Wie Freihandel versagt

Trump machte sich schon vor seinem offiziellen Amtsantritt daran, dem unbegrenzten Freihandel ans Leder zu gehen, und drohte zunächst Autobauern mit kräftigen Zöllen, wenn sie in Mexiko Autos bauen und in den USA verkaufen wollen. Stellt er mit dem Freihandel ein unumstrittenes Erfolgskonzept in Frage?
Emmanuel Todd hat vor 19 Jahren in seinem Buch „L’illusion économique“ (Deutscher Titel: „Die neoliberale Illusion“) beschrieben, worin das Problem des unbegrenzten Freihandels besteht und dass er (gemeinsam mit anderen Ursachen) für die weltweiten wirtschaftlichen Ungleichgewichte mitverantwortlich ist.
Seine Grundthese lautet, dass durch den Freihandel ein rein mikroökonomischer (Kosten-)Wettbewerb der Unternehmen entsteht, der die Nachfrage unweigerlich hinter die Produktivität zurückfallen lässt und damit in die Krise führt. Um diese Idee zu entwickeln, beschreibt er zunächst die makroökonomischen Erfolge der Nachkriegszeit in allen Industrieländern des Westens:

Die Regulierung der globalen Nachfrage durch die Nationen

Die Wachstumsrate einer Volkswirtschaft hängt sehr banal von zwei Faktoren ab: ihrer technologischen Fähigkeit, das Angebot von Gütern und Dienstleistungen zu erhöhen, und ihrer  gesellschaftlichen Fähigkeit, die Nachfrage nach diesen Gütern und Dienstleistungen zu erweitern. Der Konsum muss im Takt mit der Produktion voranschreiten. Die sehr hohen Wachstumsraten, die man in den meisten westlichen Ländern nach dem zweiten Weltkrieg beobachtete, erklärten sich durch die Kombination eines technologischen Schubs mit einer Entfesselung des Konsums. Der technische Fortschritt leitete sich aus der Anwendung der schlecht genutzten Erfindungen der Jahre 1930-1945 ab, die bis dahin durch die Krise und den Krieg eingefroren waren. Die Dynamik der Nachfrage resultierte ihrerseits nach dem Krieg aus der Entstehung eines neuen sozialen Konsenses über die Verteilung der Früchte des Wachstums. Alle – Arbeiter, Angestellte, Führungskräfte, Bauern und Rentner – sollten von regelmäßigen Erhöhungen ihrer Einkünfte profitieren. Der makroökonomische Effekt dieses neuen Konsenses war eine implizite und dauerhafte Vorwegnahme der Erhöhung der Produktion. Die stark integrierten Gesellschaften der Nachkriegszeit waren in der Lage, durch Konsum alle Produktivitätsgewinne zu absorbieren und so die Vollbeschäftigung sicherzustellen. Der Sozialpakt regelte das Uraltproblem des Absatzes, sogar ein wenig zu gut, da ja gegen Ende der 1960er Jahre die Vorwegnahmen der Einkommensteigerung die Oberhand gewannen über das Potenzial zur Produktionssteigerung, so dass der Verzug eine strukturelle Tendenz zur Inflation nach sich zog…

Der grundlegende Rahmen der Neuaufstellung der Produktivkräfte und der Erweiterung des Konsums war damals die Nation. In einer Gesellschaft, die sich stark ihrer Einheit bewusst ist, der Solidarität der wirtschaftlichen Akteure, der Tatsache, dass der Produzent Konsument sein muss, betrachtet ein Unternehmen die Reduzierung seiner Gehaltsmasse nicht als eine Priorität. Es weiß, dass die Gehälter, die es ausschüttet, ein Teil des globalen Konsums sind, von dem es für seinen Absatz abhängt. Es ist wahr, dass ein Unternehmen, das seine Gehälter erhöht, nicht wirklich seinen eigenen Absatz erhöht, sondern eher den anderer Unternehmen. Das Say’sche Absatztheorem will die theoretische Unmöglichkeit der Überproduktion zeigen, indem es unterstreicht, dass das Angebot seine eigene Nachfrage erzeugt, indem jedes Unternehmen gleichzeitig Produktion schafft durch die Güter, die es auf den Markt bringt, und Konsum durch die Einkünfte, die es verteilt. Es kann nicht angewendet werden auf technologisch dynamische Volkswirtschaften, in denen eine Erweiterung des Konsums diejenige der Produktion begleiten, vorwegnehmen muss. Aber in der aufgeklärten Welt der Nachkriegszeit verbindet ein komplexes und subtiles Spiel die Unternehmen miteinander und die Arbeiter mit den Arbeitgebern, damit eine optimierte globale Nachfrage aufrechterhalten wird. Ihre Vorwegnahmen sind nicht rational und individuell, sondern vernünftig und kollektiv. Im Fall einer Dejustierung greift der Staat, ein nationaler wirtschaftliche Akteur, ein, um den Konsum zu unterstützen. Während der ganzen Nachkriegszeit hat das Wachstum der Bevölkerung dazu beigetragen, dass die Nachfrage und die Produktion nach oben getrieben wurden.

In diesem keynesianischen mentalen System haben die Akteure die Idee verinnerlicht, dass das Voranschreiten des Konsums essentiell ist und dass eine Volkswirtschaft, die vom technologischen Fortschritt getrieben wird, immer von einer Tendenz zur Konsumschwäche bedroht ist. Die optimale Welt von Keynes kombiniert ein gutes Verständnis der wirtschaftlichen Akteure für das Problem des Absatzes und einen sozialen Pakt, der den Konsum begünstigt, der in der Praxis nur im nationalen Rahmen voll realisiert werden kann. Der Triumph des Keynesianismus war deshalb ebenso sehr ein gesellschaftlicher wie ein intellektueller Moment. Aus Sicht der späteren Geschichte und im Besonderen  des Vergessens des Problems der globalen Nachfrage durch die europäischen Regierenden der Jahre 1985-1995 kann man behaupten, dass der Sieg von Keynes mehr dem  hervorragenden Zusammenhalt der Nachkriegsnationen, dem gesellschaftlichen Faktor, verdankt als der ökonomischen Kompetenz der Eliten jener Zeit, dem intellektuellen Faktor. Machtvoll integriert durch die Massenalphabetisierung hatten die Nationen von 1945 gerade die schrecklichste der Prüfungen durchlebt. Der zweite Weltkrieg hat die Arbeit des ersten vollendet und zum Punkt der Vollendung des Gefühls der nationalen Einheit geführt. In jedem Land, Sieger oder Besiegten,  hat das Leiden die Gruppen und Klassen im Gefühl eines gemeinsamen Schicksals zusammengeführt, sei es glücklich oder tragisch. Von da kam die einfache Entstehung, als der Frieden erst einmal wieder gekommen war, einer wirtschaftlichen Regulierung im Stil von Keynes.

Aber was wird aus einer solchen tendenziellen Erhöhung der Nachfrage, wenn sich die Nationen für den Freihandel öffnen oder sich ihm vielmehr ausliefern?

Freihandel und Konsumschwäche

Der Freihandel trennt geografisch, kulturell und psychologisch das Angebot von der Nachfrage. Er verknüpft die Produzenten eines Landes A mit den Konsumenten der Länder B, C, D, E und umgekehrt. Aus der Sicht der Nation wie des Unternehmers zerfällt die globale Nachfrage in zwei Komponenten, die innere Nachfrage und die äußere Nachfrage, was die schicksalhafte Gleichung wiedergibt: Dg=Di+Dx. Der Freihandel erschafft ein wirtschaftliches Universum, in dem der Unternehmer nicht mehr das Gefühl hat, mit den Gehältern, die er auszahlt, zur Bildung einer globalen Nachfrage auf nationaler Ebene beizutragen. Die Gehälter, deren Aggregation auf weltweiter Ebene nur eine unzugängliche Abstraktion ist, stellen von nun an für das Unternehmen nur noch Produktionskosten dar, die so weit wie möglich zu reduzieren, es ein Interesse hat. Eine solche logische Konfiguration erzeugt ideale Bedingungen für einen systematischen Rückstand der globalen Nachfrage gegenüber der Produktivität, die vom technischen Fortschritt geschaffen wird. Dass der Handel außerhalb der Nation gestellt wird, bringt den Kapitalismus in sein primitives, vorkeynesianisches  Stadium zurück: das eines Systems, dessen Akteure es nicht mehr schaffen, die Idee einer globalen Nachfrage  zu erfassen, und total vom mikroökonomischen Spiel der Kräfte dominiert werden.
Die Lektüre der amerikanischen Handbücher für internationale Ökonomie, die unversiegbar über die positiven Effekte des Freihandels für die Produktivität schwätzen, schweigen sich typischerweise aus über die Auswirkungen auf die Nachfrage. Sie spekulieren unermüdlich über die Kostenvorteile für die Verbraucher, deren Existenz problematisch wird. Eine solche Auslassung ist in sich selbst bemerkenswert: es ist nicht vorstellbar, dass ein Problem, das die Mehrheit der Ökonomen zwischen 1930 und 1965 beschäftigt und gepeinigt hat wie durch Verzauberung  jedes intellektuelle und praktische Interesse verloren hat. So viel Schweigen dröhnt im Kopf. Die Welt scheint in die Zeit vor 1930 zurückgefallen zu sein. …

Der Freihandel, wenn er bis an seine äußersten Konsequenzen getrieben wird, schafft die Möglichkeit einer makroökonomischen Regulierung ab…

Ravi Batra, ein nonkonformistischer amerikanischer Volkswirt, hat für die meisten der entwickelten Länder systematisch offengelegt, wie die Gehälter, also der Konsum, sich von der Produktivität unter der Wirkung des Freihandels abgekoppelt haben…

Die Freihandels-Illusion

Der Protektionismus wird offiziell von den westlichen Eliten als eine überholte Doktrin betrachtet, als ökonomisch und politisch schädlich. Jeder Schutz, selbst ein partieller, für die nationalen Märkte würde die Konkurrenz  behindern und zur Stagnation führen, die den Planeten um Spezialisierungen berauben würden, die allen nützen. Jedes Land zu zwingen, Dinge zu produzieren, die anderswo zu geringeren Kosten produziert werden können, würde bedeuten, die Produktivität und den mittleren Lebensstandard der ganzen Welt zu senken. Die Wiederherstellung  der Zollrechte würde zur Entfesselung der Nationalismen und zum Krieg führen. Wenn man den Ideologen des Freihandels folgt, sei der Protektionismus  die letztliche Ursache der Probleme des frühen 20. Jahrhunderts gewesen….
Die politischen Führer des Westens feiern im Kern den Freihandel und seine Vorzüge, und nutzen als minimales intellektuelles Gepäck im Allgemeinen einige schlecht verdaute Seiten von Adam Smith und von Ricardo über die absoluten oder komparativen Vorteile des internationalen Handels. Sie haben dabei eine deutliche Vorliebe für das völlig archaische Ricardo’sche Beispiel Portugals, das seinen Wein gegen Textilien handelte, die aus Großbritannien kamen. Diese ökonomische Pseudo-Kultur ist voller Boshaftigkeit, da ja Portugal ganz offensichtlich durch zwei Jahrhunderte des Handels mit Großbritannien in der Unterentwicklung festgehalten wurde, während dieses letztere, das durch sein Freihandelsdogma gelähmt war, sich verbot, auf die neuen amerikanischen und deutschen Konkurrenten zu reagieren, und so einen originalen Weg in die relative Unterentwicklung definierte.

