Erfindung Europas: Dänemark

Übersetzung aus dem Buch “L’invention de l’Europe” von E. Todd
Tod der Religion, Geburt der Ideologie
Kapitel 12: Die Freiheit allein

Dänemark

Die absolute Kernfamilie hält ganz Dänemark besetzt mit Ausnahme des äußersten Südens von Jütland (Nord-Schleswig) und einigen Inseln des Südens, wo die Stammfamilie identifiziert werden kann. Es handelt sich also um eine ziemlich homogene Nation auf anthropologischer Ebene, deren Einheit natürlich durch die Insellage bewahrt bzw. geschaffen worden ist. Dänemark ist eine Ansammlung von Inseln zwischen Schweden und Deutschland. Selbst die Halbinsel Jütland, die lange Zeit durch Sümpfe vom Kontinent abgeschnitten war, kann als eine Art Insel angesehen werden. Das ideologische Schicksal dieser kleinen Nation wird also durch zwei fundamentale und widersprüchliche Faktoren entscheidend beeinflusst. Der dänische anthropologische Untergrund, die absolute Kernfamilie, führt zu rein liberalen Konzeptionen; der kulturelle Druck der beiden großen Nachbarn des Südens und Nordens, die zur selben lutherischen Sphäre gehören, aber von der Stammfamilie dominiert werden, hält den Ausdruck dieser liberalen Tendenzen im Zaum. Oberflächlich betrachtet erscheint Dänemark wie Schweden oder Sachsen von sozialdemokratischer Tradition. Die Detailanalyse der dänischen Geschichte und des dänischen politischen Lebens bringt dort aber die Bedeutung liberaler Verhaltensmuster ans Licht, so dass man im Falle dieses Landes von „Liberalismus mit sozialdemokratischer Fassade“ sprechen kann.

Religion und Freiheit

In Dänemark sind die ersten Bekundungen der Freiheit wie in England und Holland religiös. Solide in die autoritäre lutherische Welt eingeschlossen und wenig entwickelt nehmen die dänischen Inseln im 17. Jahrhundert nicht an der liberalen Mutation des Arminianismus teil. Bis zum 18. Jahrhundert erscheint die dänische Kirche als eine klassische lutherische, para-staatliche Bürokratie, die sich um die Alphabetisierung ihrer Getreuen bemüht, aber in keiner Weise die Begriffe von Hierarchie und Disziplin in Frage stellt. Die protestantische Erweckung vom Beginn des 19. Jahrhunderts ist aber in Dänemark nicht wie in Norddeutschland oder selbst in Schweden ein randständiges Phänomen, das höchstens zur Entstehung von einigen Sekten führt, die besonders im extremen schwedischen Norden bei den Lappen einflussreich waren[1]. In Dänemark führt die antirationalistische und populäre religiöse Bewegung, deren Symbol der Theologe und Dichter Grundtvig war, zu einer Neuordnung der gesamten Kirche in einem anti-autoritären Sinne. Im Jahr 1855 erlangen die dänischen Bauern das Recht, ihre Pastoren zu wählen[2]. Die traditionelle lutherische Mechanik löst sich auf. Die Entchristlichung, die am Anfang der 1880er Jahre beginnt, lässt den Liberalismus aus dem religiösen in den sozialen und politischen Bereich überwechseln.

[1] Zu den protestantischen Erweckungen in Skandinavien: K. Suolimna, „The popular revival movements“ in Nordic Democracy, S. 598-608. Zu Laestadius und den Lappen: C. Mériot, Les Lapons et leur société, S. 275-325

