Trüber Frühling für Europa

Der Gaullist Roland Hureaux hat im französischen Magazin ‚Causeur‘ am 14. Februar einen Kommentar über die außenpolitische Lage Europas veröffentlicht, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt:

matruschkas
Souvenirladen in St. Petersburg

Der trübe Frühling, der Europa erwartet

Chronik des Endes einer Herrschaftsepoche

Westeuropa befindet sich heute im Zustand der Schwerelosigkeit. Alles, was seine Politik in den letzten Jahren bestimmt hat, ist dabei zusammenzubrechen, aber Europa weiß das noch nicht.

Am 20. Januar hat Donald Trump sein Amt im Weißen Haus übernommen; er hat bereits Rex Tillerson, der Putin nahesteht, zum Außenminister ernannt. In einigen Wochen werden sich Trump und Putin persönlich treffen. Sie werden wahrscheinlich eine Liste von Problemen regeln, in erster Linie dasjenige des Nahen Ostens, vielleicht das der Ukraine. Sie werden auch über China sprechen. Werden Sie über Westeuropa sprechen? Das ist noch nicht einmal sicher. Zunächst, weil es nichts Dringendes zu regeln gibt, dann, weil die Meinung der Europäer ihnen sehr unwichtig ist, sobald sie sich einig sind. Und danach? Es ist nicht absurd vorauszusehen, dass wenn sich die guten Beziehungen der beiden Mächte bestätigen, sie eine Art von Co-Vormundschaft über Westeuropa installieren werden.

Die Verlassenheit Westeuropas

Die Verlassenheit der Länder Westeuropas ist groß. Zunächst aus Gründen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage: Rezession, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Geburtenmangel, immense Frustration der Völker. Dann auch aus Gründen ihrer Engagements der letzten 10 Jahre. Die Weigerung Jaques Chiracs im Jahr 2003, am Irakkrieg teilzunehmen, war der letzte Akt des Widerstands einer europäischen Regierung gegen Washington. Seit damals waren die Positionen der Regierungen, der dominierenden Parteien, der wichtigsten Entscheider und der Medien, sich ohne Nuancen an die amerikanische Politik im Hinblick auf Russland und den Nahen Osten anzuschließen; eine Politik, die in Europa darin bestand, den Ukraine-Konflikt zu verschärfen und Sanktionen gegen Moskau zu verhängen, die streng gescholten wurden von einem so maßvollen Mann wie Helmut Schmidt, und im Nahen Osten darin, dschihadistische Bewegungen zu unterstützen, um  vor langer Zeit etablierte Regime zu destabilisieren oder zu stürzen, die von Washington öffentlich angeprangert worden waren.

Es sind in gar keiner Weise die Interessen Europas, die diese Politik erklären, es ist die Unterwerfung seiner Anführer. Sie haben sich in Wahrheit gar nicht nach der amerikanischen Politik als solcher ausgerichtet, sondern nach der neokonservativen Ideologie, die jene seit 25 Jahren inspiriert. Nun hat aber diese Ideologie im November 2016 einen tödlichen Schlag erhalten: die Niederlage Hillary Clintons, die sie personifizierte, für die alle Europäer ohne Ausnahme unter Missachtung des Prinzips der Nichteinmischung Partei ergriffen hatten. Und dann noch einen anderen: die Niederlage der Dschihadisten, die vom Westen unterstützt worden waren, in den Straßen von Aleppo.

Die Reaktion der wichtigsten europäischen Entscheider angesichts des Siegs von Trump war bedeutsam: kalte Communiqués, moralische Lektionen, die ebenso duckmäuserisch wie lächerlich waren (besonders von Seiten der deutschen Kanzlerin). Die Reaktion auf die Ereignisse im Nahen Osten war nicht weniger desolat: unsinnige Denunziation von imaginären Kriegsverbrechen; Initiativen Frankreichs, im Extremfall die Charta der Vereinten Nationen zu ändern, um humanitäre Interventionen zu erlauben in dem Moment, wo diese gerade ein wenig überall ihren desaströsen Charakter gezeigt hatte; Ermutigungen der Briten an gewisse dschihadistische Gruppen, die  Waffenruhe zu brechen, die gerade um Putin beschlossen worden war; und Verlängerung der gegen Russland beschlossenen Sanktionen, während man weiß, dass die USA sie zügig aufheben werden: statt voranzupreschen, graben sich die Europäer in der Leugnung ein.

Angesichts des Zusammenbruchs der neokonservativen Ideologie (ultraliberal in der Wirtschaft und libertär im Gesellschaftlichen), die den gleichen integrativen und globalistischen Charakter hat wie die europäische Ideologie à la Brüssel, sind die Europäer heute wie eine Ente ohne Kopf, die weiterläuft ohne zu merken, dass sie schon tot ist. TTIP, das in gewisser Weise eine Ausdehnung der europäischen Mechanik auf den Nordatlantik darstellte, ist beerdigt.

Zwischen zwei Giganten

Aber das Schwerwiegendste für Europa ist, dass es von nun an mit zwei Giganten zu tun hat: Putin, der in seinem Land populärer ist als jemals zuvor und der angesehene Sieger im Nahen Osten, Trump, der es hinbekommen hat, gegen seine Partei und gegen die Gesamtheit der wirtschaftlichen Oligarchie und der Medien gewählt zu werden.

Keiner der beiden Männer hat Anlass, die geringste Sympathie für die aktuellen Anführer Westeuropas zu haben, die alle gegen sie Partei ergriffen haben, auf dem diplomatischen und militärischen Terrain im Falle Putins, in der Wahlarena im Falle Trumps. Der dritte große Mann, der beunruhigendere, ist Erdogan, dessen Ambitionen sich an einer aufgewühlten innenpolitischen Situation stoßen und den Putin Mühe hat, im Zaum zu halten. Deutlich abgerückt vom Brüsseler Europa bleibt er ein starker Mann.

Angesichts dieser Großen, was für ein Desaster! Deutschland hat sozusagen keine Kanzlerin mehr, so sehr hat sich Angela Merkel diskreditiert, indem sie auf unverantwortliche Weise das Land für eine Million Migranten geöffnet hat. Frankreich hat einen Präsidenten-Zombie, der auf der internationalen Bühne entwertet ist und sich noch nicht einmal zur Wiederwahl stellen konnte. Italien hat den Rücktritt des Illusionisten Renzi gesehen, der politisch so korrekt ist. Frau May scheint noch am besten dazustehen, aber noch wenig bekannt im Ausland scheint sie absorbiert zu werden von Tausend und einer rechtlichen Schwierigkeit des Brexits, wahrscheinlich weil auf keiner Seite des Ärmelkanals jemand wagt, den gordischen Knoten zu durchschlagen. Und lasst uns nicht von Juncker in seinen hellen Stunden sprechen! Das alles vor dem Hintergrund der Krise des Euro, der in der höchsten Not der griechischen Affäre durch den Druck Obamas gerettet wurde. Was wird Trump beim nächsten Mal machen?

Es ist möglich, dass sich Westeuropa, wie es heute funktioniert, auf strukturelle Weise als unfähig erweist, wirkliche Anführer zu erschaffen. In diesem Frühjahr, in dem wir darauf warten, was die französische Präsidentenwahl bringt, die erste im Kalender, wird die Sternenleere, die heute diejenige Westeuropas ist, ganz groß sichtbar werden. Eine ganzer historischer Zyklus kommt für es an ein Ende.

Mein Kommentar:
Ich lasse diesen Text inhaltlich einfach mal so stehen. Man kann das so sehen, muss aber natürlich nicht. Man sollte aber wissen, dass dieses Thema viele in unserem Nachbarland so sehen, rechte und linke Souveränisten, keineswegs nur Anhänger von Le Pen.
Roland Hureaux ist ein konservativer gaullistischer Kommentator der Außenpolitik, der sich am ehesten irgendwo in dem Umfeld einordnen lässt, das den konservativen Präsidentschaftskandidaten Fillon unterstützt.
Denken Sie einfach mal darüber nach, wo Sie in Deutschland eine solche schonungslose Analyse der Lage Europas erwarten würden. Aus welcher Partei, in welcher Zeitung?

Nachträge 26.2.2017:
Lost in EU: Warum Frankreich an der EU verzweifelt.
Die FAZ sieht das Thema ganz anders als Hureaux: Zurück zur russischen Normalität, verwendet aber lustigerweise das gleiche Matruschka-Foto. Die Welt ist klein.

Nachtrag 06.3.2017:
Kein Land in Westeuropa ist (von allen guten Geistern) verlassener als Deutschland. Wie von Hureaux im Artikel (und bereits früher) ausgeführt, wird ihm das von Erdogan vorgeführt: Sultan Erdogan fordert Tribut von Merkel – und sie zahlt.

Nachtrag 10.3.2017:
ZEIT: Es wird einsam um Deutschland. Deshalb brauche Deutschland Frankreich so dringend. Nach meiner Meinung werden die deutsch-französischen Beziehungen damit auf Dauer überlastet. Es darf nicht passieren, dass Frankreich der einzige Freund wird, der die Feindseligkeit aller anderen kompensieren muss. Außerdem ist Angela Merkel dafür die komplett falsche Kanzlerin: sie hat keinerlei Beziehung zu Frankreich, versteht noch nicht einmal die Sprache. Sie hat nur sterile Machtbeziehungen zu französischen Politikern, keinerlei Einblick in die Gemütslage der Franzosen, in ihre Spaltung auch und gerade im Verhältnis zu Deutschland. So wird die deutsch-französische Achse zuerst überlastet werden und dann wird sie brechen, mit katastrophalen Folgen für Deutschland. Es bleibt absolut notwendig, mit Polen, Großbritannien und Italien gleichermaßen in einem guten Dialog zu bleiben, zum Wohle auch des deutsch-französischen Verhältnisses!