Aber welche Bedeutung hat schon die Geschichte und die Realität der Welt!  Warum sollte man sich für das wirtschaftliche Durchstarten Großbritanniens interessieren, das im 17. und 18. Jahrhundert dank  mächtiger protektionistischer Maßnahmen stattfand? Die Schiffahrtsgesetze behalten ab 1651 den Transport von Waren englischen Schiffen vor; die indischen Baumwollstoffe sind während des Aufstiegs der Textilindustrie von Lancashire aus Großbritannien verbannt; der Export britischer Ausrüstungsgüter ist von 1774 bis 1842 verboten.  Lasst uns ebenso das amerikanische industrielle Durchstarten vergessen, das sich nach dem Sezessionskrieg dank Zollschranken abspielte, die 40% des Werts der importierten Objekte überschritten! Lasst uns auch nicht vom deutschen Durchstarten am Ende des 19. Jahrhunderts sprechen, das nicht eine solche Macht gehabt haben könnte, wenn Bismarck nicht 1879 den Protektionismus gewählt hätte. Lasst uns, um ganz sicher zu gehen, auch die Gegenwart abschaffen, dieses Japan, zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, das über sein initiales Durchstarten hinaus protektionistisch bleibt. Lasst uns schamhaft die Augen von diesen unterbewerteten asiatischen Währungen abwenden, die unter dem Regime von flexiblen  Wechselkursen eine der modernen Formen des Protektionismus darstellen. Schließlich wollen wir uns weigern, das Wesentliche zu sehen, das globale Resultat des modernen Freihandels im Sinne des Wohlergehens der Bevölkerungen: die Absenkung der Zollschranken im überwiegenden Teil der westlichen Welt wurde von einem Fall der Wachstumsrate der Weltwirtschaft begleitet und von einem furchtbaren Anstieg der inneren Ungleichheiten in jeder Gesellschaft.

Die Fanatiker des Freihandels, die an den Dynamismus des Planeten glauben wollen, hören nicht auf,  bruchstückhafte Daten vorzubringen, lokale oder sektorielle. Sie schinden bei sich selbst Eindruck mit dem Durchstarten, in Europa und Asien, von Irland, Singapur oder des küstennahen China, um nur einige Vorzeige- und untypische Volkswirtschaften aus der Mitte der 1990er Jahre zu zitieren. Sie versichern uns, dass der von diesen winzigen Ländern oder weiten, aber minderheitlichen Regionen gewählte Weg von der Gesamtheit der sich entwickelnden Welt verfolgt werden kann, und entrüsten sich im Voraus über eine mögliche Rückkehr der fortgeschrittenen Gesellschaften zur Protektion. Sie geraten in Verzückung über den weltweiten Boom bei Faxgeräten und Mobiltelefonen, ohne die offensichtliche Tatsache zu erwähnen, dass der Anstieg der Ungleichheiten in jeder Gesellschaft mechanisch die Entwicklung von Partialmärkten für die Privilegierten sicherstellt. Ohne dass sie besonders high-tech wären, fallen der „Führer für Hotels mit Charme“, dasChanel No. 5“ und dieGrands- Crus-Weine“  in diese Kategorie….

Die globalen Daten sind jedoch wenig beeindruckend. Der Weltwirtschaft geht es immer weniger gut. …

Es ist ziemlich leicht, einen logischen Zusammenhang herzustellen zwischen der Wachstumsschwäche und der Öffnung für den Freihandel. Aber man muss dafür aufhören, den internationalen Handel allein wahrzunehmen im Sinne des Angebots von Gütern und Dienstleistungen, wie es fast immer der Fall ist in den rechtmeinenden Handbüchern der Ökonomie, und die Frage stellen nach der globalen, d.h. der weltweiten Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen.

Kommentare:

  • Die notorische Schwäche der Nachfrage mangels Einkommen in der globalisierten Wirtschaft wurde, insbesondere in den USA, aber auch in Europa, teilweise durch exzessive Kredite gemildert, was ein wichtiger Grund für die ausufernde Verschuldung ist. Inzwischen ist diese Verschuldung selbst an ihre Grenze gestoßen und nicht mehr steigerbar. Das ist der Grund, warum das Thema des Freihandels gerade jetzt mit Macht zurückkommt.
    Die Verschuldung ist in dieser Betrachtung also keine letzte Ursache, kein weiteres Argument gegen den Keynesianismus, sondern selbst nur eine Folge einer angebotsorientierten, freihändlerischen Politik, die die elementaren Erkenntnisse von Keynes in den Wind geschlagen hat.
  • Die inzwischen extrem hohen deutschen Exportüberschüsse sind ein Hinweis darauf, dass auch Deutschland kläglich dabei versagt, Angebot und Nachfrage in ein Gleichgewicht zu bringen. Deutschland schafft es damit zwar, seine Arbeitslosigkeit ins Ausland zu exportieren, was aber keine Lösung für das globale Problem darstellt. Die ganze Aussichtslosigkeit der konservativen deutschen Ansicht, dass Deutschland ein Vorbild für andere Länder sei, ist damit offensichtlich.
  • Wie der Zufall so will, hat gerade heute der renommierte Schweizer Volkswirt Mathias Binswanger in der ZEIT darauf hingewiesen, dass Freihandel natürlich nicht immer für alle Beteiligten vorteilhaft ist. Diese Tatsache werde aber von der herrschenden Lehre ignoriert. Erfreulicherweise nimmt er sich ebenfalls Ricardos Beispiel des Freihandels zwischen Portugal und England vor, um die Irrtümer zu erläutern. Er kommt zum selben Ergebnis wie Todd: Portugal war der Loser in diesem Deal und ist ihn auch nicht ganz aus freien Stücken eingegangen.
  • Todds Schlussfolgerung, dass der ungehinderte Freihandel nicht funktioniert und zu grundlegenden Problemen in der Weltwirtschaft führt, scheint mir zuverlässiger zu sein, als die Lösung einer Rückkehr zu den national und keynesianisch regulierten Volkswirtschaften der Jahre 1950-1980. Er nennt den starken nationalen Zusammenhalt nach dem Krieg als einen der begünstigenden Faktoren. Man kann also davon ausgehen, dass die Suche nach einem neuen Modell schwierig und chaotisch wird. Ein Präsident Trump mit seinem Teilverständnis und vielen ökonomischen Beratern aus der etablierten (Finanz-)Wirtschaft, die bisher dem Freihandel anhängen, könnte also viel Chaos anrichten und leicht an der epochalen Herausforderung scheitern. Jedenfalls leitet er aber die offizielle Abkehr vom Freihandelsdogma ein. Und genau hier liegt auch der Grund für Todds begrenzte Sympathie für die Präsidentschaft von Trump.

Nachtrag 26.2.2017:
Patrick Kacmarczyk: Wachstum durch Freihandel – Ein Mythos

Warum sind die Amerikaner sauer?

Textauszüge entnommen aus Emmanuel Todds „L’illusion économique“ von 1998 (Deutscher Titel: „Die neoliberale Illusion“). In der Endphase des US-Wahlkampfs 2016 zusammengestellt auf der Suche nach der Antwort auf die Frage, warum so viele Amerikaner so wütend sind auf das Establishment. Stimmen die Vorwürfe, dass die US-Wirtschaft für einen großen Teil der Bevölkerung schlechtere Ergebnisse liefert, als die Statistiken behaupten? Emmanuel Todd bejahte das bereits im Jahr 1998:

Ist die US-Wirtschaft dynamisch?

Die amerikanische Wirtschaft ist für die Zukunftsforscher ein Objekt der Perplexität geworden: Ist sie oder ist sie nicht dynamisch? …

Güter produzieren … oder Arbeitsplätze?

Die Natur der Leistungen der amerikanischen Wirtschaft ist an und für sich problematisch. Wenn man den Höhenflug der Börsenwerte außer Acht lässt, der keinen Reichtum erzeugt und deshalb nicht zum Bruttoinlandsprodukt gerechnet werden kann, ist ihr großer Erfolg die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die 5% amerikanischen Arbeitslosen stellen für die heutzutage dominierende Theorie eine Art Vollbeschäftigung dar in einer mobilen, flüssigen Wirtschaft, die ohne Unterlass Arbeiter verschieben muss. …Das Problem der Arbeitslosigkeit scheint unter dem Strich mehr oder weniger gelöst zu sein in den Vereinigten Staaten, aber im Kontext einer globalen Produktivität pro Arbeiter, die im internationalen Maßstab sehr bescheiden wirkt, 1994 um 25% niedriger als in Japan und 20% niedriger als in Deutschland. Innerhalb der G5 liegen die USA nur vor dem Vereinigten Königreich, das seit den Jahren 1880-1900 von einer Krankheit der wirtschaftlichen Lustlosigkeit betroffen ist, der englischen Krankheit, von der wir uns heute ernsthaft fragen müssen, ob es sich nicht um eine angelsächsische Krankheit handelt. Amerika produziert Arbeitsplätze eher als Güter, eine Leistung, die von einem liberalen Standpunkt betrachtet nicht wirklich orthodox ist. Diese Dynamik erinnert auch ein wenig, selbst unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit, an diejenige der Sowjetunion der 1970er Jahre. Auch der Kommunismus litt in seinem reifen Alter an einer niedrigen Produktivität, während er von einer niedrigen Arbeitslosigkeit profitierte, die in der Theorie gar nicht existierte. Es ist ziemlich einfach, die niedrige Produktivität der Arbeiter in einem ideologischen System des leninistischen Typs zu rechtfertigen, vor allem im Stadium der Diktatur des Proletariats, denn wie ein jeder weiß „arbeitet ein Diktator nicht“.  Aber es ist von einem liberalen Standpunkt, klassisch oder neoklassisch,  aus unmöglich, die Idee zu akzeptieren, dass es das Ziel der wirtschaftlichen Aktivität sei, Arbeitsplätze zu produzieren.  Ein Europa, das von der Massenarbeitslosigkeit geplagt wird, kann es sich gewiss nicht leisten, über den amerikanischen Erfolg in Sachen Arbeitsplätzen zu lachen. Aber es bleibt dabei, dass für ein intellektuelles System, dessen Grundaxiom die Existenz eines berechnenden Homo oeconomicus ist, der ein Maximum an Gewinn mit minimalem Aufwand sucht, der große Erfolg des amerikanischen Produktionssystems anti-ökonomisch ist.

Die Metaphysik des Bruttoinlandsprodukts

Die Ungewissheit über die Natur des amerikanischen Wachstums herrscht umso mehr, als das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das als Basis seiner Messung und für internationale Vergleiche dient, heutzutage wieder ein umstrittenes Konzept wird. Die Berechnung des amerikanischen BIPs war übrigens in den letzten Jahren das Objekt ziemlich suspekter Revisionen, sowohl in seiner Summe als auch in der Aufteilung auf Investitionen und Konsum. Wir wollen daran erinnern, dass das BIP ein hochgradig konventionelles Maß ist, das die Summe bildet über alle erwirtschafteten Mehrwerte aller Sparten der Wirtschaft. Dieser Index triumphierte unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg im Gefolge der keynesianischen makroökonomischen Analyse, von der er das Prinzip der Aggregation der Aktivitäten auf nationaler Ebene übernimmt. Das Verwerfen des Keynesianismus hätte vielleicht dasjenige des BIP nach sich ziehen müssen; aber man muss feststellen, dass man in diesem besonderen Fall das Badewasser aufbewahrt hat, nachdem man das Kind ausgeschüttet hatte.