[2] J.-J. Fol, Les Pays nordiques aux XIXe et XXe siècles, S. 116

Eine liberale Bauernschaft

Am Ende des 19. Jahrhunderts ist Dänemark wie Schweden, Norwegen und Finnland noch eine Nation von Bauern. Die metaphysische Leere, der auf eine Phase intensiver liberaler religiöser Aktivität folgt, führt dort praktisch sofort zu einer ideologischen Mobilisierung der Bauernschaft. So gut wie überall werden Volkshochschulen gegründet; die ländlichen Gemeinschaften statten sich spontan mit Kooperativen aus[1].  In einigen Jahren strukturiert sich die dänische Landwirtschaft um, sie gibt die Getreideproduktion auf und wird ein starker Exporteur von Milchprodukten. Die Industrialisierung ist verzögert und langsam. Dänemark ist ein einzigartiges Beispiel eines wirtschaftlichen Abhebens, das fast ausschließlich auf dem landwirtschaftlichen Fortschritt begründet ist. Die dänischen Bauern werden, ebenso wie die englischen Industriellen, entschiedene Anhänger des Freihandels. Damit bringen sie ebenso sehr ihr liberales Temperament zum Ausdruck wie ihr wirtschaftliches Interesse. Man kann sich sogar fragen, ob in Dänemark die Unterstützung der Bauernschaft für den Liberalismus nicht der Umstrukturierung der Landwirtschaft vorausging und ob die Exportorientierung nicht eine praktische Konsequenz der ideologischen Ausrichtung ist.

Das Netzwerk der Volkshochschulen und der Genossenschaften erlaubt ab 1880 überall auf dem dänischen Land die Implantierung  der liberalen Partei[2], der Venstre (die „Linke“). Am Ende des 19. Jahrhunderts ist der Liberalismus in Dänemark nicht wie in Deutschland und Schweden eine bürgerliche Doktrin in der Minderheit, eine näherungsweise Imitation der triumphierenden Liberalismen von England und Frankreich. Der dänische Liberalismus schlägt Wurzeln und wird die politische Ideologie der ländlichen Welt. Das ist eine ganz normale politische Ausrichtung im Milieu der absoluten Kernfamilie.  Die Namensgebung der liberalen Partei als „Die Linke“, entstanden um die Rechte (Højre) zu bekämpfen, gibt in Dänemark wie in England die Existenz eines starken und natürlichen dualistischen Bewusstseins preis, das sich der Einstimmigkeit der autoritären und  monolithischen Gesellschaften des deutschen und schwedischen Typs entgegenstellt. Der Liberalismus kann nur funktionieren, wenn die Aufspaltung der Meinungen als ein normales Phänomen anerkannt wird. Die Konzepte von Links und Rechts institutionalisieren die Mechanik der Aufspaltung in Parteien und folglich den Liberalismus, selbst wenn sich die „links“ genannten Parteien in Dänemark wie im Frankreich der III. Republik letztlich auf der rechten Seite des politischen Schachbretts ansiedeln.
In Dänemark dominiert der Liberalismus die politische Landschaft bis gegen 1913, als die Sozialdemokratie sich als die stärkste der Parteien herausbildet[3]. Das dänische politische System wird jedoch niemals seiner liberalen Matrix entkommen.
Die Venstre ist unzweideutig eine bäuerliche Partei. Noch 1971 lässt die Karte ihrer Wahlergebnisse eine charakteristische Dominanz im westlichen Teil Jütlands erkennen, in den am dichtesten landwirtschaftlichen Zonen (Karten 74a und 74b). Die Venstre lässt es niemals daran fehlen, den landwirtschaftlichen Freihandel zu unterstützen. Diese Haltung manifestiert sich ab Anfang der 1960er Jahre in einem Willen, dem (Anm. des Übersetzers: europäischen) Gemeinsamen Markt beizutreten. Die Venstre ist jedoch keine agrarische Partei, die entstanden ist, um die Interessen einer bestimmten sozialen Klasse zu vertreten. Diese Partei definiert sich durch eine liberale politische Doktrin, die von der Bauernschaft angenommen wird. Sie ging historisch der Entstehung der anderen dänischen Parteien voran, insbesondere derjenigen der Sozialdemokratie.