Nachtrag 18.3.2017:
Ein Althistoriker aus Belgien sieht Das Ende des Westens.

Nachtrag 01.10.2019:
Es scheint ein bisschen, als ob der franz. Präsident 2,5 Jahre später auf einen außenpolitischen Kurs eingeschwenkt ist, der die Bedenken aufgreift, die Hureaux hier geäußert hat. Meint die NZZ:
NZZMacron

Die strategische Trump-Karte

Anlässlich von Trumps gestriger Amtseinführung (und des immer rein moralischen Medien-Buheis in Deutschland und großen Teilen der westlichen Welt) wollte ich nochmals auf eine intelligente geostrategische Erklärung von Norbert Häring für das Phänomen Trump hinweisen:

Trump – Ein geostrategischer Erklärungsversuch

Trumps Rolle sei es, dem geostrategischen Wechsel vom Buhmann Russland (alias Putin) zum Hauptgegner China ein populistisches Gesicht zu geben. Die Hauptverlierer dieses Schrittwechsels seien die Europäer, weil sie auf einen Wink Washingtons (der gleichzeitig in Preußen auf besonders fruchtbaren Grund gefallen ist) die Last der Sanktionen gegen Russland getragen haben und jetzt düpiert sind. Das ist nicht unplausibel, denn es würde insbesondere die heftigen europäischen Abwehrreaktionen im Vorfeld von Trumps Wahl erklären. Auf die stark verschlechterte geostrategische Lage des amerikanischen Imperiums hatte vor Norbert Haering schon Emmanuel Todd drastischer in diesem Interview hingewiesen: „Das amerikanische System existiert nicht mehr. Sie tun nur noch so als ob“.
Auch Todd plädiert am Ende desselben Interviews für einen anderen Blick auf Russland und geißelt die „russische Obsession“ insbesondere der US-Demokraten. Er vertritt diese Position zu Russland schon mindestens ebenso lange wie er der Meinung ist, dass die amerikanische Hegemonie ihre beste Zeit hinter sich hat. Unter anderem hat er früh darauf hingewiesen, dass die einfache US-Bevölkerung objektiv an der Globalisierung leidet. Hier trifft sich die neue Geostrategie mit den legitimen Interessen normaler Amerikaner.

Deutschland könnte ein Hauptverlierer sein

Wenn aber Norbert Haering sagt, dass die Europäer die Leidtragenden dieses Strategiewechsels seien, dann wird es innerhalb Europas doch enorme Unterschiede geben. Er selbst vermutet, dass der Brexit dabei helfen soll, den Schaden für Großbritannien gering zu halten, einen privilegierten (und natürlichen) Verbündeten der USA.

In Frankreich haben Kommentatoren unmittelbar nach Trumps Wahl darauf hingewiesen, dass Berlin der Hauptverlierer von Trumps Schwenk sein würde:
„Deutschland hat unter dem Strich die amerikanischen Wahlen verloren. Während die französischen Aristokraten bei ihrer betretenen Mimik von erstaunten Männern von Welt bleiben, müssen sich die Deutschen ein wenig Sorgen machen: sie sind die großen Verlierer der Wahl von Trump in den USA“.
Er nennt mehrere Gründe:

  • Die bisherige Russland-Politik sei am Ende. Diese hält er eher für einen preußischen Plot, um alte Einflussgebiete in Osteuropa wieder gegen Russland zu behaupten. Die Preußen hätten es bisher geschafft, die USA als Schild gegen Russland einzusetzen und dabei Frankreich dazu zu bringen, dass es entgegen seinem traditionellem Interesse an einem starken Russland mitmacht.
    Eine steile These: war die Atlantik-Brücke vielleicht gar nicht so sehr eine Einbahnstraße, wie in Deutschland viele vermuten?
  • Trump würde die Europäer nötigen, mehr für Verteidigung auszugeben und das beträfe Deutschland mehr als Frankreich. Letztlich verlange Frankreich von Deutschland schon länger nichts anderes.
  • Trumps Vorgehen gegen einen ungezügelten Freihandel würde nicht nur China treffen, sondern auch Deutschland, den wichtigsten Netto-Exporteur in Europa.

Exakt dieser letzte Punkt ist diese Woche auch endlich in Deutschland angekommen. Drei Ökonomen haben darauf hingewiesen, dass Trump natürlich auch Deutschland meint und damit Recht hat: Heiner Flassbeck, Daniel Stelter und Jochen Fricke.
Wenn Trump behauptet, dass die EU nur noch deutschen Interessen diene, wird er in Südeuropa und Frankreich zweifellos Verbündete finden (die nur die berechtigten Interessen ihrer Länder vertreten) und Europa mit diesem Konflikt effektiv kontrollieren können.

Nicht Moral, sondern Interessen

Es ist also wohl gar kein Zufall, dass die deutschen Medien seit fast einem Jahr wie die Wutbürger auf Trump einschlagen, dass der deutsche Außenminister den diplomatischen Ton zwischenzeitlich hat fahren lassen. Die gewaltigen Interessengegensätze sind relativ klar zu erkennen.
Das hochmoralische Geschwätz kaschiert diese Interessenkonflikte und dient gleichzeitig dazu, eine weitgehend blind moralisierte deutsche Öffentlichkeit hinter einer nationalen Agenda zu versammeln, u.a. der Verteidigung der heiligen Exportindustrie. Das sollte man immer im Kopf behalten, wenn wieder allzu heftig auf die Moraldrüse gedrückt wird. Und vor allem sollten wir als kleine Bürger ernsthaft darüber nachdenken, welche Interessen wirklich legitim und zu wahren sind und welche so zweifelhaft oder unhaltbar sind, dass wir sie lieber freiwillig aufgeben sollten: Billiglöhner haben wenig vom Export, auch wenn er noch so boomt. Dass im Zweifel eher mehr Billiglöhner herangeschafft als Löhne erhöht wurden, konnte jeder seit mindestens 10 Jahren verfolgen. Binnennachfrage ist besser als Export.
Hochmoral ist in der Regel dazu da, Menschen von solchen schlichten Einsichten abzuhalten und für die Interessen von echten Profiteuren einzuspannen.

2017 wird ein spannendes Jahr.

Nachtrag 23.01.2017:
Sehr schöner Kommentar über den moraltriefenden Größenwahn in der Wirtschaftswoche: Deutschland soll die Welt retten? Lächerlich
Ferdinand Knauß ist immer wieder lesenswert.
Matthias Heitmann im Cicero: Das Trumpeltier ist nicht das Problem
„Niemand würde indes einen Abrissunternehmer für einen Architekten halten, auch wenn er zuerst zum Zug kommt.“
Die Gegenrede von Christoph Schwennicke: Das Trumpelstilzchen
„Nicht alle Ansätze von Donald Trump sind falsch. Doch sie werden überschattet von seinem Wesen, das offenbar nie der Pubertät entkommen ist.“
Und Makroskop: Der Trumpf des kleinen Mannes?
„In der Tat, das ist radikal, das ist gefährlich. Wäre er kein Milliardär, würde man glauben, er sei ein Sozialist. Der Mann klagt die Armut an und macht dafür das Establishment verantwortlich. Da dreht das deutsche Establishment vollkommen durch, vergisst sogar seine große Liebe zu Amerika und geifert in einer Art und Weise gegen den gewählten amerikanischen Präsidenten wie man es noch nie zuvor gesehen hat.“

Nachtrag 24.01.2017:
Aber Makroskop sieht Trump keineswegs unkritisch: Trumps Rede zur Vereidigung
Jan Fleischhauer im SPIEGEL: Wie man sich auf einen Handelskrieg vorbereitet
„Rechnen wir mit dem Naheliegenden. Rechnen wir damit, dass er meint, was er sagt, und das auch durchsetzt…Man kann Trump nur zustimmen, wenn er sagt, dass Handel keine Einbahnstraße sein sollte. Das gilt auch für Handelsdrohungen. Fangen wir mit Facebook an.“
Mit Facebook könnte man zum Beispiel so anfangen, dass man es mit unerfüllbaren Forderungen zur Zensur von „Fake News“ aus Deutschland vertreibt. Mit einer Klappe könnte  die Bundesregierung also zwei Fliegen schlagen: „Kampf gegen Rechts “ und Vergeltungs-Protektionismus gegen einen US-Konzern. Ähnlichkeiten mit realen Ereignissen sind natürlich rein zufällig.
ZEIT: Darauf war China nicht vorbereitet: Das Feindbild heißt China
Es sieht so aus, als liege der Blogger Norbert Häring nicht so ganz falsch. Die ZEIT braucht eben immer etwas länger (Als 1993 der Arbeitsmarkt für Chemiker ein tränenreiches Desaster war, hat es nur 2 Jahre gedauert, bis die ZEIT einen großen Artikel darüber gebracht hat. Zu dem Zeitpunkt war das Schlimmste bereits wieder überstanden!)