Um die Werte auf internationaler Basis zu addieren und zu vergleichen, müssen in Wahrheit internationale Werte für Güter und Dienstleistungen existieren. Nun aber…muss man mit Demut zugeben, dass ein Wert nur dort existiert, wo es einen Markt gibt. Die einzigen wirklichen internationalen Werte werden durch die internationalen Märkte definiert. Die Güter und Dienstleistungen, die sich nicht auf internationalen Märkten handeln lassen (non tradables) haben buchstäblich keinen internationalen Wert. Ein Haus in Boston, ein Haarschnitt in Chicago, eine Busfahrt in Milwaukee, die Bezahlung eines Anwalts von Los Angeles, der in Scheidungssachen spezialisiert ist, das Gehalt eines privaten Wächters eines Wohnkomplexes für Rentner in Florida, haben in den allermeisten Fällen keinerlei Wert für einen Deutschen, einen Japaner, einen Franzosen oder einen Schweden. Wenn wir uns abgewogen ausdrücken wollen, können wir uns damit zufriedengeben zu behaupten, dass der größte Teil dieser Dienstleistungen keinen direkten internationalen Wert hat. Im Gegensatz zu Autos, Weizen oder Videorekordern. Nun aber machten die Dienstleistungen 1993 72.1% des BIP der Vereinigten Staaten aus gegenüber nur 64.7% in Deutschland, 57.6% in Japan und 65.6% in Italien. Frankreich, durch die Politik „des starken Franc“ desindustrialisiert, liegt mit 70.5% nahe bei den Vereinigten Staaten. Wie immer liegen die anderen angelsächsischen Länder nahe beim Weltanführer: 71.3% des BIP im Tertiärsektor im Vereinigten Königreich, 72.1% in Kanada, 69.1% in Australien[1]

Das Beispiel der Gesundheitsausgaben, die sich in weiten Teilen aus Dienstleistungen zusammensetzen, selbst wenn sie einen nicht vernachlässigbaren Anteil an ausgefeilten medizinischen Materialien einschließen, zeigt das Ausmaß der Ungewissheit, wenn es um den wirklichen amerikanischen Reichtum geht. In den USA erreichen sie 14.2% des BIP gegen nur 7.7% in Schweden, 7.3% in Japan, 8.6% in Deutschland und 9.7% in Frankreich, Länder, die von ihren Führungen jedoch als furchteinflößend ausgabefreudig in diesem Bereich angesehen werden. Die Ausweitung der öffentlichen und privaten Gesundheitsausgaben ist ein wesentliches Element des amerikanischen „Wachstums“. Sie liegt im Herzen aller grundlegenden wirtschaftlichen und soziologischen Interaktionen. Sie erklärt zum Teil die Fortdauer einer ausreichenden globalen Nachfrage in einer entwickelten Welt, die virtuell in der Deflation steckt. Die gesundheitliche „Misswirtschaft“ drückt die Fähigkeit der betagten Amerikaner aus, ihr Geld auszugeben, ohne zu sparen, ohne Sorge um das Erbe der Kinder, die ihnen nachfolgen. Sie ist damit typisch für ein anthropologisches Kernfamiliensystem, das relativ gleichgültig ist gegenüber dem Schicksal der nachfolgenden Generation. Aber welche konkreten, materiellen, physischen Resultate kann man im Anschluss an diese 14.2% „Wertschöpfung“ messen, die im Gesundheitssektor erwirtschaftet werden? Eine weibliche Lebenserwartung von 79 Jahren im Jahr 1996, gleich wie im Vereinigten Königreich, aber niedriger als diejenige in Deutschland (80 Jahre), in Schweden (81 Jahre), in Frankreich (82 Jahre) oder in Japan (83 Jahre). Die Wertschöpfung verschafft offensichtlich kein längeres Leben. Wo ist unter diesen Umständen die „Produktion“? Die Lebenserwartungen der Männer würden die gleichen Unterschiede zum Vorschein bringen, aber sie sind a priori weniger aussagekräftig, weil sie den wesentlich stärkeren Effekt von Todesfällen durch Gewalt und damit spezifischer medizinischer Probleme einschließen. Die amerikanische Rate von Mord und Totschlag, von 10 Getöteten pro 100000 Einwohnern in 1993, ist mehr als 10 Mal höher als diejenige in Europa oder in Japan, die alle niedriger sind als 1 Getöteter pro 100000 Einwohner.  Es bleibt zu erwähnen, dass die Gewalt so aussehen kann, als ob sie Werte schöpft im Dienstleistungssektor, in Form von Gefängniswärtern, privaten Wachmännern oder Anwälten. Da schaut her: Europa und Japan sind erneut gekniffen beim Absatz und dem BIP im Dienstleistungssektor, weil sie einfach zu friedlich sind! Aber die Vervielfältigung der juristischen und Polizeidienstleistungen, die sich vom Verfall des amerikanischen Bildungsniveaus ableitet, hat für die europäischen und japanischen Gesellschaften keinen Wert, wo die Scheidungen zivilisierter sind und wo man in den meisten Straßen Spazierengehen kann, ohne sein Leben zu riskieren.
Um zu vermeiden, dass uns die anthropologischen Besonderheiten jeder Gesellschaft in die Welt der Illusion entführen, müssen wir uns bewusst bleiben, dass nur die Produktion industrieller Güter, die auf internationalen Märkten handelbar sind, mit Sicherheit einen Wert darstellt.

Reichtum und Stärke der Währung

Wenn wir zunächst das Problem der Währungsparitäten außenvorlassen und unseren Glauben an die  Wahrhaftigkeit der Märkte und an ihre Fähigkeit, die wahren wirtschaftlichen Werte zu bestimmen, über alles stellen, können wir, wenn wir den Reichtum der Nationen ermessen wollen, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner und, wenn wir die Effizienz der Systeme erfassen wollen, das BIP pro Beschäftigtem berechnen. Dabei benutzen wir für den Vergleich die laufenden Wechselkurse der Währungen:

Tabelle 9: Reichtum und Produktivität

BIP 1994
(in Milliarden Dollar)
BIP pro Kopf BIP pro
Beschäftigtem
USA 6650 25512 54038
Vereinigtes Königreich 1020 17468 40380
Kanada 544 18598 40926
Australien 322 18072 40831
Neuseeland 51 14513 32692
Japan 4590 36732 71129
Deutschland 2046 25134 57001
Deutschland ohne DDR 1880 29800 67000
Schweden 198 22504 50433
Niederlande 334 21733 50369
Italien 1018 17796 50900
Frankreich 1328 22944 60889

Quelle für die BIPe: OECD, rückblickende Statistiken 1996

Diese Art von Berechnung macht den relativen Niedergang der Vereinigten Staaten offensichtlich sowie den Reichtum und die Produktivität Japans und Deutschlands.

… Die mittelmäßige Produktivität der USA erinnert ihrerseits an eine vollständig beschäftigte  Bevölkerung, die aber viel arbeitet für wenig Ergebnisse….

Die Kaufkraftparitäten im Wunderland

Diese Art der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts ist also von Ökonomen in Frage gestellt worden, die angeblich orthodox waren und sehr aktiv auf diesem Gebiet bei der OECD, aber auf einer ziemlich seltsamen theoretischen Basis: Durch eine Verneinung der Werte und Preise, wie sie von Märkten definiert werden. Unzufrieden damit zusehen zu müssen, wie sich die japanischen und deutschen BIPs aufblähen, beunruhigt durch die Tendenz einiger BIPs, pro Kopf dasjenige der USA zu überholen, wollten die „liberalen“ Ökonomen in der Stärke der Währungen und in der Überhöhung der inneren Preise die Manifestation eines illusorischen Reichtums erkennen. Die Umrechnung in Kaufkraftparitäten (PPP, purchasing power parity) hat also krampfhaft versucht, die Preise zu „korrigieren“, um die wirklichen Werte zu erhalten.

„Die Kaufkraftparitäten sind diejenigen Währungsumrechnungsverhältnisse, die die Kaufkraft verschiedener Währungen egalisieren. Auf diese Weise wird eine gegebene Summe Geldes in einer Währung, die mit Kaufkraftparitäten in verschiedene Währungen umgerechnet wurde, erlauben, denselben Warenkorb von Gütern und Dienstleistungen in allen betreffenden Ländern zu kaufen. In anderen Worten, die Kaufkraftparitäten sind die Umrechnungsverhältnisse zwischen Währungen, die alle Unterschiede im Preisniveau eliminieren, die zwischen den Ländern existieren….“[2].

In der Zeit, als dieser Modus der Berechnung sich verbreitet hat, in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, hatten die USA einen schwachen Dollar, der, so glaubte man, das Ausmaß der amerikanischen Produktion und Konsumtion maskierte. Solche Berechnungen brachten die Welt wieder in Ordnung: Die USA rückten wieder an den ersten Platz beim Reichtum und bei der Produktivität. Ohne in die Details der Berechnungskonventionen einzusteigen, müssen wir feststellen, dass ihre Logik antiliberal ist, um nicht zu sagen sowjetisch. Sie leugnet die Werte, wie sie von internationalen Märkten definiert werden, ob es sich um Güter handelt oder Währungen….
Die Berechnung in Kaufkraftparitäten wertet neben dem amerikanischen BIP pro Kopf, und im Verhältnis sogar noch stärker, diejenigen der meisten schwach entwickelten Länder auf, wie Mexiko, China, die Türkei oder Russland. Die Berechnung mit Kaufkraftparitäten gewährt eine Prämie für technologische Rückständigkeit….

Der Beweis durch die Kindersterblichkeit

Eine endgültige Schlussfolgerung über die Gültigkeit dieses oder jenes Indikators für die Produktion,  den Reichtum oder den Lebensstandard kann jedoch nicht erreicht werden, ohne aus der verzauberten Welt der ökonomischen Messung herauszutreten, die naturgemäß von den konventionellen und schwankenden Begriffen abhängt, die Preise und Währungen nun einmal sind.  Der Rückgriff auf einen demografischen Parameter, der ebenso quantitativ ist, die Rate der Kindersterblichkeit, eine wesentliche Komponente der Lebenserwartung, erlaubt es, zu einiger Gewissheit zu kommen.

Tabelle 10: Kindersterblichkeit und Reichtum

BIP pro Kopf 1992
(laufender Dollarkurs)
BIP pro Kopf nach Kaufkraft 1992 Kindersterblichkeit 1994
Japan 29460 19604 4
Schweden 28522 16526 4.4
Finnland 21100 14510 4.7
Norwegen 26386 17664 5.2
Schweiz 35041 22221 5.5
Deutschland 27770 20482 5.6
Niederlande 21089 16942 5.6
Dänemark 27383 17628 5.7
Frankreich 23043 18540 5.8
Australien 16959 16800 5.9
Irland 14385 12763 6
Spanien 14745 12797 6
Vereinigtes Königreich 17981 16227 6.2
Österreich 23616 18017 6.3
Kanada 19823 19585 6.4
Italien 21468 17373 6.6
Neuseeland 11938 14294 7.1
Belgien 21991 18071 7.6
Griechenland 7562 8267 7.9
Portugal 8541 9743 7.9
USA 23228 23291 7.9