In Schweden und in Finnland, wo man seit der Zwischenkriegszeit bedeutende bäuerliche Bewegungen findet, kann man von agrarischen Parteien sprechen. Ihr Machtgewinn verläuft zögerlich in den 1920er Jahren als Reaktion auf die Gründung der sozialistischen Bewegung, die sich wesentlich als Arbeiterbewegung betrachtet, selbst wenn das Proletariat wie in Finnland praktisch nicht existiert. Die schwedischen und finnischen Agrarier definieren sich auch durch ihre Ablehnung des bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts und ihr Auftauchen führt tatsächlich zur Schwächung oder Auslöschung des liberalen Einflusses im bäuerlichen Milieu. Die historische Abfolge, die erlaubt die Liberalen, Sozialisten und Agrarier in den skandinavischen Ländern zueinander in Beziehung zu setzen, ist entscheidend. In Schweden und Finnland, Ländern mit autoritärer Tradition (Stammfamilie bzw. Gemeinschaftsfamilie), die gleichzeitig sehr bäuerlich und stark alphabetisiert sind, ist die Bauernbewegung eine Konsequenz der Arbeiterbewegung. In Dänemark fügt sich die Bauernbewegung unabhängig vom sozialistischen Phänomen in die Kontinuität des bürgerlichen Liberalismus ein.

Dänemark: Wahlen zum Folketing (1929-1988)
Anteil der abgegebenen Stimmen (in %)
Kon-ser-vative Venstre Radi-cale Venstre Sozial-
demo-
kraten
Volks-sozia-listen Sozia-listi-sche
Linke
Kom-mu-nisten Fort-schrittspartei
1929 16,5 28,3 10,7 41,8 0,3
1932 18,7 24,7 9,4 42,7 1,1
1935 17,8 17,8 9,2 46,1 1,6
1939 17,7 18,2 9,5 42,9 2,4
1943 21,0 18,7 8,7 44,5
1945 18,2 23,4 8,1 32,8 12,5
1947 12,4 27,6 6,9 40,0 6,8
1950 17,8 21,3 8,2 39,6 4,6
1953-I 17,3 22,1 8,6 40,4 4,8
1953-II 16,8 23,1 7,8 41,3 4,3
1957 16,6 25,1 7,8 39,4 3,1
1960 17,9 21,1 5,8 42,1 6,1 1,1
1964 20,0 21 5,3 42,0 6,0 1,3
1966 18,7 19,3 7,3 38,2 10,9 0,8
1968 20,4 18,6 15,0 34,2 6,1 2,0 1,0
1971 16,7 15,6 14,3 37,3 9,1 1,6 1,4
1973 9,2 12,3 11,2 25,7 6,0 1,5 3,6 15,9
1975 5,5 23,3 7,1 30,0 4,9 2,1 4,2 13,6
1977 8,5 12,0 3,6 37,1 3,9 2,7 3,7 14,6
1979 12,5 12,5 5,4 38,3 5,9 3,6 1,9 11,0
1981 14,4 11,3 5,1 32,9 11,3 2,6 1,1 8,9
1984 23,4 12,1 5,5 31,6 11,5 2,7 0,7 3,6
1987 20,8 10,5 6,2 29,3 14,6 1,4 0,9 4,8
1988 19,3 11,8 5,6 29,8 13,0 0,6 0,8 9,0
Quellen: für die Jahre 1929-1943 Statistisches Jahrbuch von Dänemark 1945; für die Jahre 1945-1988 spätere Ausgaben

[1] Zu den Volkshochschulen und den Genossenschaften zwischen 1870 und 1900: P. Manniche, Denmark a Social Laboratory, S. 41-135.

[2] Zur Entstehung der dänischen Parteien K.E.Miller, Government and Politics in Denmark, S. 57-94.

[3] Das Allgemeine Wahlrecht wird durch die Verfassung von 1915 eingeführt. Seit 1849 haben jedoch alle unabhängigen Individuen männlichen Geschlechts das Wahlrecht, eine Regel, die die Dienstboten ausschließt. Ohne vollständig repräsentativ zu sein, drücken die Wahlen vor 1915 die Haltungen des Volkes aus, nicht nur die Vorlieben der bürgerlichen Eliten.