Nachtrag 27.01.2017:
Don Alphonso hat heute einen wunderbaren Text: Die Trump-Familie in Nepotentradition
Liebe Leser, merken Sie eigentlich auch, wie viele alternative Medien und Blogs ganz verschiedener Ausrichtung ihr Bestes geben, um zu verstehen, was Trump darstellt, während der Mainstream regelrecht unfähig ist zu irgendeiner Analyse, die Sie weiterbringen könnte? Spüren Sie auch die totale Ratlosigkeit?

Nachtrag 28.01.2017:
Mathias Bröckers hat auch eine Serie zu Trump: Real Game of Thrones: Der Mafia-Don

Nachtrag 1.2.2017:
Sehr gut zu Norbert Härings Theorie passt dieser aktuelle Beitrag bei Zerohedge und auch dieser zynische alte Kommentar von John Kornblum: Mach weiter so, Kanzlerin!

Nachtrag 5.2.2017:
Die irrsinnige Konfrontation zwischen Trump-Gegnern und -Anhängern kritisiert Fritz Goergen. Wolfgang Herles distanziert sich deutlich von der Trump-Begeisterung eines Teils der Rechten.
Ganz ähnlich wie Herles äußert sich auch erneut Matthias Heitmann im Cicero: Politische Amnesie und hysterische Paranoia
Alle unterstützen meine Ansicht, dass es töricht ist, sich durch die völlig entgleiste deutsche Trump-Berichterstattung in eine Trump-Unterstützung treiben zu lassen. Trumps Wahl ist ein Krisensymptom, nicht die Ursache, aber auch noch keine Lösung.

Nachtrag 7.2.2017:
In Makroskop gibt es eine vernichtende Kritik von Obamas Regierungszeit:
Der Präsident der Liberalen: Acht Jahre mit Barack Obama

Nachtrag 10.4.2017:
Makroskop: Trump – Freund oder Feind?

Nachtrag 18.05.2017:
Ein interessanter Beitrag, der exakt zu Norbert Härings Hypothese passen würde:
Der große britische Brexit-Raubzug: Wie unsere Demokratie gekapert wurde
Ist da etwas dran oder ist es ein Mindfuck von Leuten, die die Welt nicht mehr verstehen? Schwierige Frage. Was dagegen spricht: Nigel Farage, Donald Trump, Steve Bannon, Peter Thiel und Robert Mercer sollen die „Köpfe“ dieser Verschwörung sein. Farage? Really? Und dann auch noch die Russen im Boot? Hm. Ungewöhnlich, dass die Nachdenkseiten eine solche Theorie verbreiten. Zu viel für mich, das glaube ich vorerst nicht, behalte es aber im Hinterkopf.

Nachtrag 31.7.2017:
Paul Schreyer über die wachsende Rolle der Militärs in der US-Administration unter Trump. Eine Oligarchie von Bankern und Militärs.

Nachtrag 13.08.2017:
Christoph Schwennicke: Trump hat eine kurze Zündschnur

Nachtrag 6.10.2017:
Großartiger Vortrag von James Corbett über Kriegsvorbereitungen gegen China:
Echoes of WWI: China, the US, and the Next “Great” War

Europa in die Luft gejagt

Es gibt da einen deutschen Sozialwissenschaftler, der richtig gute Analysen abliefert, die der deutschen politischen Klasse nicht schmecken dürften. Ich hatte bis Mai nichts von ihm gehört, eine Bildungslücke, dann aber diesen erstklassigen Beitrag in der FAZ gelesen. Schaut genau hin, Ihr jungen Leute: so haben früher Linke geschrieben als sie noch kritisch waren! Ja, ja, man glaubt es nicht mehr, aber die waren wirklich mal analytisch und nicht gläubig-moralisch.Trotzdem durfte Streeck nach dem Brexit-Votum seine scharfe Meinung in der ZEIT kundtun, ein bisschen.
Dieser Wolfgang Streeck hatte bereits im März in der London Review of Books einen Artikel veröffentlicht, in dem er Merkels Politik und ihren Politikstil frontal angegangen ist. Dazu ist jetzt ein Update in einem Organ der University of Sheffield erschienen, in dem er das Brexit-Votum in diesem Licht wesentlich detaillierter analysiert als im ZEIT-Artikel. Dieses Papier ist so voller schlauer und ausgearbeiteter Einsichten in die europäische, deutsche und englische Politik, dass ich es hier in Auszügen wiedergebe:

Europa zur Explosion bringen: Deutschland, die Flüchtlinge und das Brexit-Votum

Es ist nun klar, dass Einwanderung ein sehr gewichtiger, wenn nicht der wichtigste, Grund war, warum die Briten dafür stimmten, die Europäische Union zu verlassen.
…Die Osterweiterung im Jahr 2004 brachte eine Welle der Einwanderung aus Polen und anderen Ländern, gefördert von der „New Labour“ Regierung jener Zeit, die die von den Verträgen erlaubte Übergangsperiode vorbeiwinkte und die Freizügigkeit in den britischen Arbeitsmarkt sofort in Kraft treten ließ. Es gibt Gründe anzunehmen, dass das als Antwort auf lange bestehende Qualifikationsdefizite bei den heimischen Arbeitskräften geschah, zurückzuführen auf zu geringe Investitionen in Ausbildung, und ganz allgemein, um Druck auf britische Arbeiter besonders am unteren Ende der Lohnskala auszuüben, „wettbewerbsfähiger“ zu werden. Das Ergebnis war ein wachsendes Ressentiment beim einfachen Volk gegen die Einwanderungs- und Arbeitsmarktpolitik der Regierung einschließlich der kosmopolitischen moralischen Rhetorik zu ihrer Verteidigung.

David Camerons Initiative, kosmetische Änderungen an den Europäischen Verträgen auszuhandeln und dann ein Referendum anzusetzen über die britische EU-Mitgliedschaft war teilweise eine Reaktion auf das sich aufbauende Anti-Einwanderungs-Ressentiment. Die Hoffnung war, genug Konzessionen von Brüssel bei der Freizügigkeit zu gewinnen, damit die Regierung den Euro-Separatismus besiegen konnte, der besonders von einer neuen politischen Partei, UKIP, vertreten wurde. Ein Votum für ‚Remain‘ sollte auch eine dauerhafte Legitimität für einen offenen nationalen Arbeitsmarkt mit einem effektiv unbegrenzten Nachschub an Arbeitskräften schaffen. Camerons Gegner, die von seinem langjährigen Rivalen Boris Johnson angeführt wurden, sahen das Referendum als eine Gelegenheit, die Labour Party entlang des Risses zwischen ihrer traditionellen Basis aus der Arbeiterklasse und ihren Unterstützern aus den liberal-kosmopolitischen Mittelklassen zu spalten und sowohl UKIP als auch einwanderungsfeindliche Wähler aus der Arbeiterklasse in das konservative Lager zu holen.

Dass, zur Überraschung beider, Cameron verlor und Johnson gewann, darf zu einem guten Teil der Entfaltung der „Flüchtlingskrise“ von 2015 in Europa zugeschrieben werden, wie sie von Deutschland und der Regierung von Angela Merkel gehandhabt wurde. Die speziellen Pathologien der deutschen Politik, wie sie sich besonders aber keinesfalls ausschließlich in der deutschen Asyl- und Einwanderungspolitik zeigen, mit ihrem Potenzial ohne Absicht, aber umso effektiver die Europäische Union in die Luft zu jagen, waren schon Anfang 2016 erkennbar, als mein ursprünglicher Artikel geschrieben wurde, zu dem dieser ein Nachtrag ist. Dass die massive Kontraproduktivität des deutschen Pro-Europäismus für den europäischen Zusammenhalt nur wenige Monate später so dramatisch ans Licht kommen würde, in einem so schicksalhaften Ereignis wie dem britischen Votum, wollte sogar ein „Euro-Pessimist“ damals kaum vorhersagen. Aber die Zutaten zu einer langen Serie von Unfällen, die nur darauf warteten zu passieren, waren vorhanden wie in dem Artikel beschrieben: im Besonderen eine spezifisch deutsche politische Weltsicht, die sich auf eine moralistische Leugnung der Existenz legitimer nationaler Interessen gründet und die deutsche politische Klasse zwingt und es ihr auch erlaubt, deutsche Interessen und Politik als allgemein europäische darzustellen, zu denen es weder deutsche noch irgendwelche anderen nationalen Alternativen geben könne; ein tief wurzelndes ethnozentrisches Missverständnis mit der Wirkung, dass die Signale aus der deutschen Innenpolitik und der deutschen Öffentlichkeit an die Politik europäische Signale seien und dass deutscher Common Sense gleichzeitig auch europäischer wenn nicht sogar globaler Common Sense sei; ein deutsches politisches System parlamentarischer Regierung, dass von einem Kanzler in der Art eines unparteiischen Präsidenten kontrolliert wird und so schnelle und unvorhersehbare 180-Grad-Kehren erlaubt, wenn es Gelegenheiten erlauben oder Notwendigkeiten erfordern; sowie die Abwesenheit einer Opposition, die unangenehme Fragen stellt und auf diese Weise auch für die Außenwelt die Interessen offenlegt, die an der Basis politischer Entscheidungen liegen, die als humanitäre Pflichten jenseits politischer Wahlmöglichkeiten dargestellt werden.