Quelle für das BIP pro Kopf: OECD

Durch die Beobachtung eines leichten Anstiegs der Kindersterblichkeit in der Sowjetunion zwischen 1970 und 1974 konnte ich 1976 alle ökonomischen Statistiken der Epoche widerlegen, diejenigen der Gosplan-Behörde ebenso wie jene der CIA[3]. Alle beschrieben eine wachsende Wirtschaft, wenn auch mit einer Verlangsamung des Wachstums. Durch seine grausame Einfachheit durchstieß der demografische Parameter den Schleier der Preiskonventionen, die typisch waren für die zentralisierten Volkswirtschaften. Die Verzerrungen durch die Verwendung der Kaufkraftparitäten sind nicht von solcher Schwere, aber sie führen geradewegs in ein Universum des Absurden.
Die amerikanische Kindersterblichkeit geht weiterhin zurück. Man muss daraus im ersten Anlauf die Gewissheit herausziehen, dass die amerikanische kulturelle Stagnation und der Anstieg der sozialen Ungleichheit, dank des technologischen Fortschritts, weder eine Regression noch sogar eine Stagnation der gesundheitlichen und medizinischen Leistungen mit sich gebracht haben. Aber der Rhythmus des Rückgangs des Kindersterblichkeit ist in den USA seit dem Krieg sehr viel geringer als das, was in Westeuropa und Japan beobachtet werden kann.
kindersterblichkeit1950 hatten die USA, die reichste Nation des Globus, eine der niedrigsten Säuglingssterblichkeitsraten und wurden nur von Schweden, Norwegen, den Niederlanden und Neuseeland übertroffen. Sie wurden 1955 vom Vereinigten Königreich, 1963 von Japan, 1964 von Frankreich und 1987 von Italien überholt. In einem Ensemble von 22 Ländern rutschen die USA zwischen 1950 und 1994 vom fünften auf den letzten Platz, gleichauf mit Portugal und Griechenland. Die Unterschiede sind gering wie immer, wenn man die Todesfälle von Kindern im niedrigen Alter in entwickelten Gesellschaften analysiert, aber signifikant. Die Reduzierung der Kindersterblichkeit unter eine gewisse Schwelle, von nun an unter 10 von 1000, setzt das ins Werk, was es am Modernsten in einer Gesellschaft gibt, auf allen Ebenen – technologisch, ernährungstechnisch oder medizinisch. Die schlechte Platzierung der USA bleibt erhalten, wenn man von der Sterblichkeit diejenige der 12% Schwarzen abzieht, deren Rate zweiundeinhalb mal so hoch ist wie diejenige der Weißen (16.5 statt 6.8 von 1000). Dann finden sich die USA bescheiden auf dem 15. Platz von 22 wieder und überholen nur Spanien, Griechenland, Portugal, Israel, Italien, Belgien und Neuseeland.

Die Einordnung der Länder nach Kindersterblichkeit macht ebenso viel Sinn für die Bestimmung des wahren Lebensstandards wie das BIP pro Kopf, ohne die Korrektur nach Kaufkraftparitäten. Das führende Land ist in beiden Fällen in der Mitte der 90er Jahre Japan. Wenn der demografische Indikator eine Schlagseite hat, dann in Richtung einer Prämie für die technologische Modernität, weil er stark bestimmt wird durch den Fortschritt einer Medizin, die gleichzeitig Spitze und für die Masse verfügbar ist. Das ist der Grund für sein vorausblickendes Potenzial. Die technologische und soziale Effizienz produziert gleichzeitig positive Effekte im wirtschaftlichen und im medizinischen Feld. Es ist also normal, Anfang der 90er Jahre eine bedeutsame Korrelation zwischen dem BIP pro Kopf und der Kindersterblichkeit festzustellen, nämlich -0.67, negativ weil die Sterblichkeit ja umso niedriger ist, je höher das BIP ist. Im Gegenzug lässt die Berechnung (des BIP) nach Kaufkraftparitäten die Korrelation mit der Kindersterblichkeit auf das nicht signifikante Niveau von -0.29 fallen. Es gibt keine statistische Beziehung mehr zwischen Kindersterblichkeit und Reichtum, der in Kaufkraftparitäten berechnet wird. Die Abwesenheit einer solchen Verbindung ist eine Herausforderung für den gesunden Menschenverstand. Die Berechnung nach Kaufkraftparitäten, die vorgibt, die Güter der physischen Realität näher zu bringen, entfernt uns von der physischen Realität des Lebens. Eine Schlussfolgerung drängt sich auf: die massive Verbreitung der Berechnung in Kaufkraftparitäten in der zweiten Hälfte der 80er Jahre war eher ein ideologisches als ein wissenschaftliches Phänomen.

[1] OECD, Rückblickende Statistiken, 1960-1994 S. 67, Jahr 1992 für Kanada.

[2] OECD, Kaufkraftparitäten und wirkliche Ausgaben, Band 1, 1993, Seite 11.

[3] Vor dem Sturz. Das Ende der Sowjetherrschaft. 1976. Deutsche Ausgabe 1982.
vordemsturz

Kommentare:

  • Was amerikanische Wähler, vor allem diejenigen Trumps, im Jahr 2016 massiv zum Ausdruck bringen, nämlich, dass sie Grund haben, mit ihrer tatsächlichen Lage unzufrieden zu sein, hat Emmanuel Todd bereits vor 18 Jahren, also vor der DotCom-Blase, diagnostiziert. Die USA lagen bereits damals bei Reichtum und Produktivität hinter anderen westlichen Ländern. Peter Thiel hat in einer hervorragenden Rede zur Wahl gerade in dasselbe Horn geblasen.
  • Er hat ebenfalls gezeigt, dass das kein Phänomen „zurückgebliebener“ Minderheiten war, sondern sich in den Durchschnittswerten pro Kopf und in unbestechlichen demografischen Parametern wie der Kindersterblichkeit deutlich sogar seit den 1960er Jahren niedergeschlagen hat.
  • Er hat ebenfalls eindrucksvoll gezeigt, dass das Problem ökonomischen Eliten in den 80er Jahren bewusst war, so dass sie angefangen haben, die Statistiken um ominöse Kaufkraftparitäten zu korrigieren
  • Diese Berechnung nach Kaufkraftparitäten ist aber nicht nur anti-liberal, weil sie den Einfluss von Marktpreisen eliminiert, sondern sie ist regelrecht sowjetisch und entfernt die wirtschaftlichen Statistiken von der Realität des Lebens, wie sie jeder einzelne erfährt. Es ist kein Zufall, dass man den Verdacht frisierter Zahlen kaum in Mainstream-Medien, sondern vor allem in alternativen Medien wie zerohedge.com beinahe täglich findet.
  • Die in diesem Buch enthaltenen Beobachtungen zur wirtschaftlichen Gesundheit der USA haben ihn mutmaßlich zu seinem Bestseller von 2002 animiert:
    weltmachtusa
  • Dieses Buch macht Todd ebenso wenig zum Antiamerikaner wie ihn sein erster Welterfolg zum Ende der Sowjetunion zum Antirussen gemacht hat. Der Mann ist einfach ein kritischer Wissenschaftler, der sich aus der Sicht normaler Bürger die tatsächliche Lage einer Gesellschaft anschaut, ohne sich von Propaganda blenden zu lassen. Seine Überlegungen sind dabei ebenso einfach wie aussagekräftig.
  • Noch kritischer als die soziale und wirtschaftliche Lage der USA beschreibt er seit einigen Jahren die wirtschaftliche und menschliche Katastrophe, die der Euro für Südeuropa darstellt. Es wäre also ganz falsch, wenn wir Europäer ihn als Kronzeugen für einen billigen Antiamerikanismus betrachten würden: In Europa gibt es nicht weniger Probleme und Propaganda der Eliten gegen die eigene Bevölkerung als in den USA.

Nachtrag 22.3.2017:
Jetzt auch in der ZEIT: Kollaps im Hinterland

Nachtrag 25.3.2017:
Jetzt auch in der FAZ: Amerikas Arbeiterklasse kollabiert

Individuum und Gesellschaft

Textauszüge entnommen aus Emmanuel Todds „L’illusion économique“ von 1998 (Deutscher Titel: „Die neoliberale Illusion“).

Elemente der Anthropologie für Ökonomen

Die Wirtschaft gehört zur bewussten Schicht des Lebens der Gesellschaften. Sie steht sogar im Zentrum des Bewusstseins, das die Gesellschaften von sich selbst haben können, weil sie sich auf das Einfachste im Menschen stützt: die Logik des individuellen Eigennutzes. Die wirtschaftliche Aktivität, und nicht nur die Theorie, findet eine Hauptgrundlage im Streben jedes Individuums nach dem größten Nutzen mit dem geringsten Aufwand, einer Haltung, ohne die das Überleben und der Fortschritt der Art nicht vorstellbar sind. Die politischen Philosophien, die versucht haben, die Existenz dieser individuellen Rationalität zu leugnen, ausgebaut zu politischen Versuchen der Ausrottung der Logik des Profits, haben nur zur Entstehung totalitärer Gesellschaften geführt, die berufen sind zu stagnieren und dann zu zerfallen. Das Individuum mit seiner Suche nach Vergnügen und seinem Vermeiden von  Mühen existiert. Diesen Krümel von Rationalität und die ökonomischen Gesetze zu leugnen, die sich davon ableiten, ist eine erste Absurdität.
Eine zweite Absurdität besteht darin zu glauben, dass nur die wirtschaftlichen Gesetze und Individuen existieren. Man muss, um das Funktionieren und die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften zu verstehen, auch das Axiom einer spezifischen Existenz des Kollektiven aufstellen, einer Gruppe, deren Struktur nicht vollständig eine individuelle und bewusste Rationalität aufweist. Die Analyse dieser umfassenden, überindividuellen und unbewussten Formen war das Ziel der Soziologie Émile Durkheims, aber  die Sozial- und Kulturanthropologie hat am besten ihre entscheidenden Funktionen ans Licht gebracht. Ohne sie ist das Überleben der Art ebenfalls nicht vorstellbar.

Das elementare Beispiel einer vorindustriellen Gesellschaft, die dem Mangel der Subsistenz  ausgesetzt ist, erlaubt zu verstehen, wie individuelle wirtschaftliche Rationalität und unbewusste anthropologische Werte zusammenspielen.
Wie reagiert eine bäuerliche Gesellschaft ohne moderne Verhütungsmittel in der klassischen Situation nach Malthus, in der die Bevölkerung schneller wächst als die landwirtschaftliche Produktion? Je nach Zivilisation unterschiedlich.
Im Europa des Ancien Régime, das charakterisiert war durch einen relativ hohen Status der Frau und durch eine gewisse Anzahl von christlichen Verboten, beobachtet man einen Anstieg des Heiratsalters und eine Ausbreitung des endgültigen Zölibats bei Männern und Frauen. Die sexuelle Abstinenz wird als die einzig akzeptable Form der Geburtenkontrolle angesehen. Das war übrigens auch die Wahl von Malthus, Nationalökonom und Pastor.
In Nordchina, wo das System des patrilinearen Verwandtschaftsverhältnisses die universelle und frühzeitige Ehe mit sich bringt, besteht die ganz andere Antwort auf die demografische Spannung in einer größeren Häufigkeit des Kindsmords an weiblichen Säuglingen, eine vernünftige Lösung bei Abwesenheit des biblischen „Du sollst nicht töten!“.
In Tibet spielt die erhöhte Sterblichkeit der kleinen Mädchen eine Rolle bei der demografischen Regulierung, die durch eine gewisse Nachlässigkeit bei der Pflege der Neugeborenen weiblichen Geschlechts entsteht, ebenso wie die Erhöhung des Ausmaßes an Zölibat. Aber der tantrische Buddhismus ist nicht so radikal wie das Christentum in seiner Ablehnung der Sexualität. Die Männer, die der Möglichkeit der Heirat beraubt sind und nicht Mönche werden, sehen für sich ein Recht auf sexuellen Zugang zur Ehefrau ihres ältesten Bruders anerkannt, der das Familienvermögen erbt. Diese Sitte wird oft und ein wenig oberflächlich als tibetische Polyandrie beschrieben.

