich?“

Urteilen Sie selbst: Sind diese Sätze nicht wie geschrieben für die heutige Merkel-Krise?

Sympathie für Brandt, Kritik an der SPD

Ein weiterer Grund für seine Entfremdung von den Konservativen war seine Sympathie für Willy Brandt, dessen Ambitionen auf die Kanzlerschaft er bereits vor der Spiegel-Affäre journalistisch wohlwollend begleitet hatte. Verstärkt wurde dieses Wohlwollen durch die polemischen Angriffe von CDU-Wahlkämpfern auf die Emigrationsgeschichte Willy Brandts. Der Emigrant Haffner solidarisierte sich mit Brandt und entfremdete sich stärker den Daheimgebliebenen, mit denen er seit 1956 konstruktiv und ohne Vorwürfe zusammengearbeitet hatte.
Später scheute er sich aber nie, die SPD und ihre Politiker hart zu kritisieren, sei es wegen des Verhaltens der Berliner Stadtregierung während der Studentenunruhen, wegen der Notstandsgesetze oder des Radikalenerlasses. Zu den Notstandsgesetzen  schrieb er:

„Diese Politik „entspricht im übrigen völlig den eingeschleiften SPD-Traditionen von 1914, 1918 und 1932. Wer von der SPD anderes erwartet hatte, ist selber schuld. Unerwartet, und ein bisschen peinlich, war höchstens das Pathos, mit dem Brandt nachträglich versicherte, gegen den Missbrauch der Notstandsverfassung werde die SPD auf die Barrikaden gehen. Die SPD wird niemals auf die Barrikaden gehen, und übrigens wären diese verfetteten älteren Herrschaften dort auch zu gar nichts nutz. Ihr Kampfplatz, wo sie zu etwas nutz hätten sein können, war das Parlament, und dort haben sie, wie immer, den Pass verkauft.“

Er beobachtete die autoritären Züge der SPD-Politik mit scharfen liberalen Augen, auch rückblickend in seinen historischen Büchern. Insbesondere den Verrat der SPD 1914 an ihrem pazifistischen Programm und den Verrat an der Revolution von 1918/19 geißelte er scharf. Sein Buch über die Revolution hieß zunächst „Der Verrat“, später „Die verratene Revolution“, dann schließlich „Die dt. Revolution 1918/19“. Insbesondere der SPD-Säulenheilige Friedrich Ebert kam da nicht gut weg. Aber auch die SPD von 1933, die sich bis heute als Kämpfer gegen den Nazismus feiert, hielt er schon in seinem Werk von 1939 für ebenso bankrott wie alle übrigen Parteien. Von der Exil-SPD in London um Erich Ollenhauer hielt er schon während des Krieges extrem wenig, und sie mochten ihn auch nicht.

Haffner und die 68er

Durch seine harte Kritik am 2. Juni 1967 wurde Haffner so etwas wie eine bürgerliche Ikone der Studentenbewegung. Insbesondere durch diese im „Stern“ veröffentliche Polemik wurde er aber auch zur „persona non grata“ bei den staatstragenden deutschen Konservativen. Er unterstützte tatsächlich die Studentenbewegung in dem Maße wie sie auch liberale und seine Themen ansprach. Sein Verständnis endete aber sehr hart dort, wo es in den Terrorismus der RAF hineinging:

Ja, auch ich habe Ulrike Meinhof ein bisschen gekannt[3] und zu Zeiten ganz gerngehabt. Mit Politik hat das alles nichts zu tun. Gut, auch der junge Stalin hat Raubüberfälle verübt, um die Partei zu finanzieren, aber wo ist hier die Partei? Gut, in jeder Revolution geschehen Gewalttaten, aber wo ist hier die Revolution?… Baader, ein deutscher Mao? Eher ein deutscher Mackie Messer.[4]

Haffner war empört darüber, wie die RAF die gesamte Linke diskreditierte. Wer ein wenig über die RAF, ihre merkwürdigen Personen und Hintergründe gelesen hat, mag ermessen, wie tief er damit schon 1972 schürfte.

Haffner und die deutsche Wiedervereinigung

Ab 1990 lag er, von der Öffentlichkeit nur noch wenig beachtet, sehr überkreuz mit dem weltpolitischen Umbruch und der Wiedervereinigung Deutschlands. Insbesondere die wirtschaftliche Vereinigung mit der Einführung der D-Mark hielt er (ähnlich wie der damalige Kanzlerkandidat der SPD, Oskar Lafontaine) für einen Fehler, der zu einer riesigen Arbeitslosigkeit führen würde. Jenseits der praktischen Bedenken plagte ihn aber die Frage, ob ein großes Deutschland, in Europa ähnlich übermächtig wie das Deutsche Reich, das er intensiv studiert hatte, wieder zu ähnlichen Problemen führen würde wie damals[5].