Historiker werden in den kommenden Jahren die Motive hinter der Öffnung der deutschen Grenzen im Spätsommer 2015 auseinanderpflücken müssen. Eines scheint der Wunsch gewesen zu sein, die Aufmerksamkeit abzulenken von dem von Deutschland betriebenen Massaker an der griechischen Syriza-Regierung…
Auf der weniger emotionalen Seite standen der chronische Hunger der deutschen Wirtschaft nach Arbeitskräften, besonders die Furcht unter deutschen Arbeitgebern vor einem Arbeitskräftemangel, der die Löhne nach oben treiben oder Produktionsverschiebungen ins Ausland zur Verteidigung des internationalen Marktanteils erzwingen würde….

Das Ergebnis war eine unwiderstehliche Versuchung, Flüchtlings- und Asylpolitik als Ersatz für eine wirkliche Einwanderungspolitik zu nutzen – eine Einwanderungspolitik durch die Hintertür…Anders als konventionelle Einwanderung, für die die Regierung hätte die Verantwortung übernehmen müssen, hatte Einwanderung wegen Asyl- und Flüchtlingsschutz den Vorteil, dass sie als humanitäre Pflicht dargestellt werden konnte, und sogar als eine, die vom internationalen Recht in einen Schrein eingeschlossen wurde, zu der es „keine Alternative“ gab, weder moralisch noch rechtlich. Ökonomische Argumente für Einwanderung hätten bestritten werden können und hätten Fragen über Löhne und Arbeitsmöglichkeiten für gegenwärtige und künftige deutsche Arbeiter provozieren können, während humanitäre Argumente die Unterstützung der Kirchen und derjenigen erhalten würden, die an eine besondere deutsche Verantwortung  in humanitären Fragen glauben. Darüberhinaus konnten das deutsche, europäische und internationale Recht zum Asyl und zur Behandlung von Flüchtlingen so gelesen werden, also ob sie keine Obergrenze für die Zahl der Einwanderer erlaubten, die ein Land aufnehmen müsse, so dass die Entscheidung über das Ausmaß der Einwanderung externalisiert und Merkels Behauptung zusätzliche rechtliche Bedeutung gegeben werden konnte, dass in einem Zeitalter der „Globalisierung“ Grenzen nicht länger kontrolliert werden könnten – einer Behauptung, die in europäischen Hauptstädten auf vollständiges Erstaunen gestoßen war.

Einwanderungspolitik, die als Asyl- und Flüchtlingspolitik getarnt war, hatte den zusätzlichen Vorteil, dass sie „europäisiert“ werden konnte, womit die Brüsseler Maschine für die Umsetzung und Legitimierung genutzt werden konnte. Dafür mussten die anderen Mitgliedsstaaten dazu gebracht werden, die deutsche Interpretation internationalen und europäischen Rechts zu teilen oder wenigstens so zu tun als ob

Niemand sonst war jedoch bereit, das zu unterschreiben. Also wurde Ungarn, ein kleines Mitgliedsland, dessen Regierung zufällig in liberalen Kreisen unpopulär war, als Sündenbock ausgewählt und öffentlich niedergemacht, als es tat, was es unter Schengen für seine Pflicht hielt, d.h., seine Grenzen zu überwachen. Europäisierung, und sei es nur auf dem Papier, sollte Merkels Flüchtlings-mit-Einwanderungspolitik in Deutschland unangreifbar machen, insbesondere weil sie die Weigerung der Regierung, eine „Obergrenze“ festzulegen, mit Quoten für die Zuweisung von Flüchtlingen und Asylbewerbern an Mitgliedsländer abzuschwächen versprach…

Wie Merkels Trick auseinanderfiel und wie es dazu kam, dass die europäische Integration, wie wir sie kennen, endete, kann hier nicht im Detail nachgezeichnet werden… (es folgt eine lange Beschreibung des bekannten Stimmungsumschwungs und der Probleme in Deutschland und Europa)…
Darüberhinaus haben die deutsche Regierung und ihre weitverzweigte Maschine in Brüssel jede Authorität über die Flüchtlingspolitik der Mitgliedsländer verloren mit dem Ergebnis, dass sie jetzt effektiv renationalisiert sind.

Nicht alles, was Deutschland Europa als europäische Politik aufdrängt, wird von anderen EU-Ländern ernst genommen, heute weniger denn je. Um zu vermeiden, der deutschen Kanzlerin öffentlich zu widersprechen, ihr Ansehen in ihrer heimatlichen Öffentlichkeit zu beschädigen und Vergeltung dafür zu provozieren, schweigen europäische Anführer und wahren für sich selbst die Option, ihr eigenes Ding zu machen, wenn es schließlich unvermeidlich wird, etwas zu tun. Sich gegenseitig zu helfen, das Gesicht zu wahren, ist die erste und oberste Verpflichtung für die Mitgliedschaft im Club europäischer Regierungschefs, bei weitem wichtiger als die Verfolgung gemeinsam beschlossener Politik, sofern es diese überhaupt gibt….
Britische Wähler verfolgen die europäische Politik nicht eng genug, um die subtilen Unterschiede zwischen europäischem Anschein und europäischer Realität zu erkennen, wie sie von europäischen Regierungen gepflegt werden, und nicht die ausgeklügelten Techniken, mit denen man von einem zum anderen und wieder zurück kommt. Als sie von der Flüchtlingspolitik hörten, die der deutschen Öffentlichkeit von der Merkel-Regierung als europäische Politik verkauft wurde, müssen sie befrüchtet haben, dass sie früher oder später auch von ihrem Land  wird übernommen werden müssen…Der Slogan „Die Kontrolle zurück gewinnen“ der Leave-Kampagne muss in einem erheblichen Maß gelesen werden als ein Wunsch, nicht den mysteriösen Eigentümlichkeiten einer deutschen Regierung unterworfen zu sein, die von ihrem politischen System mit beinahe grenzenloser Manövrierfreiheit ausgestattet ist und der von einer geschickt in die Ecke gedrängten Opposition erlaubt wird, ihre heimischen Bedürfnisse als europäische Interessen darzustellen, die von europäischen Werten gespeist werden…
Die Aussicht, mit der Art und Weise mitspielen zu müssen, in der Deutschland mit seiner  besonderen politischen, demografischen und Arbeitsmarktlage sich entschieden hatte, das internationale Recht zu interpretieren, mit Neuinterpretation, wann immer es deutsche Wirtschafts- und politische Interessen erfordern, war ohne Zweifel eine gewichtige Kraft hinter dem historischen Schlag für die gewohnte europäische Integration, die der Brexit war.
Kommentare:
  • Die Passagen über das Verhältnis der europäischen Regierungen (gegenseitige Hilfe beim Gesichtwahren ist die höchste Pflicht, echte Gemeinsamkeit aber die Ausnahme) sind einfach zu gut, um erfunden zu sein: That’s it!
  • Streecks Sicht auf den Brexit und die deutsche Rolle dabei ist kompatibel bzw. in großen Teilen deckungsgleich mit derjenigen, die Emmanuel Todd in einem langen Interview dargelegt hat. Todd spannt aber zeitlich und geografisch einen viel größeren Zusammenhang auf.
  • Auch Streeck weist auf die ungeheuer autoritäre Art und Weise hin, in der Deutschland gewohntheitsmäßig regiert wird: „schnelle und unvorhersehbare 180-Grad-Kehren„,“Abwesenheit einer Opposition„, harte Worte wie bei Gertrud Höhler.
    Für Deutsche, die sich von klein an an diesen autoritären Stil und den allgegenwärtigen illiberalen Moralismus gewöhnt haben, klingt das befremdlich oder gar absurd, aber in liberaleren Gesellschaften wittert man das allgegenwärtige deutsche Von-Oben-nach-Unten-Denken sehr intensiv. Besonders in England:
    „Es ist nicht das Ding der Engländer, den Deutschen zu gehorchen“ (E. Todd).
  • Todds Prognose von 1990, also vor dem Euro, dass  die Einwanderungsfrage Europa zur Renationalisierung zwingen  könnte, bleibt bemerkenswert hellsichtig.Streeck hat zwar heute viel mehr Durchblick als der deutsche Mainstream, aber gleichzeitig einen viel kürzeren Atem als Todd.
  • Dieser Meinungsbeitrag aus dem Telegraph (einem Tory-Blatt) vom März passt exakt zu Streecks Analyse.
  • Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass Deutschland in Europa zunehmend isoliert ist, was die „ethnozentrische“, deutschtümelnde Rechthaberei seiner Eliten aber nicht mindert, sondern eher steigert. Es hat sein Blatt einfach extrem überreizt und muss irgendwann die Hosen runterlassen.
  • Wenn es so weit ist, würde ich nicht gerne derjenige/diejenige sein wollen, der/die  vor das entmündigte und betrogene Volk treten muss. Genau deshalb geht es weiter wie gehabt, bis es nicht mehr weiter geht.Man erhöht einfach den Einsatz und zockt weiter, was die Schlussrechnung nicht kleiner macht.
  • Der Brexit könnte weitere Überraschungen bringen.Das ist eine ganz heiße Kiste, die sich nicht ewig schönschreiben lässt.

 

Brexit – Wie geht es weiter?

Brexit, was nun? Der Historiker und Demograf Emmanuel Todd äußert sich exklusiv in einem langen  Gespräch im Atlantico (Text auch auf diesem Blog), um in der Tiefe die Bedeutung der britischen Abstimmung zugunsten eines Austritts aus der Europäischen Union zu analysieren. Ich gebe das hier in mehreren Teilen wieder.