Sozialistische Unentschiedenheiten

Der dänische Sozialismus wird im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts unter deutschem Einfluss geboren. Sein Programm von Gimle von 1876 folgt mit einem Jahr Abstand auf das von Gotha, das den wirklichen Beginn der deutschen Sozialdemokratie markiert. Man findet bei den dänischen Sozialisten eine marxistische Terminologie wieder, die eine Sozialdemokratie wie die anderen anzukündigen scheint. In Wahrheit stellt die europäische Ausdehnung des Sozialismus der dänischen  Kultur dasselbe Problem wie diejenige des Protestantismus dreieinhalb Jahrhunderte zuvor. Die geringe Größe des Königreichs erlaubt ihm nicht, sein liberales Temperament ganz und offiziell zum Ausdruck zu bringen. Dänemark übernimmt deshalb also die äußerlichen Formen der Sozialdemokratie, wie sie die äußerlichen Formen des Lutherismus akzeptiert hatte. Es kann es nicht besser machen, weil das kulturelle Gewicht Deutschlands lokal in beiden Epochen besonders stark war. Die Reformation folgt auf den deutschen Aufbruch des 15. Jahrhunderts; die Entwicklung der Sozialdemokratie fällt in der Zeit und im Raum zusammen mit dem machtpolitischen Aufstieg  des 2. Deutschen Reiches. Von Bismarck 1864 während des 2. Preußisch-Dänischen Krieges vernichtend geschlagen, der ihm zwei Fünftel seines Territoriums amputierte, ist Dänemark gezwungen, Deutschland ernst zu nehmen —  am Ende des 19. ebenso wie in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Es bleibt ihm nur übrig, bei der deutschen Welt die Sprache des Staatssozialismus auszuleihen, der sich von den autoritären Traditionen der Stammfamilie ableitet. Ab den 1930er Jahren tritt Schweden die Nachfolge Deutschlands als regionales Modell der staatlichen Integration an. Die Sozialdemokratie erringt dort die Vorherrschaft und ihre ökonomischen Erfolge, die zum Schluss ganz Europa beeindrucken, müssen das benachbarte Dänemark beeinflussen, das weniger Bevölkerung hat und weniger industrialisiert ist. Auf der Ebene der skandinavischen Welt gibt Schweden das Bild einer Großmacht ab oder zumindest das eines großen Bruders. Aber die Übernahme der äußerlichen Formen des sozialdemokratischen Rituals erstickt das dänische liberale Temperament nicht. Die wirklichen Mechanismen des politischen Lebens zeigen die Hartnäckigkeit der familiären Determinante.

Ermutigt durch die deutsche und schwedische Nähe in einer Zeit, in der die Gesamtheit der lutherischen Welt in den Staatssozialismus umzukippen schien, drängte sich die „Sozialdemokratie“ schnell als eine der bestimmenden Kräfte des dänischen politischen Systems auf. 1913 überholt ihr Wahlergebnis zum ersten Mal das der Liberalen, und in der Mitte der 20er Jahre wird die sozialdemokratische Partei klar die erste des Landes. Sehr schnell zeigt der dänische Sozialismus jedoch einen Hang zur ideologischen und politischen Gleichgültigkeit, die seiner englischen und holländischen Cousins würdig ist. Von 1909-1910 unterstützte die sozialdemokratische Partei die von der „radikalen Linken“ (Radikale Venstre) gebildete Regierung, einer Formation, die aus einer  fortschrittlichen Abspaltung von der liberalen Partei entstanden war. Sie tut es zwischen 1913 und 1920 noch ein Mal. In der Folge erlaubt die Tolerierung oder Stützung der radikalen Linken die Bildung sozialdemokratischer Minderheitsregierungen  oder Koalitionen von 1924-26, von 1929 bis zum Krieg, zwischen 1947 und 1950, zwischen 1953 und 1964[1].