Seine Kritik machte auch vor Michael Gorbatschow nicht halt:

„Gorbatschow ist ein russischer Linksintellektueller, so wie hier unsere linksliberalen Intellektuellen, die im Grunde genommen so denken wie die Redaktion der ‚Zeit‘ und damit kann man keine Supermacht regieren“

Und diese Kritik machte sich auch Vorbehalte zu eigen, wie sie zum Beispiel in England und Frankreich gegenüber der dt. Wiedervereinigung bestanden:

„Es ging sehr gut mit den zwei Deutschland. Wenn wir die nicht mehr haben, weiß ich nicht weiter.“

Auf Einwände, dass er mit seinen Befürchtungen ziemlich allein dastehe, antwortete Haffner:

„Das bin ich gewohnt“

Ich muss mich hier outen: ich gehörte damals ebenfalls zur Lafontaine/Haffner-Fraktion und war eher unglücklich mit der Wiedervereinigung, vor allem aber mit dem Umzug der Bundeshauptstadt nach Berlin. Das war eine weitere Altlast Adenauers: Hätte er die Hauptstadt nicht aus privaten Gründen nach Bonn bestimmt, hätte Frankfurt am Main die historisch begründete Hauptstadt Westdeutschlands werden müssen. Und von dort wäre sie womöglich nicht mehr nach Berlin umgezogen!

Fazit

Haffner war ein großartiger Publizist und politisch-historischer Denker mit einem freien, nonkonformistischen und unideologischen Kopf. Als solcher schaffte er es wie andere große Köpfe, gleichzeitig Emigrant und Heimkehrer, Deutschlandkritiker und ohne Zweifel Patriot zu sein.

Jedem der das Bedürfnis hat, das Kleinklein, die Parteilichkeit und die Wirren der Gegenwart zu verlassen, um darüber zu lesen, was auf Dauer wirklich wichtig ist, kann ich dieses gebraucht sehr günstig erhältliche Buch eines guten Autors nur wärmstens empfehlen.

[1] Uwe Soukup ist ein eher linksorientierter Publizist, der sich inzwischen u.a. mit Büchern zum 2. Juni 1967 hervorgetan hat und mit Haffner über das Thema der ‚verratenen‘ Revolution von 1918/19 Anfang der 90er Jahre in Kontakt gekommen war. Er hat einige Bücher Haffners erneut herausgegeben, u.a. hat er das brillante ‚Germany: Jekyll & Hyde‘ von 1940 erstmals auf Deutsch herausgebracht. Er besticht durch die große Sachlichkeit, mit der er gleichermaßen Haffners konservative Grundhaltung und seine (liberal motivierte) Parteinahme für die Linke behandelt.

[2] In dieser Anerkennung für Bismarcks Klugheit trifft er sich mit der Bewunderung meines Lieblingshistorikers und -sozialwissenschaftler Emmanuel Todd für Bismarck.

[3] Haffner hat Beiträge für ‚konkret‘ geschrieben

[4] Kolumne im Stern aus dem Februar 1972 über Andreas Baader

[5] Eine erneute Parallele zu den Überlegungen Emmanuel Todds

Gelesene lesenswerte Bücher
AnmerkungenZuHitlerJekyll&HydeVonBismarckZuHitler

Weitere wahrscheinlich lesenswerte Bücher

DieSiebenTodsündenDieVerrateneRevolutionGeschichteEinesDeutschenSelbstmordDesDtReichesPreußenOhneLegendeChurchillÜberlegungenWechselwählerTraurigerPatriotBiographieSchmied