Die Vielfalt der anthropologischen Untergründe, die hier familiäre und religiöse Dimensionen zusammenführen, implizieren verschiedene Lösungen für das universelle wirtschaftliche Problem des Mangels. In diesem Beispiel ist das Entscheidende weniger die Vielfalt der Lösungen als der unbewusste Charakter der anthropologischen Regulierung, das System der Werte, das von der Gruppe geteilt wird und das a-priori definiert, was vorstellbar ist und was nicht. Dieses Unbewusste der Werte der Gruppe dient als Rahmen für eine rationale wirtschaftliche Anpassung der Akteure, die ihrerseits bewusst stattfindet: Die europäischen, chinesischen oder tibetischen Individuen wissen, dass sie ein wirtschaftliches Problem lösen. Sie sehen aber nicht, dass sie dem Gesetz gehorchen, dass sie das Gesetz der Gruppe leben, ein unsichtbares Bad, das ihre Handlung modelliert.
Hier liegt vermutlich einer der Ursprünge der Kraft der ökonomischen Argumentation, die sich immer und überall auf einen spontanen und populären Ökonomismus stützt, der der formalen Entwicklung der Wissenschaft vorangegangen ist. Denn wenn man einen europäischen, chinesischen oder tibetischen Bauern bittet, sein Verhalten zu rechtfertigen (sexuelle Enthaltsamkeit, Kindsmord oder Polyandrie), wird jeder mit einer gleichen proto-ökonomischen Argumentation antworten, indem er auf dem Begriff des Mangels besteht: „Weil mein Grund begrenzt ist, kann ich nicht heiraten, ist es mir unmöglich,  alle meine Kinder großzuziehen oder bin ich gezwungen, die Frau meines ältesten Bruders zu lieben“. Die anthropologische Festlegung, der Sinn, der lokal den fundamentalen Taten des Lebens durch das anthropologische System gegeben wird, wird durch einen blinden Fleck maskiert.  Das oberste Paradox ist es, dass die Vielfalt der Reaktionen, Widerschein der Pluralität der anthropologischen Untergründe, das Hervortreten einer gleichen ökonomischen Logik an allen Orten nicht verhindert, die die Illusion einer Kommunikation zwischen Gesellschaften erzeugt. Die ökonomische Argumentation erscheint im Inneren jedes Wertesystems notwendig und legitim. Alle diese anthropologischen Formationen, wenn sie sich einmal entwickelt haben, alphabetisiert worden sind und angefangen haben, Forscher und Wissenschaftler zu produzieren, werden anfangen, Ökonomen zu exportieren, die anlässlich ihrer internationalen Kolloquien mühelos kommunizieren können beim Zelebrieren der individuellen Rationalität. Der Homo Oeconomicus ist in gewisser Weise universell, aber er handelt immer im Inneren eines unbewussten anthropologischen Systems.

…..

Der absolute Individualismus vergreift sich an der menschlichen Natur ebenso sicher wie der Totalitarismus. Deshalb endet die Verneinung der Gruppen und der kollektiven Überzeugungen immer damit, dass sie die Entstehung unerwarteter und perverser Formen von Gruppen provoziert. Der aktuelle Antinationismus der französischen und angelsächsischen Eliten, der einen vollendeten und befriedeten kollektiven Glauben verwirft, hat in den vergangenen Jahren ganz natürlich zur Blüte von vielfältigen Glaubensformen geführt, die sich auf unwahrscheinlichere und weniger nützliche Gruppen als die Nation beziehen: Rasse, Pseudoreligion, Tribalismus, Regionalismus, hysterisierte sozioprofessionelle Identitäten, Zugehörigkeit zu Gruppen, die durch eine sexuelle Präferenz definiert werden, ohne natürlich den regressiven Nationalismus vom Typ Le Pen zu vergessen. Diese primitiven Auswüchse sind das Gegenstück des ultraliberalen und Maastricht’schen Antiglaubens.

Unser Jahr 2000 erscheint schon wie aus einem philosophischen Märchen des 18. Jahrhunderts hervorgeholt, das sich als Ironie-Thema das ebenso unlösbare wie nichtexistente Problem der Beziehung des Individuums zur Gruppe gegeben hätte.
Es gibt eine doppelte anthropologische Offensichtlichkeit:

  1. Das Individuum existiert mit seiner Persönlichkeit, seinen eigenen Wünschen, seinen Vorzügen und Mängeln und seiner Fähigkeit zum ökonomisch rationalen Kalkül.
  2. Die Gruppe existiert und ohne sie ist das Individuum nicht vorstellbar, weil es aus ihr seine Sprache, seine Sitten und sein A-Priori bezieht, das nicht verifiziert, aber notwendig ist für das Leben, dass nämlich die Dinge einen Sinn haben.

Die anthropologische Realität ist also, dass das Individuum absolut existiert und dass die Gruppe absolut existiert, was in keiner Weise verhindert, dass das Ausmaß der Integration des Individuums in die Gruppe enorm variiert je nach familiärem oder anthropologischem System. Aber das Individuum gegen das Kollektiv zu stellen, ist eine metaphysische Absurdität. Dieser Dualismus kann nicht zur Einheit reduziert werden. Wir sehen jedoch immer wieder in regelmäßigen Abständen Ideologien heraufziehen, die behaupten, dass entweder allein die Gruppe existiert, eine Hypothese die geradewegs in den Totalitarismus führt, oder dass allein das Individuum existiert. Das ist eine ebenso radikale Wahl, die zu einem Ergebnis führt, das gar nicht in jedem Punkt so anders ist, weil sie ein Individuum mit sich bringt, das von der Leere aufgesaugt wird statt vom Staat zerquetscht zu werden.

Kommentare:

  1. Geniale Einsichten über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, die mich im Ergebnis an geglückte katholische Versuche erinnern, beides unter einen Hut zu bringen. Es ist kein Zufall, dass Todd den Verlust des christlichen Glaubens in Europa immer als ein enormes gesellschaftliches und politisches Risiko beschrieben hat. Eine positive Haltung gegenüber der katholischen Metaphysik ist in diesem Text deutlich erkennbar. Das sollte man wissen, um nicht seine scharfe Polemik gegen den Zombie-Katholizismus als grundsätzlich anti-katholisch falsch zu verstehen.
  2. Sehr interessant sind die Ausführungen über die Ökonomie als eine große Gemeinsamkeit zwischen den Kulturen, die aber zu Missverständnissen führt. Damit bereitet er eine der wesentlichen Erkenntnisse des Buches vor: die Existenz mehrerer, extrem verschiedener Kapitalismen in der heutigen Welt. Der angelsächsische Kapitalismus von Gesellschaften individualistischer Prägung ist chronisch defizitär, konsumiert also mehr als er produziert. Der Kapitalismus der Stammfamilie (Japan, Korea und Deutschland) produziert chronisch Überschüsse, weil die Gesellschaften zu viel „sparen“. Die französische neigt bei den Defiziten zur angelsächsischen Wirtschaft, ist aber womöglich überhaupt kein Kapitalismus. Die Koexistenz dieser Volkswirtschaften, die Dasselbe zu meinen glauben, aber etwas komplett Verschiedenes tun und dabei aufeinander angewiesen sind, führt zu ständigen Ungleichgewichten und zu extremer Instabilität der Weltwirtschaft. Diese Aussage aus dem Jahr 1998, also 2 Jahre vor der Dotcom-Krise und 10 Jahre vor der Schuldenkrise, erklärt auch heute bestens die Nichtlösung der Schuldenkrise. Mit dieser Analyse hat er die Ökonomen lange abgehängt, die heute mühsam versuchen zu verstehen, was in ihrer schönen globalisierten Wirtschaft schief läuft.
  3. Das Beispiel vom Kindsmord an weiblichen Säuglingen in der bäuerlichen Gesellschaft Nordchinas erscheint weit in der Vergangenheit zu liegen. Tatsache ist aber, dass die langjährige Ein-Kind-Politik zu einem massiven Überschuss an Männern in China geführt hat. Offensichtlich sind Schwangerschaften mit Mädchen stärker abgebrochen worden als mit Jungen. Die beschriebene Tradition scheint also in der Gegenwart fortzuwirken.
  4. Diese Tradition zeigt die Bedeutung uralter kultureller Prägungen und deren enorme Unterschiede in der Welt, auch ihren massiven Widerspruch zu christlich-abendländischen Traditionen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass die islamische Welt zwar die Freiheit und den Status von Frauen im Vergleich mit Europa beschränkt, aber dass es dort keine solche Tradition der Vernachlässigung und Tötung weiblicher Säuglinge gibt. Statistiken des Zahlenverhältnisses zwischen Jungen und Mädchen sind da recht eindeutig und unbestechlich. Die starke Betonung kultureller Unterschiede zwischen Europa und islamischer Welt ist also deutlich der geografischen (und teilweise auch kulturellen) Nähe und der starken Zuwanderung aus diesen Ländern geschuldet. Würden wir beginnen, uns damit zu beschäftigen, würden wir auch zahllose weitere Gründe für kulturelle und moralische Inkompatibilität zwischen europäischen und asiatischen Zivilisationen finden, zu chinesischen und indischen beispielsweise. Einige zehntausend Chinesen und Vietnamesen in Deutschland sind kein Problem und auch eine Bereicherung, mit Millionen Neueinwanderern sähe das bald anders aus. Es ist kein Rassismus, das zu behaupten, sondern ein demütiger Realismus. Ich behaupte nicht, dass die chinesische Kultur der deutschen oder europäischen gegenüber absolut betrachtet minderwertig sei.
  5. Neben Islamfeinden, die die islamische Welt im Vergleich womöglich viel zu düster zeichnen, wäre es gerade auch Multikulti-Gläubigen zu empfehlen, sich ein wenig mit anthropologischen Fakten zu beschäftigen, die sich eben nicht in allen Fällen mit einer billigen Moral- und Toleranzsoße zudecken lassen. Also: Wie sieht es aus mit der Toleranz für die bevorzugte Tötung weiblicher Föten? Und mit der Abtreibung als Türöffner für eine solche Praxis? Ist das christliche Abtreibungsverbot also wirklich nur ein reaktionäres Relikt gewesen oder hat es immer noch einen moralisch einwandfreien Kern? Apropos: Todd bringt in dem Text oben deutlich zum Ausdruck, dass die Tradition sexueller Enthaltsamkeit im christlichen Europa in Zeiten des Mangels tatsächlich eine Alternative zur Kindstötung geboten hat, wie sie in Asien (und anderswo) praktiziert wurde. Natürlich kennt das christliche Abendland eine Menge Heuchelei, zum Beispiel Schwangerschaften, Abtreibungen und Kindstötungen im Kloster. Die christliche Sexualmoral hat darüberhinaus aber auch positive Wirkungen gehabt.

Anti-Populismus und Anti-Nationismus

Der letzte Auszug aus Emmanuel Todds „L’illusion économique“ von 1998 (Deutscher Titel: „Die neoliberale Illusion„) stellte die These auf, dass Demokratie und Nation durch die Entstehung einer höher gebildeten Schicht in allen entwickelten Gesellschaften mehr oder weniger stark unter Druck geraten seien. Die neue Ungleichheit sei nicht Folge der  Globalisierung und des Neoliberalismus, sondern der Ausbreitung neuer Bildungsunterschiede. Die neue soziologische Ungleichheit sei ihrerseits der Motor der  Globalisierung und dessen, was wir gemeinhin „Neoliberalismus“ nennen.
In diesem  Auszug geht es jetzt um die Techniken und Argumente, mit denen die höher gebildeten Schichten das Volk entmündigen und entmachten wollen:

Der Anti-Populismus in Frankreich

Der Mai 1968 stellt einen Wendepunkt dar. Die Ereignisse setzten ein letztes Mal die Solidarität der Arbeiterschaft und der linken kulturellen Elite in Szene. Die revoltierenden Studenten proklamieren lautstark ihre Solidarität mit der Welt der Fabriken. Das Unterbewusstsein der linken Bewegung ist jedoch bereits inegalitär…. Als die Agitation einmal abgeklungen ist, beinhalten die nachfolgenden linken Bewegungen eine starke antipopuläre Komponente. 20 Jahre vor Maastricht, mehr als 10 Jahre vor der Entstehung des Front National, beginnt die Anklage gegen das französische Volk, seine Neudefinition als intellektuell und moralisch ungenügend durch Eliten, die sich für links halten…
Die Verteufelung des Volkes ist der Entstehung des Populismus um 15 Jahre vorangegangen. Um genau zu sein, hat sie diese Entstehung provoziert…

Das Unterbewusstsein ist inegalitär und leitet sich von der neuen kulturellen Schichtenbildung ab. Es drückt sich auf brutale Art durch die Verachtung der populären Haltungen aus, wenn sich ganz präzise politische Anlässe bieten. Die Anhänger des Neins zum Maastricht-Vertrag werden mit unkultivierten Wesen in Verbindung gebracht, manchmal mit Analphabeten. Das Volk „versteht nicht“ die „Notwendigkeit“ der Währungsunion, noch die von Reformen für mehr Flexibilität, die einer Senkung der Gehälter, die einer Infragestellung der Sozialversicherung oder der Umgehung des Rentensystems durch Pensionsfonds. Die Verblendung der Eliten sticht hier ins Auge, weil es ja offensichtlich ist, dass das einfache Volk im Gegenteil die Spielchen mächtig gut versteht, die man mit ihm spielen will.