Die Sozialisten dominieren das dänische parlamentarische Spiel, aber sie haben nicht wie ihre schwedischen  Gegenstücke eine Vormachtstellung. Die Rechte, die sich aus den liberalen und den konservativen Parteien zusammensetzt, ist nicht wie in Schweden an den Rand gedrängt. Sie bleibt eine mögliche Regierungskraft. Der Sozialismus ist in Dänemark in der Minderheit. Er erreicht 1935 in der Spitze 41,6% der abgegebenen Stimmen, um am Vorabend des Zweiten Weltkriegs auf Ergebnisse um 40% herum zurückzufallen. Die schwedische Sozialdemokratie erreicht 1932 46% der Stimmen und fällt vor 1973 niemals unter 45%. Zwei Mal überschreiten die schwedischen Sozialisten 50% der Stimmen, zuerst 1936 und 1940 und dann erneut 1968. Der Autoritarismus der Regionen der Stammfamilie nährt eine allgemeine Bereitschaft, dominierende politische Kräfte zu definieren, manchmal vorherrschende, seien sie sozialdemokratisch, christdemokratisch oder ethnozentrisch- nationalistisch. Die Schwelle von 45% der abgegebenen Stimmen, die von der ersten regionalen politischen Kraft erreicht und lange Zeit gegen eine fragmentierte Opposition gehalten wird, ist also einer der häufigen Indikatoren der Stammfamilie – ein Indikator, den man in Dänemark nicht findet. Mit einer ersten Kraft, die sich um die 40% bewegt, und einer regierungsfähigen Opposition definiert sich das Königreich Dänemark als ein fragmentiertes und liberales System, ein politisches Spiegelbild der absoluten Kernfamilie.
Wenn die schwedische Sozialdemokratie nicht die absolute Mehrheit erhält, kann sie auf die Unterstützung oder die wohlwollende Enthaltung von 3 bis 5% kommunistischer Stimmen zählen. Zu dieser erdrückenden Kraft muss häufig die der Agrarier hinzugerechnet werden,  die der Sozialdemokratie in der ganzen Zwischenkriegszeit näher steht als der Rechten. Der dänische Sozialismus muss seinerseits seine Verbündeten rechts von sich finden, im liberalen Lager. Die radikale Linke, seine institutionelle Verbündete während eines halben Jahrhunderts, gewährleistet seinen Regierungsvorrang, garantiert aber auch die Kontinuität der liberalen Tradition sogar im Inneren des sozialistischen Lagers. Die radikale Linke ist keine große Partei, aber ihre Anwesenheit und ihre fortwährende Rolle symbolisieren die liberale Natur des dänischen ideologischen Systems.

Die schwedische Sozialdemokratie ist dominant. Der dänische Sozialismus ist dauerhaft unter liberaler Aufsicht. In dem Maße, wie die Venstre im Allgemeinen schwerer wiegt als die dänische konservative Partei, kann man es so sehen, dass der Liberalismus zwischen 1920 und 1964 im Herzen des dänischen politischen Systems bleibt. Er kontrolliert die Linke und dominiert die Rechte.