Teil 1: „Den Engländern folgen“

Teil 2: „Das Ende des Westens“

Teil 3: „Deutschland im manischen Modus“

Teil 4: „Die französischen Eliten haben einfach nur Angst vor Deutschland“

Krise

Atlantico: In ihrer Ausgabe vom 29. Juni titelte die Tageszeitung Le Monde „Die Anführer des Brexit in der Falle ihres Sieges“. Seit der Abstimmung zugunsten des Brexit scheint sich die Melodie eines Vereinigten Königreiches breit zu machen, das  vom Bedauern ergriffen wurde. Wie interpretieren Sie diesen Eindruck?

Emmanuel Todd : Ich glaube, dass da etwas dran ist. Ich verfolge ziemlich genau, was dort passiert. Die Leute verdächtigen mich oft, parteiisch zu sein, weil ich anglophil bin und an der Universität Cambridge ausgebildet. Ich gebe mit Stolz zu, dass es sogar schlimmer ist. Mein ältester Sohn ist auch in Cambridge gewesen, er war dort besser als ich, und sie haben ihn behalten. Er lebt in London und hat die englische Staatsbürgerschaft angenommen, und ich habe jetzt die Freude, zwei britische Enkelsöhne zu haben. Aber ich würde trotzdem gerne in erster Linie als ein Franzose betrachtet werden, der England besser kennt als Francois Hollande und einen schottischen Akzent erkennen kann. Bei der Gelegenheit sage ich, dass ich manchmal Engländer oder England auf archaische Weise benutze, wenn ich ganz Großbritannien oder das Vereinigte Königreich meine wie der Historiker A.J.P. Taylor.

Es ist klar, dass der Brexit eine kulturelle, politische, soziale und ideologische Krise in Großbritannien eröffnet hat.
Es ist wahr, dass die höheren Klassen und das Establishment massiv für „Remain“ gestimmt haben. Die Kategorien A und B der englischen sozioprofessionellen Nomenklatura, das Äquivalent unserer Manager und höheren intellektuellen Berufe sowie die Unternehmer haben „Remain“ gewählt. Die Stimmen für „Leave“ bekommen die Mehrheit in der unteren Mittelschicht, Kategorie C1, unseren Zwischenkategorien, die 30% der Wähler ausmachen. Der Wahlkreis Cambridge muss zu 72% für „Remain“ gestimmt haben. Das Ergebnis war ein Schock für die Mehrheit der höheren britischen Klassen. Die Klassenunterschiede, die sich durch Akzente ausdrücken, sind sehr viel stärker in England als in Frankreich. Es gibt in dieser verkaterten Zeit in bestimmten Kreisen eine ganz außerordentliche, anti-populistische Wut. Die Labour Party ist in die Krise geraten. Aber es ist auch wahr, und das ist ein großer Unterschied zu Frankreich, dass ein Teil der englischen Elite in der konservativen Partei, also rechts, es geschafft hat, Anführer der volksnahen Opposition zu werden. Das ist extrem interessant, aber da muss ich Wissenschaftler bleiben und zugeben, dass ich nicht alle  Details von dem verstehe, was vor sich geht. Es bleibt aber, dass sie Boris Johnson gefunden haben, einen ganz erstaunlichen Mann, ohne Zweifel Mitglied der höchsten britischen Klassen, sowohl durch seine Abstammung als auch durch sein Studium.

Die Briten haben das, was man braucht: einen Teil der höchsten Elite, der die nationale Wiedergeburt betreibt. Und das mit diesem zusätzlichen Mysterium, dass jetzt die demokratische Debatte im Inneren der konservativen Partei stattfindet und die Linke aus dem Spiel ist. Aber hier haben wir es mit unserer Sozialistischen Partei zu tun, die gegen das Volk und gegen die Nation ausgerichtet ist. Ohne es ganz zu verstehen, muss man empirisch (kaum ein französisches Wort!) anerkennen, dass dieser demokratische und nationale Aufbruch in der rechten Hälfte des politischen Schachbretts stattfindet.
Zu unserem Unglück haben wir in Frankreich nicht das Äquivalent von Boris Johnson oder Michael Gove, aber vielleicht ist rechts ein Platz frei. Es ist jedoch nicht unmöglich, dass niemand es wagt. Links ist nichts, ich glaube überhaupt nicht, dass Mélenchon zu irgendetwas in der Lage sein könnte. Die Linke ist gelähmt durch eine Art von naiver, abstrakter, archaischer Vision des Internationalismus und des Universellen, und ich sage das, obwohl ich selbst Mitte links bin.

Atlantico: Auch wenn der Brexit mit 52% der Stimmen gewinnt, hatte UKIP doch nur 12.6% auf der Tafel stehen bei den letzten Parlamentswahlen von 2015. Das ist eine Feststellung, die man auch in Frankreich treffen kann, und die einen großen Abstand anzeigt zwischen der europäischen Widerspenstigkeit der Wähler und den Ergebnissen der Parteien, die dieses politisch im Angebot haben. Was ist die Bedeutung dieses Paradoxons einer radikalen Mehrheit und der Schwäche ihrer Repräsentanten?

Das Problem ist, dass die Engländer immer ihren Churchill gehabt haben oder ihren Boris Johnson. Nicht UKIP hat gewonnen, es steht in England immer noch nicht zur Debatte, dass Farage die Regierungszügel in die Hand nimmt. Die englische Regierung muss in einem Teil des absolut traditionellen Establishments bleiben. Da haben wir eine regierende Klasse, die es schafft, sich zu erneuern…Ich beneide sie.

Das wahre Drama Frankreichs besteht darin, dass man im Herzen des Establishments diesen Schub der Würde nicht kommen sieht, der eine Minderheit der Eliten antreiben würde, die Interessen der Bevölkerung zu ihrer Aufgabe zu machen. Ich war immer antipopulistisch, ich habe immer für eine Rückkehr der französischen Eliten zur Vernunft gekämpft. Aber warum sind unsere Eliten so uniform resigniert? Wir haben doch unsere Elite-Hochschulen, die eine regelmäßige Versorgung mit arroganten Eliten sicherstellen, ja sogar mit verächtlichen. Ich fürchte, dass diese guten, disziplinierten Schüler Kleinbürger bleiben, die sich vom Volk unterscheiden wollen: die Idee einer edlen Freiheit, die Montesquieu so teuer war, bleibt für sie unerreichbar. Aber es gibt auch die Geschichte und ihre Traumata.

Der fundamentale Unterschied zwischen Frankreich und England ist nicht ihre Beziehung zu Europa, ein abstraktes und überholtes Konzept, sondern in ihrer Beziehung zu Deutschland. Deutschland zu gehorchen, ist nicht das Ding der Engländer; in Frankreich ist das komplizierter.

Bastille

Es gibt eine Lüge, die diese Leute des französischen medial-politischen Establishments pflegen und die man bloßstellen muss. Sie sprechen vom deutsch-französischen Paar, von der deutsch-französischen Freundschaft usw. Aber ich kenne persönlich nur einen einzigen Franzosen, der gegenüber Deutschland freundschaftlich und respektvoll ist, nämlich mich. In dem Buch, das ich schreibe, arbeite ich die Bedeutung der Reformation Luthers für die Massenalphabetisierung Europas heraus. Ich bin empfänglich für die tragische Großartigkeit der deutschen Geschichte. Ich wage es, für mich selbst von einer Empathie gegenüber Deutschland zu sprechen. Aber das wirkliche Gefühl der französischen Eliten gegenüber Deutschland ist die Angst.

Das ist das, was ich das FOG-Syndrom nenne für Franz-Olivier Giesbert[1]. Ich mag FOG gern, er ist witzig und talentiert. Er macht einen auf zynisch. Er macht sich einen Riesenspaß daraus, das bloßzustellen, was die Politiker nicht sagen können, er ist vom Nouvel Observateur (einer „linken“ Wochenzeitung) zum Figaro (DER traditionellen konservativen Tageszeitung) gegangen. Er hat mit mir ein neo-marxistisches Interview in Le Point veröffentlicht, dem Journal der alten Herren von Rechts. Er ist urkomisch bei persönlichen Dingen, manchmal hart. Ein Getue von Ästhetik, alles amüsiert ihn. Ein einziges Mal, in der Closerie des Lilas (ein traditionelles Café in Montparnasse), habe ich erlebt, wie er die Fassung verloren hat. Es ging um Deutschland. Er konnte nur noch seine Angst ausdrücken vor einem Konflikt mit Deutschland. Und da habe ich verstanden: die französischen Eliten haben einfach nur Angst vor Deutschland.
Früher ging in Brüssel ein Witz um: „Was ist Europa? Europa ist die Vereinigung aller Völker, die Angst vor Deutschland habe….und diese Definition schließt Deutschland ein“. Das wahre Problem von heute ist, dass die Deutschen selbst keine Angst vor Deutschland mehr haben, wegen der amerikanischen Fehler und der französischen Feigheit.

Atlantico: Schottland, Nordirland, Wales, London: die Abstimmung führt zu offensichtlichen Brüchen im Inneren des Vereinigten Königreiches. Macht es Ihnen keine Sorgen,  wenn sie sich seine Auflösung vorstellen?