Eine allgemeine Tendenz der Presse, das Ausmaß von Problemen mit Analphabetismus zu überschätzen, verrät die neue soziokulturelle Situation. Eine Überschrift der Tageszeitung „Le Monde“ vom 3. Mai 1996 … ist charakteristisch: „26% der Schulkinder können am Ende der Regelschulzeit nicht lesen oder rechnen.“ Eine solche Darstellung suggeriert die Existenz eines guten Viertels von Analphabeten in der französischen Bevölkerung. Die Betrachtung der Detailergebnisse im Artikel selbst zeigt, dass nur 9% der Schüler die Basiskompetenzen beim Lesen nicht beherrschen und dass 23,5% Schwierigkeiten beim Rechnen haben. Die logisch absurde Vereinigung der beiden Kategorien führt zu Definition einer großen kulturell zurückgebliebenen Klasse, eines illegitimen Volkes. Rein anekdotisch kann man gar nicht anders als vom mathematisch fehlerhaften Titel des Artikels ableiten, dass sein Autor zu den 23,5% der Franzosen gehört, die Schwierigkeiten mit dem Rechnen haben. Aber das beharrliche Bestehen der Presse auf diesem Fehler zeigt das inegalitäre kulturelle Vorurteil. Am 27. September 1997 zögert die Wochenzeitung „Le Point“ nicht zu behaupten, dass 40% der Kinder nicht lesen können. Der bereits radikale Pessimismus der „Monde“ wird weit überschritten, aber auf Kosten jeder soziologischen Glaubwürdigkeit. Bei diesem Niveau von Analphabetismus, das für bestimmte Länder der Dritten Welt typisch ist, müssten wir ständig von Passanten angesprochen werden, damit wir ihnen helfen, einen Straßennamen zu entziffern, ihre Kreditkarte zu benutzen oder eine Telefonnummer zu tippen.
Mit der Denunziation des „Populismus“ durch die „Eliten“, zwanghaft in der ersten Hälfte der 90er Jahre, streift das inegalitäre Unterbewusste am Auftauchen ins Bewusstsein vorbei. Der Populismus ist eine der französischen politischen Kultur völlig fremde Kategorie. Er ist unvorstellbar im Land von 1789, 1830, 1848, 1871 und 1936. Was denunziert wird, ist also ganz einfach das Volk und sein Recht sich auszudrücken durch Wahl, Streik oder eine Demonstration.…

In den kultivierten Klassen führt die Kombination eines egalitären Unbewussten und eines inegalitären Unterbewussten dazu, dass sie sich mit den Immigranten solidarisch fühlen und losgelöst von den Arbeitern mit älteren französischen Wurzeln… Das Paris derjenigen mit einem Hochschulabschluss … hat sich entflammt für die Verteidigung der Rechte der Immigranten, nachdem es bewegt wurde durch die Probleme der illegalen Einwanderer ohne Papiere, aber es gelingt ihm immer noch nicht, sich für das Volk in den Provinzen zu interessieren, das gefoltert wird von einer Europa- und Wirtschaftspolitik, die nicht aufhört, die Arbeitslosigkeit steigen zu lassen.

Die Ablehnung der Immigranten durch die Arbeiter, die Liebe der höheren linken Kader ausschließlich für die Immigranten sind die beiden komplementären Gesichter der gleichen Tendenz der französischen Gesellschaft zur Perversion des egalitären Sentiments.

Die Fragmentierung der Nationen als endogenes Phänomen: der Anti-Nationismus

Wir können jetzt den wirklichen Sinn der Angriffe verstehen, deren Objekt die Nation ist, von Seiten der Ökonomen, die ihre Überwindung feiern, wie von Seiten der Ideologen, die ihre intrinsische Barbarei stigmatisieren. Die offensichtliche Auflösung der Nation ist ein endogenes Phänomen, das aus der Aufspaltung der kulturellen Sphären resultiert. Ihre Entstehung war eine Wirkung der egalitären Homogenisierung, ihre Infragestellung eine Folge der kulturellen Aufspaltung. Man sieht, wie der Anti-Nationismus eine Ungleichheitsmaschine ist. Denn die Nation, die die Reichen und die Armen in ein Netz aus Solidaritäten einschließt, ist für die Privilegierten in allen Augenblicken eine Unannehmlichkeit. Sie ist die Voraussetzung von Institutionen wie der Sozialversicherung, die in der Praxis ein System der nationalen Umverteilung ist, unverständlich ohne die Hypothese einer Gemeinschaft von solidarischen und gleich(wertig)en Individuen. Der Anti-Nationismus ist für die höheren Klassen, die sich von ihren Verpflichtungen befreien wollen, funktional, wirksam und diskret. Er ist geeignet, den der (französischen) Gesellschaft innewohnenden Egalitarismus zu delegitimieren, indem er ein ganz und gar ehrenwertes Projekt aktiviert, das den Nationalismus überwindet und mit ihm die Phänomene von Aggressivität zwischen Völkern…
Die endogene Dynamik der Fragmentierung der Nationen drückt sich aus durch die wirtschaftliche Öffnung und führt zu dem sichtbaren und bewussten Phänomen, das die Globalisierung ist….

Vom demografischen, anthropologischen Standpunkt oder vielleicht sogar vom gesunden Menschenverstand aus, sind das Volk und die Nation essentiell ein und dieselbe Sache. Ich würde sagen, dass die Infragestellung Frankreichs durch die französischen Eliten das Erscheinen des National-Populismus provoziert hat.

Ein Widerspruch für alle Nationen:
die Koexistenz von Gleichheit und Ungleichheit


Die Homogenisierung durch die Massenalphabetisierung ist eine Errungenschaft, die in keiner Weise durch das ungleiche Fortschreiten der höheren Bildung in Frage gestellt wurde. Die verschiedenen entwickelten Nationen der Welt sind heute auf der Ebene der Primärbildung homogener als jemals zuvor in ihrer Geschichte…
Das ist das fundamentale Paradoxon der entwickelten Gesellschaften: die Überlagerung einer unangetasteten nationalen Homogenität und einer neuen Schichtenbildung, die mit der Entwicklung der sekundären und höheren Bildung in Zusammenhang steht. Die privilegierten Klassen versuchen, den Widerspruch so zu drehen, dass sie sich einen Anstieg des Analphabetismus in den unteren Klassen einreden. Aber die soziologische Wahrheit ist, dass die entwickelte Welt mit dem Widerspruch seiner primären nationalen Homogenität und kulturellen Schichtenbildung darüber leben muss. Deshalb ist das Verschwinden der Nation eine Illusion, auch wenn der Anti-Nationismus sehr wohl eine Doktrin unserer Zeit ist. Er ist eine tragische Illusion, deren Macht zu einer wirtschaftlichen Inkohärenz der entwickelten Welt geführt hat durch die desaströsen Experimente, die der komplett freie Welthandel und die Währungskonstruktion Europas darstellen.

Kommentar:

  • Die für die Argumentation zentrale Beobachtung Todds zur Übertreibung und Instrumentalisierung des Analphabetismus durch die Medien kann ich aus persönlicher Erfahrung bestens bestätigen: jahrelang habe ich solche Hiobsbotschaften ebenfalls in den Zeitungen gelesen und wirklich geglaubt, dass die Schulbildung der Kinder generell den Bach runtergeht. Als dann meine ältesten Kinder in der Grundschule waren und ich mir die Arbeitsblätter und Lernkonzepte mal genauer angesehen habe, hat es mich wie der Blitz getroffen: das war (in einer ganz normalen Grundschule genau zwischen einem eher einfachen und einem bürgerlichen Stadtteil Münchens) in Darstellung und Niveau um Klassen besser als alles, was wir in der guten alten, heilen Zeit der 70er Jahre in der Grundschule eines Schwarzwald-Dorfes gemacht hatten. Und auch heute noch ist die Grundschule genauso gut, wie ich täglich an meiner jüngeren Tochter sehe. Todd hat Recht: das Volk wird nicht dümmer, solange es nicht zu sehr auf das selbstgefällige Gewäsch von Medienleuten hört.
  • Fast jeder kennt derzeit die Kommentare in Medien, dass es ein Fehler gewesen sei, das britische Volk über den Brexit abstimmen zu lassen. Die gleiche Art von Geringschätzung gerade in als „links“ geltenden Medien für die demokratische Praxis der bewährten Schweizer Volksabstimmungen ist mir schon zuvor deutlich aufgefallen. Solche Ressentiments haben keine empirische Grundlage: das schweizerische politische System produziert seit 150 Jahren bessere Ergebnisse als das deutsche. Sie gründen in einem inegalitären, antidemokratischen Unterbewusstsein, mit dem „höhere“ Menschen (alias: moderne Priester) sich einreden, dass sie das Volk zu seinem Besten bevormunden sollten. Und wichtig ist, dass diese Tendenzen nicht neu sind, sondern für wachere, intelligentere Beobachter (als ich es bin) schon sehr lange erkennbar sind und zum Beispiel in diesem Buch schon vor 18 Jahren detailliert beschrieben wurden.
  • Mir ist das von Todd beschriebene Phänomen einer völlig verzerrten Elitensicht erstmalig 2002/2003 in der Debatte um den 2. Irakkrieg extrem stark aufgefallen: alle öffentlichen Argumente für den Krieg standen erkennbar auf wackligen Beinen und haben sich bald als Unsinn erwiesen. Trotzdem war „dumm und unwissend“ damals immer nur das oppositionelle Volk, das sich besonders zahlreich und wütend in England versammelt hat. „Verantwortungslos und populistisch“ waren diejenigen Politiker und Journalisten, die aus dem Elitenkonsens ausgeschert sind, nicht diejenigen, die ihn mit falschen Behauptungen und offenen Drohungen erzwingen wollten. Todds Analyse bringt es auf den Punkt: es handelt sich um einen mit Argumenten nicht widerlegbaren Anspruch einer selbsternannten „Elite“, auch gegen das Volk zu regieren und „Populisten“ deshalb als besonders gefährliche Gegner zu bekämpfen.
  • Todd führt den französischen Anti-Populismus allein auf die 68er Bewegung zurück und bestätigt damit eine Ansicht, die in der deutschen Rechten ebenfalls sehr verbreitet ist.Es wäre aber absurd zu behaupten, dass er der Rechten nachläuft, denn er polemisiert schon seit Jahrzehnten gegen den Elitenkonsens, insbesondere den linken. Andererseits hindert ihn das nicht daran, sich für die soziale Frage und gleichzeitig für die Assimilation von muslimischen Einwanderern stark zu machen. Im dritten Schritt lehnt er dann wieder Masseneinwanderung scharf ab. Ein bewundernswerter Freigeist und sozialliberaler Patriot!
    In Deutschland gibt es auch einen sehr alten Anti-Populismus, der früher gerne gegen links aktiviert worden ist. Aber den 68er Anti-Populismus gibt es hierzulande sicherlich auch. Dieser verbündet sich gerne mit dem alten Anti-Populismus und geißelt dann „die Querfront“.