Die absolute Kernfamilie ist nicht nur liberal, sie ist auch nicht egalitär und begünstigt folglich das Prinzip der Differenzierung. In einem Land, das einheitlich die absolute Kernfamilie vorweist (die  Ausnahme von Nordschleswig und der Insel Fünen außer Acht gelassen), einheitlich von lutherischer Tradition und einheitlich entchristlicht, können die sozialen Unterschiede zwischen Individuen nur ökonomisch sein. Die Bedeutung des Berufs bei der Definition des Status ist ein Gemeinplatz in der dänischen Soziologie. Die typisch dänische Gewohnheit, den Beruf eher als den Vornamen zu nutzen, um im Telefonbuch die alphabetische Reihenfolge der Individuen zu definieren, die denselben Familiennamen besitzen, macht die Bedeutung der sozio-ökonomischen Klassifikation offensichtlich[2]. Grundsätzlicher betrachtet, ist kein europäisches System politischer Parteien mehr ein Abbild der wirtschaftlichen Schichtung als das dänische: die Sozialdemokratie ist die Partei der Arbeiterklasse, die Venstre die der Bauern, die Konservative Partei die Partei der urbanen Mittelschichten[3] – vielleicht müsste die Radikale Venstre als die Partei der Kleinbauern und der Intellektuellen betrachtet werden. Dieses Zusammenfallen von Parteien und Klassen drückt sich auf der Ebene der Karten aus. Die Venstre ist stark in den landwirtschaftlichen Zonen mit mittelgroßen Höfen von Jütland (Karten 74a und 74b). Die Radikale Venstre ist ziemlich bedeutend auf den Inseln und entspricht also den alten Gebieten großer Güter, wo in unserer Zeit die Kleinbauern dominieren (Karten 75a und 75b). Die konservative Partei ist vor allem im urbanen Milieu, besonders im Ballungsraum Kopenhagen, vertreten (Karte 76b). Was die sozialdemokratische Partei angeht, ist sie gleichmäßig über das Staatsgebiet verbreitet wie die dänische Arbeiterklasse, weil sie einer diffusen Industrialisierung entsprungen ist, die auf der Nahrungsmittelindustrie und der Elektrotechnik gründet.

Man findet hier den englischen oder holländischen Mechanismus der Koexistenz in der Verschiedenheit wieder, der hier eher auf ökonomische Klassen als auf religiöse oder ethnische Gruppen angewendet wird. Diese Situation ist charakteristisch für eine Gesellschaft, die nicht an die Existenz eines universellen Menschen glaubt, der über die Erscheinungsformen der Religion, der Ethnie und der Klasse hinausreicht. Der Vergleich der dänischen und schwedischen Fälle erlaubt zu präzisieren, dass die liberale Eigenschaft des familiären und sozialen Systems die differenzierende Mechanik der inegalitären Eigenschaft noch betont. In Schweden trennt die Stammfamilie, die offen  inegalitär und autoritär ist, die Klassen, bringt aber ein Bestreben mit sich, die Gesellschaft vertikal zu integrieren. Sie begünstigt eine Liebe zum Staat, die gewiss die Gruppen dazu bringen kann, sich um seine Kontrolle zu schlagen, die sie aber auch in einer gemeinsamen Verehrung vereinen kann. In Dänemark unterscheidet die absolute Kernfamilie die Gruppen durch ihre nicht-egalitäre Eigenschaft, sie bringt sie aber in keinerlei Staatsbewunderung wieder zusammen. In der Praxis trennt sie besser. Ganz konkret veranlasst die Liebe zum Staat in Schweden ein Gutteil der Mittelklassen zur Unterstützung der Sozialdemokratie. In Dänemark gibt es nichts dergleichen, und der Sozialismus ist schwächer, da rein eine Angelegenheit der Arbeiter.

[1] Zur politischen Geschichte Dänemarks, K.E. Miller Government and Politics in Denmark, S. 34-56.

[2] K.E. Miller Government and Politics in Denmark, S. 13-15 zur Kombination des Bewusstseins der Klassenunterschiede und der individuellen Mobilität. Diese Kombination findet sich auch in England; sie ist typisch für die absolute Kernfamilie, die die Individuen als verschieden ansieht, aber kaum an die erbliche Übertragung individueller Eigenschaften glaubt.