Kommen wir zu dieser Idee von gewichtigen historischen Tendenzen zurück. Die historische Wahrheit ist, dass die Zugehörigkeit des Vereinigten Königreichs zu Europa seinen Zerfallsprozess ausgelöst hat. Überall bringt die Zugehörigkeit zu Europa eine Entstehung von Regionen mit sich und Phänomene territorialer Verzerrung. Die Zugehörigkeit zu Europa hat London von seinem englischen Hinterland entfernt, sie hat die Schotten von London weiter weggebracht. Das Gleiche in Frankreich, in Spanien und in Italien. Also ist natürlich das, was wir heute sehen, das Maximum dieses zentrifugalen Auseinandertreibens des Vereinigten Königreichs. Aber mit Schottland wird es für London genügen, gut einige Entschädigungen auszuhandeln und auf Zeit zu spielen. Den Schotten wird eine neue Realität aufgehen. Schottland hat 5.4 Millionen Einwohner, aber 800000 Personen, die in England leben, sind in Schottland geboren. Die Zerlegungskräfte der Europäischen Union werden erlöschen und vor allem werden die Schotten mit der Realität des neuen Europa konfrontiert sein, das sich ankündigt. Es geht nicht darum, das Vereinigte Königreich zu verlassen um Europa beizutreten. Die Wahl wird lauten: muss man aufhören, London zu gehorchen, um Berlin gehorchen zu gehen? Ich kann mir nur ganz schwer vorstellen, dass die Schotten Berlin wählen werden. Auch Schottland ist eine sehr großartige Nation. Ich empfehle Ihnen das Buch von Arthur Herman Wie die Schotten die moderne Welt erfanden. Also für Schottland würde ich auf Schottisch sagen: „dinna fash yersel“, macht Euch keine Sorgen, vom Französischen „fâcher“. Ich sage nicht, dass es leicht sein wird für die Briten. Es wird Arbeit brauchen, um Tonnen von Problemen zu lösen, mindestens 10 Jahre, um das alles wieder in Ordnung zu bringen, vielleicht sogar eine Generation. Wir haben länger gebraucht, um das aktuelle europäische Desaster zu produzieren. Die wirklich beunruhigendsten Probleme wird es für Irland geben, nicht für Nordirland. Wie Dänemark ist die Republik Irland nur in den Gemeinsamen Markt eingetreten, um dem Vereinigten Königreich zu folgen. Sie wird in eine ökonomisch unhaltbare Situation geraten, wenn die Kontinentaleuropäer eine konfliktbereite Haltung einnehmen (gegen England).

scandinavien

Es wäre auch eine interessante Überlegung anzustellen über das Interesse Skandinaviens, in der europäischen Union zu bleiben, wenn die Briten erst einmal weg sind. Die skandinavischen Mittelklassen sprechen außergewöhnlich gut Englisch, sie sind praktisch zweisprachig. Skandinavien ist durch die Konstruktion Europas in Unordnung geraten. Die Norweger haben sie abgelehnt, die Finnen sind in der Eurozone, die Schweden sind es nicht und der Brüsseler Schwätzereien müde. Die Dänen sind durch ihr liberales Temperament den Engländern dermaßen nahe. Ein Austritt aus Europa durch alle gemeinsam würde erlauben, Skandinavien wiederherzustellen. Man kann sich einen Wiederaufbau des Königreichs von Großbritannien und Irland vorstellen und einen Wiederaufbau von Skandinavien.
So viel zu den 27 Ländern, die in Schwätzereien gefangen sind, deren einziger Gegenstand es ist, die Zentralisierung der Macht in deutscher Hand zu verbergen.

Was mich an der Wahlgeografie des Brexit überrascht hat, ist nicht so sehr die Zustimmung zu „Remain“ in Schottland oder London, die erwartet worden waren, sondern die Aufhebung der Nord-Süd-Spaltung, die England zu zerstören drohte. England hat in den konservativen Regionen des Südens und in den Arbeiterregionen des Nordens homogen für den Brexit gestimmt. Ein wenig, als ob das Referendum begonnen hätte, die britische Gesellschaft wiederzuvereinigen.

Atlantico: Mehrere Verteidiger des Brexit wie Nigel Farage haben ihrerseits ihre Übertreibungen zugegeben, was die durch den Austritt aus der EU gebotenen Möglichkeiten angeht. Besteht nicht die Gefahr, dass die britische Gesellschaft sich bewusst wird, dass der Brexit keine Antworten auf die Probleme geben wird, die man während der Kampagne aufgeworfen hat?

Die Idee, dass der Brexit leicht sein wird, ist absurd. Der Aufbau Europas, der eine Zeit lang sehr positiv war, ist in eine Phase eingetreten, in der er die Gesellschaften durcheinanderbringt mit wachsenden Schwierigkeiten seit einigen Jahrzehnten und inzwischen mit einem Element bürokratischen Irrsinns.
Es wird also viel Arbeit bedeuten. Das ist ein ganz typischer Fall der Art, in denen man die kurze, mittlere und lange Sicht auseinanderhalten muss. Das Vereinigte Königreich wird eine Menge Probleme zu lösen haben, aber unter Berücksichtigung dessen, was ich schon gesagt habe, über die allgemeine Dynamik der Trennung der Nationen, werden wir nach meiner Meinung bald schon keine Zeit mehr haben, uns dafür zu interessieren, wegen der Probleme die Europa erwarten: Neuaufbau jenseits des Ärmelkanals, Zerfall auf dem Kontinent. Das also ist das Programm für die kommenden Jahre. Die Journalisten werden sich nicht langweilen.
In den großen historischen Herausforderungen braucht es immer einen Augenblick, bis die Briten sich in Bewegung setzen, aber dann wissen sie, wo es lang geht. Im Gegensatz dazu können wir uns darauf verlassen, dass die zögerlichen Pro-Europäer sich lächerlich machen werden.
Wenn man bei der Hypothese bleibt, dass der Brexit durchgezogen wird, was das Wahrscheinlichste ist, ist es völlig normal, dass es eine Übergangsphase gibt. Aber was mich eher überrascht hat in den letzten Tagen, ist nicht die Unordnung, sondern die Stärken der nationalen Loyalität und der Schockresistenz, die im britischen Wesen stecken. Die erste, instinktive Darbietung von David Cameron nach dem Brexit war bewundernswert. Er wird die Übergangsperiode sicherstellen, bevor er an seinen Nachfolger übergibt, der den Brexit umsetzen muss. Er setzt einen idealen Kalender in Kraft. Wenn diese Art von Haltung sich in der konservativen Partei und der ganzen Nation bestätigt, kann man Vertrauen haben auf die Fähigkeit des Vereinigten Königreichs diese Herausforderung zu bewältigen. Für die Tories ist es das Dringendste, den Frieden in der Partei herzustellen, bevor man zum Brexit-Abenteuer ausläuft. Man darf sich nicht damit zufriedengeben, den Nachfolgekrieg und den Verrat in der Konservativen Partei zu sehen. Die Weigerung von Johnson, sich um die Führung der Partei zu bewerben, ist das Gegenstück zur Eleganz von Cameron.

Aber plötzlich überwältigt mich mein Französischsein, ich denke wieder an unseren Präsidenten Hollande und habe Lust zu heulen…Frankreich ist auch eine große Nation. Wir haben etwas so viel Besseres verdient!

ENDE

[1] Französischer Schriftsteller und Journalist mit deutschen, schottischen und jüdischen Vorfahren

Kommentare:

  • Ich teile die Bewunderung Todds für die bisher gezeigte Fähigkeit der Engländer, diese Krise zu bewältigen.Cameron ist ganz selbstverständlich abgetreten nach seiner unbestreitbaren Pleite. Inzwischen gibt es wieder eine anscheinend sehr solide  Premierministerin und einen Außenminister Johnson, der eine Rede auf Französisch gehalten hat, um zu sagen, dass das Vereinigte Königreich in Europa und ganz besonders in der Nähe Frankreichs bleiben wird. Todds Prognose, dass der Brexit durchgezogen wird, steht also, und nicht nur die.
  • In Deutschland dagegen huldigt das halbe Land und 80% der Presse weiterhin einer Kanzlerin, der die Überforderung und der Alkoholismus immer stärker ins Gesicht geschrieben stehen. Mögliche Nachfolger hat sie weggebissen, während Cameron viele hinterlassen hat. Sie hat mit einer Sektenführerin mehr gemeinsam als mit einer englischen Premierministerin. Auch Margaret Thatcher wurde übrigens rechtzeitig von ihrer eigenen Partei gestürzt.Die britische Elite hat ein Gespür dafür, wenn das Ende der Fahnenstange erreicht ist, Deutschland nicht.
  • Die Hinweise auf die neue Lage für Irland und Skandinavien sowie die Aufhebung der Nord-Süd-Spaltung Englands sind sehr intelligent gesehen, wesentlich tiefgründiger als das übliche Gerede in Kommentaren. Sein Wissen über die Innere Verfasstheit des Vereinigten Königreichs und Skandinaviens kann man in einem Buch nachlesen, das ich hier auf dem Blog teilweise übersetzt und besprochen habe: Dänemark, Liberale Toleranz, Vorwort zur 2. Auflage 1995, Ergänzungen. Ein Meisterwerk, das im Vergleich mit diesem Interview auch zeigt, wie Todds Analysen sich über Jahrzehnte solide entwickelt haben.Er spielt in einer eigenen Liga.
  • Mit seiner Verachtung für die sozialistische Regierung Hollande ist Todd inzwischen im französischen Mainstream angekommen. Da braut sich etwas zusammen.
  • Seine Analyse der deutschen Dominanz in Europa und der Angst vor Deutschland in Frankreich ist für deutsche Ohren überraschend und gerade deshalb sehr wertvoll.
    Für mich als frankophilen Deutschen ist das jedenfalls ein trauriges Kapitel.Ich habe aber in den letzten Jahren im Alltag niederschwellig zunehmend antifranzösische Töne registriert und umgekehrt in Frankreich bei normalen Leuten auch eher unglückliche Gefühle gegenüber Deutschland. Die Quintessenz ist jedenfalls, dass hinter der erstarrten Fassade der deutsch-französischen Freundschaft gewaltig der Holzwurm am Arbeiten ist. In dieser Situation sind harte, realistische Worte von Todd mehr wert als der Vorwärts-Optimismus  von Ulrike Guérot, der sich hinter EU-Kritik nur versteckt.
  • Es ist richtig, dass die Deutschen inzwischen zu wenig Angst vor Deutschland haben. Angst haben muss man insbesondere vor der gewaltigen Diskrepanz in der Außen- und Selbstwahrnehmung Deutschlands. Die Hälfte der Deutschen glaubt, dass Mutti etwas ganz toll Humanitäres gemacht hat und vom Ausland ganz gemein im Stich gelassen wurde, während das Ausland das als dominantes und irres Verhalten empfunden hat, was die guten Deutschen aber nicht wahrhaben wollen. Die andere Hälfte der Deutschen glaubt, dass das Ausland Deutschland mit dem Euro ausbeutet, während das Ausland wiederum glaubt, dass es mit dem Euro von Deutschland dominiert wird, in Frankreich, in Italien, Griechenland, Portugal und Spanien. Man kann das nicht auflösen, solange man nicht die Interessen der Eliten und des Volkes in jedem Land separat betrachtet. Wer das nur auf der Ebene von Nationen betrachtet geht in die Irre und riskiert lebensgefährliche Konflikte. England steht übrigens in beiden Fragen geschlossen gegen die deutsche Elite, weil der Brexit die Elite und das Volk wiedervereinigen wird, wie Todd sehr schön analysiert hat.
  • Angst haben sollte man auch vor dem deutschen Extremismus in der Einwanderungsfrage. 100% Zustimmung zu Bassam-Tibi! Man darf die Augen nicht vor dem Bürgerkriegspotenzial verschließen, das hier offen zutage tritt. Da sind einerseits die Leute, die keinen einzigen Moslem oder Schwarzen im Land dulden wollen und andererseits die Leute, die die Grenzen komplett für jeden öffnen wollen und die Probleme leugnen. Wenn das schiefgeht, wird eine Mitte, die beides für Wahnsinn hält, verschwunden sein, verstummt oder emigriert. Der deutsche Extremismus ist kein rechtes Phänomen, er existiert auf beiden Seiten und der linke Extremismus hat derzeit die trinkende Mutti auf seiner Seite, mißversteht deshalb die wahren Machtverhältnisse. Tibi hat das kapiert, die meisten Deutschen noch nicht. Aufwachen bitte!

Deutschland im manischen Modus

Brexit, was nun? Der Historiker und Demograf Emmanuel Todd äußert sich exklusiv in einem langen  Gespräch im Atlantico (Text auch hier), um in der Tiefe die Bedeutung der britischen Abstimmung zugunsten eines Austritts aus der Europäischen Union zu analysieren. Ich gebe das hier in mehreren Teilen wieder.

Teil 1: „Den Engländern folgen“

Teil 2: „Das Ende des Westens“

Teil 3: „Einwanderung als Chaos heißt das Projekt Deutschlands

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Atlantico: Sie erwähnen das Einwanderungsproblem, das zentral war in der Abstimmung über den Brexit. Ist das kein Zeichen, dass diese Abstimmung (für den Brexit) durch andere Faktoren ermöglicht wurde als die Rückkehr zur politischen Freiheit?

Emmanuel Todd : Laut den Wahlnachfragen war die erste Motivation der Engländer, die Entscheidungsmacht nach London zurückzuholen: das ist ein demokratisches Erfordernis. Die zweite Motivation war tatsächlich die Einwanderungsfrage. Aber das ist nicht dieselbe Einwanderung wie bei uns, es geht um die Polen. Die Regeln der Gemeinschaft geben den Europäern das Recht, sich auf dem Kontinent frei zu bewegen.

Das ist eine Frage, über die wir klar sprechen müssen. In diesem Kontext bin ich besonders froh, dass ich mich letztes Jahr von der französischen politisch-medialen Klasse habe scharf durchbraten lassen, weil ich in meinem BuchWer ist Charlie?“ die Idee verteidigt habe, dass unsere islamischen Landsleute ein Recht auf Frieden haben. Das gibt mir ideologisch freies Feld, um über Einwanderung ausgewogen zu sprechen, ohne dass ich mich wie ein  Anhänger von Le Pen behandeln lassen muss. Ich bin ein vernünftiger Freund von Einwanderung: Einwanderung ist eine gute Sache. Die Assimilation der Eingewanderten ist eine gute Sache. Man muss den Leuten Zeit geben und zugeben, dass es nicht gut ist, den Islam zu verteufeln.
Für die Verteidigung dieser schlicht und einfach humanen Konzeption habe ich die Hälfte meiner Freunde verloren und mich von unserem Premierminister Manuel Vals als schlechten Franzosen behandeln lassen. Aber jetzt kann und muss ich sagen:

Das Recht von der Einwanderung ohne Bremse, das dabei ist sich als europäische Ideologie zu konstituieren, die die Rechte der mobilen Ausländer, polnische oder mittelöstliche, über diejenigen der Landsleute stellt, die also die Bevölkerungen in einen Zustand der Unsicherheit versetzt, ist  ein Anti-Humanismus, der sich hinter guten Gefühlen versteckt.

In den Menschenrechten, in der Basis der Demokratie selbst, die national sein muss, um funktionieren zu können, gibt es implizit ein Recht auf territoriale Sicherheit, ein Recht auf die Regulierung der Einwanderung. Indem man dieses Recht verneint, organisiert man in Wirklichkeit den Absturz der westlichen Welt in die Barbarei. Es ist verantwortungslos zu behaupten, dass es ausländerfeindlich sei, Einwanderung zu regulieren. Auch da haben die Engländer Recht.

Aber hier befinden wir uns im frontalen Zusammenstoß mit einem strukturell wilhelminischen, abenteuerlichen Deutschland, das den Kontinent destabilisiert.

Die fundamentale Sorge Deutschlands – man muss seine Presse lesen, wir können das dank Google Translate – ist es, Einwanderer in außerordentlichen Mengen anzuziehen, obwohl das Land es bereits nicht geschafft hat, die türkischen Bevölkerungen korrekt zu assimilieren. Das Loch, das sich am Fuß seiner Alterspyramide auftut, ist seine Obsession. Für die Deutschen ist die Personenfreizügigkeit in Europa und darüber hinaus essentiell da unersetzlich für seine Einwanderungspolitik. Es will, ich habe es schon gesagt, die qualifizierten jungen Leute absorbieren, die in der Eurozone der Arbeitslosigkeit ausgeliefert sind. Es will über das hinaus, was anthropologisch vernünftig ist, Bevölkerungen aus dem Mittleren Osten absorbieren, deren Rate an Ehen unter Cousins und Cousinen bei 35% liegt.

Einwanderung als Chaos heißt das Projekt Deutschlands.

Ich würde gerne jedes Missverständnis vermeiden. Ich bin kein Befürworter radikaler Konflikte, ganz im Gegenteil. Für mich ist das Offensichtlichmachen dieser Widersprüche eine Hilfe bei der Bewusstseinsbildung, um zu vermeiden, dass schwere Konflikte heranreifen, damit Franzosen, Briten, Deutsche, Italiener, Spanier und Schweden sich, ohne die anderen zu verlieren, einig werden über

  • die Perspektiven einer vernünftigen Einwanderung
  • die friedliche Koexistenz der Nationen
  • die Verteidigung der Demokratie

Es reicht vor allem nicht aus, im Wesentlichen zu antworten, dass „Europa die Demokratie ist“. Seien wir ehrlich: ohne die Engländer ist Europa schon heute nicht mehr der Ort der Demokratie.

Schauen wir in die 1930er Jahre zurück: Salazar, Franco, Mussolini, Hitler und in Osteuropa, mit Ausnahme der Tschechoslowakei, auch nur Diktaturen. Das Leugnen führt zu einem brutalen Realitätsschock. Wenn die Probleme nicht angegangen werden, wird es natürlich zu einer Rückkehr der Konflikte kommen.

Kommentar:

  • Bravo, Emmanuel Todd, c’est très bien dit!!!
  • Vor einigen Wochen hat sich Todd erstmals öffentlich zu Merkels Einwanderung geäußert. Der Tenor ist derselbe, aber inzwischen hat er die Aussage in einen größeren Kontext eingebettet.

Teil 4: Brexit – wie geht es weiter?

Brexit – Das Ende des Westens

Brexit, was nun? Der Historiker und Demograf Emmanuel Todd äußert sich exklusiv in einem langen  Gespräch im Atlantico (Text auch auf diesem Blog), um in der Tiefe die Bedeutung der britischen Abstimmung zugunsten eines Austritts aus der Europäischen Union zu analysieren. Ich gebe das hier in mehreren Teilen wieder. Zu Teil 1

Teil 2: „Der Brexit ist das Ende der Idee von einem westlichen System. Von nun an sind alle Neuordnungen möglich. Das ist das wirkliche Ende des Kalten Krieges.