Höhere Bildung, höhere Menschen

Der vorangegangene Text aus Emmanuel Todds „L’illusion économique“ von 1998 (Deutscher Titel: „Die neoliberale Illusion) behauptete im letzten Satz:
Genau eine kulturelle Entwicklung, eine notwendige Folge des Alphabetisierungsprozesses, hat die Idee der Ungleichheit begünstigt und diese doppelte Verneinung (von Nation und Demokratie) ermöglicht.
Diese Entwicklung wird in diesem Kapitel beschrieben:

Von der höheren Bildung zu den höheren Menschen

Wenn die Alphabetisierung der Massen einmal realisiert ist, bleiben die Gesellschaften nicht stehen in einem stabilen Zustand der allgemeinen primären Bildung. Die Menschheit geht ihren Marsch nach vorne weiter durch die Verbreitung der Sekundärbildung und der Hochschulausbildung. Aber die Entstehung einer postprimären Bildung, die quantitativ bedeutend ist, bricht die Homogenität des sozialen Körpers. So bricht ein neuer soziokultureller Zyklus an: Die Entstehung einer massiven Gruppe, die durch höhere Studien definiert wird, seien sie abgeschlossen oder nicht, ist eines der entscheidenden Phänomene der Nachkriegszeit, die versteckte Kraft, die auf die meisten der wesentlichen ökonomischen und politischen Veränderungen drückt. Diese Entwicklung wurde zunächst als ein positives Phänomen wahrgenommen, als eine der unzähligen und zuträglichen Erscheinungsformen des Fortschritts. Die Entwicklung der Universitäten und der Anzahl von Studenten war eine neue Jugend der Welt, die sehr schnell in der gesamten westlichen Sphäre in mächtige Bewegungen des Protests mündet: gegen den Krieg in Vietnam, den sexuellen Konformismus und den Autoritarismus der Vergangenheit. Aber diese Studenten, die sich mit der Zeit in Erwachsene reifen Alters verwandeln, haben schließlich durch Zusammenballung zusätzlicher Schichten eine wahrhafte soziokulturelle Schichtstufe gebildet, die intellektuelle Kompetenzen, moralische Gewohnheiten und spezifische politische Werte trägt, von denen wir sehen werden, dass sie heute weit davon entfernt sind, die Idee vom Fortschritt zu begünstigen.

Die glückliche Überraschung der Jahre 1500-1900 wird gewesen sein, dass die Schrift, die zu Beginn das magische Instrument der Priester gewesen war, tatsächlich für alle zugänglich war. Die schmerzhafte Offenbarung der Jahre 1950-1990 wird gewesen sein, dass die Sekundär- oder  Hochschulbildung nicht in egalitärer Weise auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt werden kann.

Man kann die wahre Ursache der Rückkehr der Idee von der Ungleichheit unter den Menschen nicht besser auf den Punkt bringen. Diese Ursache ist nicht ökonomisch, sondern tiefer im Unterbewusstsein der fortgeschrittenen Gesellschaften angesiedelt: es handelt sich um die kulturelle Fragmentierung, die durch die Sekundär- und Hochschulbildung herbeigeführt worden ist. Dieses Unterbewusste beeinflusst alle bewussten Vorstellungen von der sozialen Struktur. Die Lehren von der Ungleichheit florieren; die ökonomischen Ungleichheiten verschärfen sich. Wir finden hier eine gegenüber dem Aufstieg des Ideals der Gleichheit während der Phase der Homogenisierung der Gesellschaft durch die Massenalphabetisierung umgedrehte Bewegung. Der Vormarsch der Primärausbildung zog den der Demokratie nach sich; derjenige der Sekundär- und Hochschulausbildung die Wiederinfragestellung der Demokratie…

Auch zur Frage der Legitimation der Höherstellung der höher gebildeten Schichten trifft Todd in diesem Buch Aussagen:

Die Wiederkehr der Ungleichheit und die Fragmentierung der Nationen

…Was soll es für die ökonomische Theorie, dass die Bestbezahlten der Bestbezahlten nicht die Wissenschaftler sind und die Ingenieure, deren wirtschaftliche Nützlichkeit gewiss ist, sondern die Verhandler von Verträgen und die Medienleute – die von Robert Reich in „The Work of Nations“ so genannten „Manipulateure der Symbole“, deren Aktivität sich nicht in einer Erhöhung der nationalökonomischen Produktivität ausdrückt. Die Privilegierten nach Reich, der selbst Anwalt ist, sind nur noch ausnahmsweise die wissenschaftlichen und technischen Meritokraten, die von früheren Generationen angepeilt worden sind…
Als Michael Young 1958 in „The Rise of the Meritocracy“… die neue soziale Schichtenbildung beschrieben hatte, die logisch aus dem Bildungsfortschritt entstehen musste, waren seine Meritokraten noch Wissenschaftler…
Der Meritokrat der Jahre 1950-1970, Anführer einer egalitären Gesellschaft, begründete seine Existenz durch seine technische Fähigkeit, die Natur zu dominieren und aus ihr die Produktivitätsgewinne für alle zu erzielen. Der Meritokrat des Jahres 2000 dominiert die Gesellschaft und entzieht aus ihr das Einkommen für sich selbst…
Es ist nicht alles falsch in den Erklärungen der Ungleichheit, die die spezifische ökonomische Nützlichkeit bestimmter höherer intellektueller Ausbildungen hervorheben. Man findet in jeder industriellen Gesellschaft einen erhöhten Anteil von Individuen, deren intellektuelle und technische Kompetenz erklärt, dass sie besser bezahlt werden als Arbeiter ohne Qualifikation, ein Phänomen, das im Zeitalter der Automatisierung besonders offensichtlich ist. Aber wir wissen alle, dass weder die Doktoren der Molekularbiologie, noch die Ingenieure, die die Atomkraftwerke, den Airbus, den TGV und die Ariane-Rakete ersonnen haben, noch sogar die Informatiker, die die Algorithmen ausarbeiten, die zur Ersetzung der unqualifizierten Arbeit notwendig sind, die wirklich privilegierten des Systems sind. Der Multiplikationsfaktor, der es erlaubt, vom Lohn eines Arbeiters zum Gehalt eines Forschers zu kommen, ist weder in Frankreich noch in den USA maßlos zu nennen.
Der industrielle Wert eines Ingenieurs ist unbestreitbar höher als der eines unqualifizierten Arbeiters. Aber es ist nicht möglich, die Nützlichkeit eines Arbeiters direkt derjenigen eines Anwalts oder eines hohen Beamten gegenüber zu stellen. Die amerikanischen Anwälte, die ihr Gehalt aus der Ausbeutung der Fehlfunktionen ihrer Gesellschaft ziehen, haben keinen wirtschaftlichen Wert auf internationaler Ebene. Es ist außerdem gewiss, dass die Inspektoren der französischen Finanzverwaltung zwar sehr gut aufgestellt sind, um ihre Privilegien beim Gehalt und der Arbeitsplatzsicherheit zu verewigen, aber für die französische Gesellschaft wegen ihrer krassen Inkompetenz in Wirtschaftsfragen eher einen Netto-Kostenfaktor als einen Gewinn darstellen. Ihre soziale Nützlichkeit ist negativ. Wenn wir die Informatiker aus Frankreich ausweisen, bricht das Bruttoinlandsprodukt zusammen. Wenn wir die Inspektoren der Finanzverwaltung deportieren, die den starken Franc lieben, wird sich das Bruttoinlandsprodukt wieder erholen. Aber wir können bei einem höheren Gehaltsniveau selten bestimmen, was von einem inneren ökonomischen Mehrwert kommt, und was sich von einer spezifischen Fähigkeit ableitet, der Gesellschaft Werte zu entziehen, von einer sozialen Rente zu profitieren…

In einem früheren Kapitel hat sich Todd insbesondere mit den USA beschäftigt, die nach seiner Darstellung in den 50er bis frühen 60er Jahre ihren höchsten kulturellen und Ausbildungsstand erreicht hatten und den europäischen Nationen weit enteilt waren, bevor sie diesen Stand weder verbessern noch halten konnten und von einem brutalen Rückschlag ereilt wurden, von dem sie sich bis heute nicht mehr erholt hätten. Er schreibt nach einer ausführlichen Besprechung der Bildungsstatistiken, die diesen Befund belegen:

Der Absturz der Jahre 1963-1980

…Man kann, wenn man sich dieses Absackens nicht bewusst ist, die zahlreichen regressiven Phänomene nicht verstehen, die in den 70er, 80er und 90er Jahren das amerikanische Leben befallen: die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die intellektuelle und künstlerische Provinzialisierung, die Entstehung eines schnellen und gewalttätigen Kinos, die Entwicklung absurder Sozial- und Geschichtswissenschaften, die den Konflikt zwischen Mann und Frau ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellen (gender studies), die Obsession mit sexueller Belästigung, die Infragestellung der Abtreibung, die Rückkehr von Kreationisten, die Darwin und der Entstehung der Arten feindlich gegenüberstehen, die Verrottung der Justiz und eine Repression mit einer Anzahl von Individuen, die eine Strafe im Gefängnis absitzen, die zwischen 1980 und 1993 von 1´840´400 auf 4´879´600 ansteigt. Die massive Wiederkehr der Todesstrafe drückt besser als jedes andere Phänomen die geistige Regression aus, die die amerikanische Gesellschaft befallen hat: die Anzahl der Häftlinge, die in der Zelle auf ihre Hinrichtung warten, steigt zwischen 1980 und 1994 von 688 auf 2890. Diese Modernität entkoppelt sich effektiv von der Idee des Fortschritts.

Fazit:

  1. Todd sieht die Ursache für den Niedergang sowohl von Demokratie als auch Nationen in einer neuen Ungleichheit, die die Ergebnisse von Jahrhunderten der Egalisierung und Demokratisierung angreift.
  2. Eine neue Kultur der Ungleichheit gehe von dem erheblichen (i.A. ca. 20%) Teil der Bevölkerung aus, der sich mit seiner höheren Bildung zu einem höheren Menschen machen wolle.
  3. Dieser Teil der Bevölkerung sei in Europa in der 68er-Epoche unter linker Flagge gesegelt, habe aber jedes linke Ideal, insbesondere das einer A-Priori-Gleichheit der Menschen und einer meritokratischen Ausübung von Führung beinahe flächendeckend über Bord geworfen und in sein Gegenteil verkehrt.
  4. Die rein ökonomische Begründung der Ungleichheit sei nicht haltbar. Die Ungleichheit sei nicht Folge, sondern der geistige Motor, der die wirtschaftliche Entwicklung (in einer fatalen Richtung) antreibe.
  5. Die „Illusion“ im Titel seines Buches bezieht sich also nicht nur auf die Illusionen in den Erwartungen an die wirtschaftliche Entwicklung (die er auch erläutert, unter anderem an Hand der Entwicklung der Demografie und der massiven Ungleichgewichte und Verschuldung in der Weltwirtschaft, was sich inzwischen brillant bestätigt hat), sondern vor allem auch in der Verdrehung der Beziehung von Ursachen und Wirkungen.
  6. Todd ist ein überragender Denker auch linker (=egalitärer), vor allem aber rationalistisch-liberaler Ausrichtung, wie es nur sehr wenige gibt. Mit seinem furchtlosen Nonkonformismus und seiner legendären Vorhersagekraft bei der empirischen Analyse auch und vor allem linksautoritärer Regressionen hat er seit seinem spektakulären Erfolg von 1976 nicht nachgelassen: „Vor dem Sturz. Das Ende der Sowjetherrschaft.