[3] Zu den Konstanten der Wahlgeografie s. K.E. Miller, S. 103-109

Null-Nationalismus und Pazifismus

Dänemark vereint alle Bedingungen für die Entstehung von dem, was man als Null-Nationalismus bezeichnen könnte. Mit seinen 5 Millionen Einwohnern von 1990 ist es eines der kleinsten Länder Europas, das vernünftigerweise nicht von weltweiten, europäischen oder auch nur regionalen Eroberungen träumen kann. Seit dem 17. Jahrhundert löscht die Macht Schwedens diejenige von Dänemark im skandinavischen Raum aus. Auch begünstigen die Werte der absoluten Kernfamilie einen aggressiven Nationalismus nicht. Ihre nicht-egalitäre Eigenschaft nährt ein starkes nationales Bewusstsein, bringt aber gar keine hierarchische Ordnung der Völker der Erde mit sich. Die liberale Eigenschaft des anthropologischen Systems unterstellt ein Recht der Völker zu koexistieren, ohne dass eine zentrale und dominierende Struktur das planetare Ganze kontrolliert.
Der dänische Nationalismus kombiniert also zwei Schwächen, die eine von den anthropologischen Werten abgeleitet, die andere von der konkreten internationalen Machtlosigkeit einer kleinen Nation. Das Ergebnis ist nicht einmal der bewaffnete Neutralismus von Ländern wie Schweden oder der Schweiz, sondern ein reiner und einfacher Pazifismus, der manchmal zur einseitigen Abrüstung führt. Am Vorabend des 2. Weltkriegs, verfügt Dänemark, obwohl es sich im Kontakt mit Hitler-Deutschland befindet, über eine Armee von 800 Männern. Der Hang zur einseitigen Abrüstung, der 1940 den Nazi-Truppen eine besonders friedliche Invasion ermöglicht, ist nicht nur typisch für die Parteien der Linken und die Arbeiterklasse. Er kann sich auch auf der Rechten zeigen, in den Mittelschichten, selbst wenn die Konservative Partei sehr wohl den zerbrechlichen nationalistischen Pol des dänischen ideologischen Systems darstellt. Die Fortschrittspartei, die 1973 als eine Abspaltung der Rechten hervortritt, will auch die einseitige Abrüstung, trotz der sowjetischen Bedrohung. Die Mitgliedschaft in der NATO, Konsequenz des desaströsen Scheiterns des Pazifismus der Jahre 1920-1940, verhindert also nicht die Aufrechterhaltung einer unterirdischen, aber mächtigen pazifistischen Strömung.

Der Null-Nationalismus schwächt offensichtlich die dänische Rechte, die sich nicht als Trägerin einer Mission behaupten kann, die über die schlichte Verteidigung der materiellen Interessen der Mittelschichten hinausgeht. Die Konservative Partei, die am stärksten der Idee der nationalen Integrität anhängt, schafft es also nicht, sich soziologisch über die städtischen Mittelschichten hinaus auszudehnen. 1971 überscheitet sie 20% der Stimmen nur im Ballungszentrum Kopenhagen. Anderswo fällt sie in der Regel unter 16%, außer in Süd-Jütland, wo die Erinnerung an die deutsche Bedrohung ein nationalistisches Element aktiviert (DK 9). Die Geschichte von Nord-Schleswig erinnert ein wenig an die von Elsass-Lothringen. Es wird Dänemark 1864 entrissen, nach dem Ende des 1. Weltkrieges wieder angegliedert, 1940 erneut erobert… Die Erinnerung an diese Prüfungen nährt dort nationalistische Haltungen, die dem elsässischen Gaullismus ähnlich sind. Das ist der Grund, warum die Konservative Partei dort 1971 zum Beispiel 17,9% der Stimmen erreicht gegen nur 12,7 und 10,7% in den Provinzen Ribe und Vejle, die unmittelbar nördlich davon liegen (DK 10 und 11). Eine gewisse Wirkung der Stammfamilie, die lokal anwesend ist und zu einem aggressiveren Ethnozentrismus führt als die absolute Kernfamilie, ist nicht auszuschließen. Eine antideutsche Wirkung der lokalen Stammfamilie wäre paradox, da ja die Anwesenheit dieses anthropologischen Typs ein gewisses familiäres „Deutschsein“ der Bevölkerungen dänischer Sprache in dieser Region offenbart. Aber die Besonderheit der Stammfamilie ist hier wie in Belgien wie in Irland, dass sie unter identischen Völkern die einen gegen die anderen aufbringt. Es ist jedoch nicht vernünftig zu hoffen, dass man zwischen Grenzeffekten und anthropologischen Effekten bei der Definition des lokalen Mikro-Nationalismus unterscheiden kann. Dasselbe Problem stellt sich übrigens auf der anderen Seite der Grenze, im deutschen Schleswig-Holstein, wo der Nazismus Anfang der 1930er Jahre seine erstaunlichsten Wahlerfolge erzielt hat. Der Nationalismus wird dort gleichzeitig durch die Stammfamilie und ein anti-dänisches Ressentiment stimuliert[1].