Update 26.3.2018

Ich bin gerade wieder über einen Blogbeitrag von Jörg Lau gestolpert, den ich vor 8 Jahren gelesen habe, damals als regelmäßiger Leser und Kommentator auf seinem Blog. Es ging um Haffners Ansicht und Weitsicht von 1980 über Europas Interessen im Afghanistan-Konflikt:
Ob die Amerikaner in ihrem eigenen Interesse richtig gehandelt haben, als sie den russischen Einmarsch in Afghanistan, ein mit Amerika nicht verbündetes Land, mit wirtschaftlichen und sportlichen Sanktionen beantwortet haben, ist nicht unsere Sache zu entscheiden; wir sind nicht gefragt worden. Denkbar gewesen wäre auch eine ganz andere amerikanische Reaktion, bis hin zu einem russisch-amerikanischen Zusammenwirken. Denn schließlich haben es die Russen in Afghanistan mit demselben Gegner zu tun wie die Amerikaner im benachbarten Persien, nämlich einem wiedererwachten, ebenso antiwestlichen wie antiöstlichen, militanten islamischen Glaubensfanatismus; und ein gemeinsamer Gegner, sollte man meinen, legt eher Allianz nahe als Konflikt. Wie auch immer, dieser Konflikt ist nicht unser Konflikt. Afghanistan ist nicht unser Verbündeter, un wir sind kein Weltpolizist. Wir sind in Afghanistan nicht einmal ideologisch engagiert. In dem ideologischen Konflikt zwischen dem Kommunismus und der westlichen Demokratie sind wir Partei; aber zwischen Kommunismus und Islam sind wir neutral. Wenn Amerika glaubt, in diesem Konflikt Partei nehmen zu sollen, ist es seine Sache, nicht unsere. Unser klares Interesse – ein wirkliches Lebensinteresse – ist, zu verhindern, daß die mittelöstlichen Wirren auf Europa übergreifen; und es trifft sich gut, daß sich dieses Interesse mit dem ganz Europas deckt – ganz Europas: unserer westeuropäischer Partner sowohl wie der osteuropäischen Verbündeten Rußlands.

Update 11.9.2018
Im Urlaub habe ich jetzt auch dieses Buch gelesenDieSiebenTodsünden. Sehr lesenswert!
Und heilsam für alle, die glauben, Deutschland habe keine Chance gehabt, den unseligen 1. Weltkrieg gegen Russland, Frankreich und England zu vermeiden.
Haffner führt aus, dass die politische Führung, die den Krieg gegen England vermeiden wollte, von den Militärs kalt erwischt wurde, die seit 1913 nur noch den Schlieffenplan hatten, und damit die Neutralität von Englands Vorfeldstaat Belgien verletzen mussten: fahrlässiges Informationsproblem / Militär-Eigenmächtigkeit.
Andererseits hätte ein Deutschland, das England in der Weltpolitik herausfordern wollte (Flottenrüstung) sich dringend mit Frankreich über Elsaß-Lothringen verständigen müssen. Man wollte zu viel und war nicht in der Lage, zu wählen und für die Präferenz auch Verzicht zu üben und innenpolitisch zu vertreten. Derselbe unempathische Größenwahn, den man auch in der Europolitik seit 2010 wieder beobachten kann: das Hineindenken in die verständlichen Interessen der anderen und das flexible Dealen um eine möglichst gute Zukunft funktionieren einfach nicht im gleichen Maß wie die Ausübung nackter Macht.

Nachtrag 7.1.2019
Eine Rezension von Soukups Buch von Arnulf Baring.

Anmerkungen zum 2. Juni 1967

Genau heute vor 50 Jahren wurde Benno Ohnesorg erschossen, ein Ereignis, das die Bundesrepublik gespalten und sehr viel Unheil angerichtet hat. BuchSoukupIch habe damals gerade laufen gelernt und brauchte dann diese 50 Jahre, um die epochale Bedeutung, die Zerstörungskraft dieses Ereignisses wirklich zu erfassen. Erstaunlicherweise haben auch die Älteren, die Zeitzeugen, diese 50 Jahre benötigt, um sich auf eine mehr oder minder einheitliche und versöhnliche Sicht zu verständigen.

Diese Dokumentation der ARD bietet in knapp 45 Minuten einen sehr guten Einstieg in die eigentlichen Ereignisse. Der Buchautor Uwe Soukup, der auch den ARD-Film unterstützt hat, berichtet im Gespräch mit Ken Jebsen viele Details zum Fall und seinen Recherchen, wie immer etwas länger und über die eindeutig beweisbaren Fakten hinausdenkend, aber in jedem Fall ebenfalls sehr sehenswert.