Demokratie und Nation

Ein Text anlässlich des Brexits vom vergangenen Donnerstag entnommen aus Emmanuel Todds „L’illusion économique“ von 1998 (Deutscher Titel: „Die neoliberale Illusion“). Die zentrale Aussage des in Cambridge in Geschichtswissenschaft promovierten und für einen französischen Intellektuellen sehr anglophilen Emmanuel Todd lautet:
Demokratie und Nation sind also nur die zwei Gesichter, inneres und äußeres, einer Gesellschaft, die durch die Massenalphabetisierung homogenisiert worden ist. Das ist der Grund, warum diese beiden Konzepte für die Menschen des 19. Jahrhunderts so nah beieinander lagen. Der aktuelle Wille, sie zu trennen, indem man die Demokratie positiv beurteilt und die Nation negativ, wäre ihnen als eine logische Unmöglichkeit erschienen… Die Nation zu verneinen bedeutet in der Praxis auch, die Demokratie zu verwerfen.

Und hier die ausführlichere Ableitung dieser Aussage:

Von der Massenalphabetisierung zur Gleichheit

Nach einer kurzen Einleitung über die Beobachtungen Alexis de Tocquevilles zur (im 19. Jahrhundert) unaufhaltbar fortschreitenden Gleichheit der Menschen in den westlichen Gesellschaften fährt Todd fort:
„Nichts kann dieses Fortschreiten auf die Gleichheit der Bedingungen besser erklären als die Diffusion der Alphabetisierung von oben nach unten auf der sozialen Leiter, von den Priestern zu den Adligen und den Bürgerlichen, dann zu den Handwerkern, den Händlern, den Bauern, den Landarbeitern und den Industriearbeitern. Die Schrift ist das fundamentale Mittel des Zugangs zum religiösen oder technischen Wissen; sie erlaubt die Beherrschung der Zeit. Sie ist ursprünglich das Privileg einer hierokratischen Kaste und als solche die Erzeugerin von Ungleichheit. Sie dehnt sich in der Folge in Etappen auf die Gesamtheit der Bevölkerung aus und löst damit gleichzeitig wirtschaftliche Entwicklung und Angleichung der (Lebens)Bedingungen aus. Jeder dieser entscheidenden Schritte verursacht einen demokratischen Schub auf dem politischen oder religiösen Feld. Die protestantische Reformation, die die Gleichheit des Laien und des Priesters im Zugang zur  Heiligen Schrift und zu Gott will, beginnt in Deutschland, wo gerade der Buchdruck erfunden worden ist. In der Folge, wenn 50% der erwachsenen Männer lesen und schreiben können, scheint geradezu mechanisch eine Revolution auszubrechen: in England in der Mitte des 17., im Pariser Becken am Ende des 18., in Russland am Anfang des 20. Jahrhunderts. Wenn wir die Idee akzeptieren, dass die tiefsten Unterschiede unter den Menschen sich auf dem Gebiet der intellektuellen Ausbildung und des Wissens einstellen, müssen wir zugeben, dass lesen und schreiben können 1789 den Bauern auf das Niveau des Adligen hebt und 1848 den Proletarier auf das Niveau des Bürgerlichen. Die Massenalphabetisierung erzeugt eine objektive Gleichheit auf dem geistigen Gebiet. Sie löscht die Phänomene der Vorherrschaft aus, die ursprünglich durch die Erfindung der Schrift erzeugt worden sind.
In einer Gesellschaft, in der die Mehrheit der Männer und der Frauen lesen kann und in der die fortdauernde Verbreitung der Alphabetisierung nahelegt, dass eines baldigen Tages alle dieses Ausbildungsstadium erreicht haben werden, ist die Entwicklung des demokratischen Ideals normal und natürlich. Die Individuen, die die höheren Stufen des Ausbildungsprozesses, Sekundar- und Hochschulausbildung, erreichen, stellen noch einen sehr kleinen Anteil der Bevölkerung einschließlich der wirtschaftlich privilegierten Klassen dar. Die Alphabetisierung wird in ihrer finalen Phase als ein besonderer Moment der Homogenisierung der Gruppe erlebt. Sie wird begleitet von einer Standardisierung der Kommunikation durch das Verschwinden peripherer Sprachen und Dialekte. Auf der politischen Ebene bringt sie eine ausgedehnte und glaubwürdige Gemeinschaft von Männern hervor, die dieselbe Sprache sprechen, lesen und schreiben und folglich debattieren, argumentieren, entscheiden und wählen können. Wenn diese homogene Gemeinschaft ihre innere Struktur betrachtet, denkt sie sich als eine Demokratie. Wenn sie nach außen schaut, denkt sie sich als eine Nation.

Demokratie und Nation sind also nur die zwei Gesichter, inneres und äußeres, einer Gesellschaft, die durch die Massenalphabetisierung homogenisiert worden ist. Das ist der Grund, warum diese beiden Konzepte für die Menschen des 19. Jahrhunderts so nah beieinander lagen. Der aktuelle Wille, sie zu trennen, indem man die Demokratie positiv beurteilt und die Nation negativ, wäre ihnen als eine logische Unmöglichkeit erschienen. Heute findet man sich gut, wenn man den Nationalismus und seine barbarischen Konsequenzen verwirft; aber die Nation zu verneinen bedeutet in der Praxis auch, die Demokratie zu verwerfen. Genau eine kulturelle Entwicklung, eine notwendige Folge des Alphabetisierungsprozesses, hat die Idee der Ungleichheit begünstigt und diese doppelte  Verneinung ermöglicht.“

Anmerkungen zum Brexit und zur EU aus der Perspektive dieses Textes von Todd:

  1. Die von den Brexit-Befürwortern in Anspruch genommene demokratische Motivation ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Ein sehr schönes Beispiel für eine rein demokratische Begründung des Brexits findet man beispielsweise hier.
  2. Die EU hat völlig unabhängig von der konkreten Gestaltung ihrer Institutionen einen fundamentalen Mangel für eine demokratische Ordnung: ihre Vielsprachigkeit erschwert den meisten Bürgern einen direkten Zugang zu Debattenbeiträgen und macht sie noch erheblich abhängiger von Informationsvermittlern, als sie es bereits in einer nationalen Demokratie sind. Weil beispielsweise der oben verlinkte Debattenbeitrag von Ambrose Evans-Pritchard 99,9% der deutschen Zeitungsleser nicht bekannt ist, ist es für hiesige Medien ein Leichtes, englische Brexit-Befürworter pauschal als ausländerfeindliche, ungebildete, arbeitslose Volldeppen, Landeier und Rentner darzustellen, obwohl Ambrose in mehreren europäischen Staaten studiert und gearbeitet hat und ein hoch angesehener Wirtschaftskolumnist ist, der das Brexit-Lager in vielen Beiträgen davor gewarnt hat, die wirtschaftlichen Probleme eines Brexits zu leicht zu nehmen oder unnötig politisches Porzellan in Europa zu zerschlagen.
  3. Der Demograf und Historiker Emmanuel Todd ist seit der ersten Hälfte der 90er Jahre ein Gegner der verstärkten europäischen Integration und insbesondere des Euro. In einem Text von 1995 erläutert er, wie es zu dieser Haltung gekommen ist, obwohl er die europäische Einigung bis dahin mit viel Wohlwollen gesehen hatte und noch immer der Meinung ist, dass sie bis ca. 1980 eine friedensstiftende Wirkung für die Völker Europas hatte.
  4. Der Konflikt zwischen dem Brexit- und dem Remain-Lager ist also nachvollziehbar ein Konflikt über die Abwägung von Vor- und Nachteilen internationaler Kooperation durch supranationale Strukturen, die beinahe notwendigerweise weniger demokratisch sind als nationale.
  5. Bei einer Reform der EU in Richtung zu weniger Zentralismus und mehr Gestaltungsfreiheit für die Nationalstaaten und die Regionen hätten sowohl die Brexit-Befürworter in England als auch die Brexit-Gegner vor allem in Schottland, Nordirland und London (und die übrigen Europäer) gemeinsam glücklicher werden können als mit dem Brexit und dem möglichen Verfall des Vereinigten Königreichs. Es ist (aus heutiger Sicht) ein Versäumnis der EU, das nicht angeboten zu haben und ein Fehler von David Cameron, das nicht hart genug gefordert zu haben als Gegenleistung für seine Unterstützung der Remain-Kampagne.
  6. Weder Brexit-Befürworter noch Brexit-Gegner sind Lichtgestalten oder Monster. Auch die Frage, welche Entscheidung einen Rückschritt darstellt, wird sich (wenn überhaupt) erst in ferner Zukunft beantworten lassen.
  7. Todds Überlegungen sind deshalb besonders wertvoll, weil er sie systematisch und ohne Effekthascherei bereits lange vor den Ereignissen und Konflikten entwickelt hat, die sich dann mit ihnen erklären und einordnen lassen. Er argumentiert also ungewöhnlich glaubwürdig nicht als Interessenvertreter oder Lobbyist, sondern als Sozialwissenschaftler und -philosoph, der Entwicklungen vorausdenkt und ihnen nicht hinterher läuft.
  8. Im letzten Satz des Textes merkt Emmanuel Todd an, dass eine ganz bestimmte Entwicklung zu mehr Ungleichheit und dann zu weniger Nation und weniger Demokratie in den westlichen Gesellschaften geführt hat. Diese eine Ursache und ihre vielen Folgen (Ungleichheit, Internationalisierung, Denationalisierung, wirtschaftliche Globalisierung, Demokratieverlust, Populismusverachtung) werden in weiteren Blogbeiträgen behandelt werden.
    Nachtrag vom 2.Juli 2016:
  9. Die barbarischen Konsequenzen des Nationalstaats, die Emmanuel Todd ausdrücklich anerkennt, kann man zum Beispiel am Hartmannswillerkopf besichtigen:
    Hartmannswillerkopf
    Ich habe das im Mai dieses Jahres getan, über 35 Jahre nach dem ersten Besuch, zu dem unser katholischer Pfarrer seine Ministranten hierhergeführt hatte.
  10. Solche Barbarei durch Nationalstaaten ist ein Argument, um ihre Wiedereinsetzung als alleiniger Entscheidungsrahmen ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Aber sie ist kein Grund, Macht ohne ernsthafte demokratische Kontrolle an die EU abzugeben, die EU als Institution und Personen von demokratischer Herausforderung freizustellen und absolut zu setzen. Denn exakt 100 Jahre nach den Gemetzeln am Hartmannswillerkopf war die EU an der Herbeiführung ähnlich umfangreicher Gemetzel in der Ostukraine beteiligt, mindestens durch Fahrlässigkeit.
  11. Das Argument, dass für die Ostukraine allein Russland verantwortlich ist, lasse ich kategorisch nicht gelten. Schließlich haben sowohl Deutschland als auch Frankreich allein die jeweils andere Seite für das Morden in den Vogesen verantwortlich gemacht, ebenfalls ohne dass sich die Opfer dafür irgendetwas kaufen konnten. 100 Jahre später ist es aber noch ebenso unmöglich wie damals, eine der beiden Seiten von Schuld freizusprechen. Das gilt selbstverständlich für das Deutsche Reich, aber es gilt auch für Frankreich (L’Alsace a tout prix!: Das Elsaß um jeden Preis!)