Insgesamt ist der Nationalismus in Dänemark ein unbedeutendes ideologisches Element, und diese Quasi-Abwesenheit bezeugt weitgehend die „sozialistische“ Orientierung des politischen Systems. Sozialistisch im allgemeinen Sinne und nicht spezifisch sozialdemokratisch. Die Arbeiterbewegung kann als die große Kraft des dänischen ideologischen Systems beschrieben werden, aber das Temperament dieses Sozialismus erscheint näher bei dem englischen oder niederländischen Labour-Typus als dem deutschen oder schwedischen sozialdemokratischen Modell.

Das sozialdemokratische Bild Schwedens, der mächtigsten der skandinavischen Nationen, sollte nicht auf die Wahrnehmung der anderen abfärben, sei es Dänemark, Finnland oder Norwegen. Alle ideologischen Systeme Skandinaviens sind sehr wohl nach links orientiert und von der sozialistischen oder Arbeiterbewegung dominiert. Aber jeder dieser Sozialismen ist besonders. In Schweden findet man tatsächlich ein sehr reines sozialdemokratisches Modell. In Finnland definiert die Existenz einer mächtigen kommunistischen Partei ein anderes Gleichgewicht. In Dänemark prägt der Abdruck des Liberalismus die sozialistische Bewegung. Die Linksorientierung, ein all diesen Ländern gemeinsames Phänomen, folgt aus gemeinsamen Faktoren. Der Lutherismus, der in allen anwesend ist, verschwindet auf besonders radikale Weise zwischen 1880 und 1930 und hinterlässt einen maximalen sozialen Raum für die Entwicklung moderner Ideologien, sozialistischer oder nationalistischer. Er hinterlässt auch als Erbe ein besonders hohes kulturelles Niveau, das die Folge einer frühzeitigen Alphabetisierung ist. In allen diesen Ländern, die auf europäischer Ebene winzig sind, ist die nationalistische Option verschlossen, weil zu offensichtlich unvernünftig. Im Kontext der Jahre 1900-1930 kann allein der Sozialismus die metaphysische Leere auffüllen, die durch das Verschwinden der religiösen Glaubensformen erzeugt wurde. Die Sozialismen vielmehr. Die Familienstrukturen wirken weiter und produzieren eine Vielfalt an skandinavischen Sozialismen. Die Stammfamilie ermutigt eine reine Sozialdemokratie in Schweden; die Gemeinschaftsfamilie begünstigt den Kommunismus in Finnland; die absolute Kernfamilie erlaubt in Dänemark die Entstehung einer Kraft, die sozialdemokratisch genannt wird, aber von ungewöhnlich liberalem Temperament ist. Was natürlich den dänischen Sozialismus von seinen englischen und niederländischen Entsprechungen unterscheidet, ist die Tatsache, dass er dominant ist, also sich gegenüber keine Kraft von rechts von gleichwertiger Größe vorfindet, wie die englische konservative Partei oder den niederländischen liberal-protestantischen Block.

[1] Die kleine dänische Nazi-Partei der 1930er Jahre ist ebenfalls in Nordschleswig zuhause, wo sie in Opposition zur lokalen deutschen Nazi-Partei steht. In den Wahlen von 1943, die während der deutschen Besatzung abgehalten wurden, erhielt die DNSAP (Dänische Nazi-Partei) 4,5% der Stimmen in Süd-Jütland im Vergleich zu 1,8% in der Gesamtheit des Landes. M. Djurssa „Denmark“ in Fascism in Europe, S. 245.