Benno Ohnesorg wurde ermordet, das Recht gebeugt

Es gibt nur noch wenige Zweifel an diesen Fakten:
Der Student Ohnesorg war kein Gewalttäter. Er wurde eiskalt und grundlos ermordet, durch den Schuss und nochmals durch Verweigerung einer zügigen Rettung. Alle Zeugen, die das bestätigen konnten, wurden überhört. Die Polizisten haben ihre Aussagen abgesprochen und vor Gericht gelogen. Die Mediziner haben Beweise manipuliert. Sachbeweise sind verschwunden. Das Recht wurde in einer kollektiven Aktion gebeugt, der offensichtliche Mörder zwei Mal freigesprochen.
Auch im konservativen politischen Spektrum ist diese Einsicht inzwischen angekommen: FAZ, Tichys Einblick (Wolfgang Herles)

Einer hat es gleich gesagt: Sebastian Haffner

Im Zusammenhang mit diesen Berichten bin ich auf eine wütende Anklageschrift gestoßen, die Sebastian Haffner damals zeitnah im „Stern“ veröffentlicht hat, um die ganze Sauerei beim Namen zu nennen. Er hat den Nagel nicht nur auf den Kopf getroffen, sondern sich auch frech geweigert, die Studenten in gleicher Weise verantwortlich zu machen wie den Staat. Respekt!
Sebastian Haffner hat dieses kleine Buch über Hitler geschrieben, das mich vor 30 Jahren gefesselt hat, weil es so kurz und außer der Reihe war. Er war ein Mann mit einer blitzsauberen Weste, was den Nationalsozialismus angeht. Er ist vor dem Krieg nach England emigriert, und hat dort ein Buch geschrieben, um die britische Öffentlichkeit über das nationalsozialistische Deutschland zu informieren. Eine der zentralen Aussagen dieses Buches ist diese:
Deutschland1939

Dieses Buch mit Haffners Sicht von 1939 auf Deutschland soll Churchill zur Pflichtlektüre für sein Kriegskabinett gemacht haben.
Man muss sich fragen, ob diese Grafik nicht auch Konstanten über den Nationalsozialismus hinaus enthält. Haben Vertreter der ungefähr 40% dem Staat bedingungslos loyalen Bevölkerung, die vor allem im Staatsapparat selbst überrepräsentiert sein dürften, im Fall Benno Ohnesorg wieder staatliche Verbrechen gedeckt? War die harte Opposition auch im Jahr 1967 nur eine winzige Minderheit im Bereich von 5%? Vermutlich. Aber diese kleine Minderheit wurde von der Springer-Presse so lange zum Monster hochgeschrieben, bis buchstäblich jedes Verbrechen gegen einen einzelnen unbewaffneten Studenten vorstellbar und verteidigungswürdig wurde. Daher der Vorwurf des „Pogroms“ durch Haffner. Eine ganz andere Frage, die diesen Blogbeitrag übersteigt, ist es, warum der gemutmaßte Anteil von Nationalsozialisten in der Deutschen Bevölkerung später weit über die 20% des Emigranten Haffner hinausgewachsen ist.

Und derselbe Haffner, der 1967 die Studenten verteidigt hat, hat in diesem Buch mit dem Titel „Der Verrat“ auch die Rolle der SPD im Jahr 1918/19 kritisch unter die Lupe genommen. Er war kein entschiedener Linker, sondern ein liberaler Demokrat und Wechselwähler.  Die in Berlin regierende SPD hat ja auch im Fall Ohnesorg versagt und sich (einmal mehr) auf die Seite der etablierten Machtstrukturen, des Apparats geschlagen, wie 1914 und wie 1918/19.

Hut ab: dieser Haffner hat eine verdammt gerade Furche für einen liberalen Rechtsstaat gezogen! Dabei hat er die gnadenlose und blutrünstige Hetze der Springer-Presse („Amoklauf“-Artikel der Berliner Zeitung von 20.6.1967) und die autoritären Untertanen im Staatsapparat (Strafantrag gegen Haffner aus der Berliner Polizei) gegen sich gehabt.

Die Studenten hatten gute Gründe

Eine Konstante der Erzählungen der Studentenbewegung ist die ungeheure Radikalisierung durch den Mord an Benno Ohnesorg. Diese Radikalisierung ist verständlich, denn der ungesühnte Mord musste den Glauben an Rechtsstaat und Demokratie erschüttern und denjenigen Auftrieb geben, die einen bewaffneten Kampf vorantreiben wollten.
Aber es muss auch die Frage gestellt werden, ob diese Radikalisierung nicht auch das Ziel derjenigen war, die das Pogrom vom 2. Juni und die Rechtsbeugung offensichtlich gezielt organisiert hatten. Wer die Studenten gezielt durch Unrecht radikalisierte, konnte hoffen, auch ihre berechtigten Klagen und Ziele zu diskreditieren.
Jedenfalls ist es Unsinn, dass die Studentenbewegung von 1967/68 nur Spinner waren, die an allem Unglück schuld sind, das sich seither entwickelt hat. Diese Bewegung hatte zunächst neben weniger guten auch gute Gründe, sich zu empören, und in ihr wohnte ohne jeden Zweifel anfangs der Zauber einer jungen Freiheit und eines großen, ehrlichen Aufbruchs, der aber mit Gewalt zerstört worden ist.

Der Weg vom 2. Juni über die RAF zum Deutschen Herbst

Vom Mord am 2.Juni 1967 führte eine direkte Linie zum Terror von 1977. Diese Linie, zunächst über die „Bewegung 2. Juni“ und dann die RAF hat niemand plastischer beschrieben als Bommi Baumann, u.a. in diesem großartigen Interview (Langversion: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6). Allein seine Berliner Schnauze machen dieses Interview zu einem Erlebnis.
Aber auch Baumanns Aussagen haben es in sich und bestätigen das, was u.a. Michael Buback so bravourös herausgearbeitet hat: es muss eine Zusammenarbeit gegeben haben zwischen dem Staat, der den Mord an Benno Ohnesorg gedeckt hatte, und den Terroristen, die durch diesen Mord radikalisiert worden waren.

Aus einer Verschwörungstheorie kann Wahrheit werden

Dass Benno Ohnesorg ermordet worden sei, war bis 2009 eine sogenannte „Verschwörungstheorie“. Die Tatsache konnte also geleugnet werden mit dem Argument, dass sie sowieso nur den linksradikalen Spinnern nützt und deshalb falsch sein muss. Ein sehr aufschlussreicher Text von Heribert Seifert hat sich noch im Jahr 2001 in diesem Stil an Sebastian Haffners Parteinahme für die Studenten abgearbeitet und ihn als gutgläubigen Trottel mit in den linksradikalen Dreck gezogen.
Das änderte sich 2009 schlagartig dadurch, dass allgemein bekannt wurde, dass Karl-Heinz Kurras ein Stasi-Spitzel war. Nun konnte die Schuld am Tod von Kurras irgendwie auf die untergegangene DDR abgeschoben und damit der Mord leichter zugegeben werden. Die Gegenwehr der bundesdeutschen Staatsschützer hat also nachgelassen, so dass diejenigen ihre gut begründete Ansicht durchsetzen konnten, die schon immer von einem Mord ausgegangen waren.
Auf diesem Weg ist letztlich aus einer ehemaligen Verschwörungstheorie die heutige Wahrheit im Fall Benno Ohnesorg geworden, die in der ARD gesendet wird.

Fazit

Es ist vernünftig, in einem Fall wie dem Tod von Benno Ohnesorg dem Staat zu misstrauen und auch dann genauer hinzuschauen wenn man der Bewegung des Opfers nicht viel abgewinnen oder Fehler und Radikalisierung vorhalten kann. So wie es Sebastian Haffner 1967 gemacht hat.
Eine Bewegung, die von radikalen und sehr unangenehmen Figuren übernommen wird, kann ursprünglich legitime Ziele gehabt haben. Wer dieser bereits vor gewalttätigen Auswüchsen in der Breite die Dialogfähigkeit abspricht, wie es die Springer-Presse im Berlin des Jahres 1967 getan hat, könnte auf ein Pogrom wie das vom 2. Juni 1967 hinarbeiten. Solche Leute müssen heute nicht unbedingt bei der Springer-Presse sitzen. Hetzer und Hassprediger gibt es auch in anderen Redaktionen. Und Gewalt könnte ihnen hochwillkommen sein, um nicht Gewalttäter fertigzumachen, sondern jeden, der es wagt, sich über reale Probleme und Fehlleistungen des Staates zu beklagen: solchen von den 40 oder sogar den 20% aus Haffners berühmter Tabelle.

Nachtrag 2.8.2017
Thilo Sarrazin hat im Cicero sein Urteil über die 68er gesprochen. Es ist das Urteil eines autoritären Reaktionärs: undifferenziert und in voller Ignoranz der Punkte, in denen die Beschuldigten einfach Recht hatten, verteidigt Sarrazin umstandslos alles am Status Quo, wogegen die Studentenbewegung stand. Sarrazin zeigt sich so als der Prototyp des autoritären preußischen Sozialdemokraten, der Sebastian Haffner so verdächtig war.

Nachtrag 11.4.2018
Nach intensiverer Beschäftigung mit dem Lebenswerk Sebastian Haffners habe ich einen Beitrag dazu geschrieben. Interessanterweise begegnet man dort auch wieder dem Autor Uwe Soukup, der das Buch über den 2. Juni geschrieben hat.