Atlantico: Wenn man Sie hört, wenn man Ihrer Logik bis zum Schluss folgt, ist die passende Achse, um Europa zu ändern, nicht mehr das deutsch-französische Paar, sondern das Paar Paris-London?

Emmanuel Todd :

Ja. Es wird ein Europa der Nationen geben. Aber in diesem Europa der Nationen, einem friedlichen, hoffe ich, wird es immer noch Probleme mit dem Gleichgewicht der Mächte geben, und Deutschland wird noch einige Zeit die dominierende wirtschaftliche Macht bleiben. Auf mittlere Sicht lassen die demografische Krise und das Abenteurertum der Deutschen bei der Einwanderung eine schwere politische Krise in diesem Land und auf dem Kontinent vermuten – sagen wir in den kommenden 20 Jahren.

Einer der größten Fehler der französischen Führung ist es, nicht verstanden zu haben, nicht in der Lage gewesen zu sein vorherzusehen, dass der richtige Weg zu einem Gleichgewicht mit Deutschland nicht der Euro war, der uns zerstört, sondern die Achse Paris-London, die auf mittlere Sicht unausweichlich ist und kein Gelegenheitspaar darstellen wird, weil sie in der Logik der Kräfte und der Kulturen liegt.

Es ist eine große Lüge der französischen Eliten, wenn sie so tun, als ob sie England misstrauen. In Wahrheit handelt es sich um das einzige europäische Land, dem wir absolut vertrauen, und deshalb ist es das einzige Land, mit dem wir effizient bei der militärischen Sicherheit zusammenarbeiten können. Das ist keine technische Sache, es zeigt eine extrem starke Vertrauensbeziehung. Machen wir mit der Enthüllung der Wirklichkeit weiter:

  • Es gibt nur einige Zehntausend Franzosen in Berlin, während es Hunderttausende in London gibt, ebenso wie auch Engländer in Frankreich.
  • Es gibt zwei Zwillings-Megastädte in Europa, nämlich London und Paris.
  • Die demografischen Dynamiken der beiden Länder sind dieselben: nahe bei zwei Kindern pro Frau
  • Das Reden über den Gegensatz zwischen dem neoliberalen und inegalitären England und dem Frankreich des Sozialstaats enthält ein Element der Wahrheit, aber wenn man diese beiden Länder beobachtet, sieht man, dass sie sich parallel entwickeln, bei der Unterdrückung der Jungen und den Privilegien für die Alten.

Alle Nationen sind verschieden. Aber der objektive Vergleich muss uns zugeben lassen, dass die wirklich fremde Welt mit ihren so raren Jungen, ihren wegen des demografischen Niedergangs so niedrigen Mieten, ihrer strukturellen Einheit zwischen Links und Rechts, ihrem sozialen Autoritarismus, Deutschland ist und nicht England.

Atlantico: Und wie wird diese Periode des Übergangs zum Europa der Nationalstaaten ablaufen?

Zunächst auf dem Kontinent leider durch eine Beschleunigung und Verschärfung des antidemokratischen Niedergangs. Von nun an werden mit einem liberalen England, das uns verlassen hat, um sich neu zu erfinden, die Kommandos aus Berlin noch brutaler eintreffen. Unmaskiert. Die führenden, ähm, die geführten französischen Klassen können sich darauf gefasst machen, dass sie öffentlich gedemütigt werden. Vergessen wir nicht, dass mit dem Weggang der Briten auch die Vereinigten Staaten definitiv die Kontrolle über Deutschland verlieren. Mit dem Brexit nimmt die deutsche Sphäre offiziell ihre Unabhängigkeit an.

Das Niveau der Kontrolle durch die Amerikaner war durch das strategische deutsche „Nein“ zum Irakkrieg geschwächt worden. Wir haben die amerikanische Machtlosigkeit feststellen können bei der kategorischen Weigerung der Deutschen, den wirtschaftlichen Weisungen der Vereinigten Staaten zu gehorchen, die sie beschworen haben zur Wiederbelebung der Weltwirtschaft beizutragen, indem sie ihre Ausgaben erhöhen.

Der Brexit ist das Ende der Idee von einem westlichen System. Von nun an sind alle Neuordnungen möglich. Das ist das wirkliche Ende des Kalten Krieges. Und Putin zeigt durch seine extrem vorsichtigen Kommentare, dass er das verstanden hat. Die Lage wird in der Tat gefährlich, aber nicht aus den Gründen, die die Euro-Konformisten vorbringen.

Es ist wahr, wir behalten diese Sicherheit, die daher kommt, dass niemand Krieg will, dass unsere Bevölkerungen alt sind und noch für einige Zeit reich. Aber es gibt gewalttätige Elemente der nationalen Selbstbehauptung:

  • Es gibt die Gewalt der Übernahme der wirtschaftlichen Kontrolle über den Kontinent durch Deutschland
  • Es gibt die Gewalt der deutschen Einwanderungspolitik, die logisch seiner austeritären Politik der Zerstörung der Volkswirtschaften in der Eurozone folgt
  • Mit diesem extrem gewalttätigen Traum Deutschlands, für seine eigene Volkswirtschaft die jungen qualifizierten Spanier, Italiener, Portugiesen Griechen und bald auch Franzosen zu gewinnen, die zur Arbeitslosigkeit verurteilt sind
  • Es gibt die Gewalttätigkeit, mit der Deutschland die Vereinigten Staaten zurückgewiesen hat.

Der französische Antiamerikanismus ist ein Witz verglichen mit dem deutschen. Ich glaube, dass die Deutschen den amerikanischen Sieg im Zweiten Weltkrieg als illegitim betrachten, weil sie wissen, dass der wirkliche Sieg, der auf dem Boden, derjenige der Russen war, die 90% der menschlichen Anstrengung gebracht haben. Die amerikanische Politik der Misshandlung Russlands nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks war ein enormer strategischer Fehler. Die Amerikaner haben sich, besoffen von ihrem Erfolg im Kalten Krieg, nicht klargemacht, dass sie Deutschland destabilisieren. Die Amerikaner haben die wahren Sieger über Deutschland gedemütigt, die Russen, was in einem gewissen Sinn darauf hinauslief zu sagen, dass der Zweite Weltkrieg nicht einmal stattgefunden hat. Wo kein Sieger ist, ist auch kein Besiegter. Von da an war Deutschland von seiner Vergangenheit befreit. Die antirussische amerikanische Strategie hat den amerikanischen Griff auf Deutschland zerstört.

Die Franzosen ihrerseits, statt als ein Gegengewicht zu agieren, indem sie mit den Engländern gut Freund waren, haben ihre Zeit damit zugebracht zu sagen, dass Deutschland großartig ist. Ihre freiwillige Unterwürfigkeit hat dazu beigetragen, Deutschland zu renationalisieren.

Atlantico: Für Jean Claude Juncker, „ist der Brexit keine freundschaftliche Scheidung“ und für Francois Hollande „muss das Vereinigte Königreich in allen Bereichen, einschließlich der Personenfreizügigkeit, den Preis bezahlen, wenn es im gemeinsamen Markt bleiben will“, wobei er darauf hinweist, dass die Situation „eine Erfahrung und Lektion wert sein könnte“. Wie interpretieren Sie eine solche Position, die man als „harte Linie“ gegenüber dem Vereinigten Königreich bezeichnen könnte?

Wir haben keine Führungsschicht mehr, wir haben, ich sagte es schon, geführte Schichten. Was Hollande und Juncker sagen, interessiert mich nicht mehr. Was Sie hier zur Sprache bringen, ist eine gespielte Komödie, die so tut, als ob Europa (französische Schreibweise) noch existierte. Was existiert ist „Europa“ (deutsche Schreibweise), also ein deutsches Europa.

Die einzige wichtige Sache, die nach meiner Meinung seit dem Ergebnis des Referendums passiert ist, ist dass wir gesehen haben, wie der Reihe nach die Außenminister, Hollande und Renzi nach Berlin geeilt sind, um ihre Anweisungen abzuholen. Das ist entlarvend. Die Härte von Hollande wird keinerlei praktische Wirkung haben. Deutschland wird entscheiden.

Lassen Sie uns trotzdem festhalten, dass unser Präsident, nein, unser Repräsentant in Berlin einen Verrat mehr an unserem nationalen Interesse begangen hat: Frankreich hat 10% Arbeitslosigkeit, es hat ein Handelsdefizit mit allen europäischen Ländern außer dem Vereinigten Königreich, wo seine finanziellen und industriellen  Investitionen beträchtlich sind, und er will uns in einen Konflikt stürzen. Im Fall eines wirtschaftlichen Konflikts mit dem Vereinigten Königreich hat Frankreich wegen der Intensität unserer Bindungen mit unserer Schwester auf der anderen Seite des Ärmelkanals am meisten zu verlieren. Es gibt überhaupt kein Bewusstsein für die nationalen Interessen in dieser Geschichte.

Zu versuchen, sich mit England anzulegen wäre ebenso unvernünftig wie es war, Russland in die Knie zwingen zu wollen. Großbritannien ist eine Insel, aber es ist nicht isoliert. Die Anglosphäre sind die USA, Australien, Kanada, Neuseeland und UK, deren Gesamtbevölkerung schon größer ist als diejenige Europas zwischen Brest und Warschau. Auch davon ist das Königreich ein Teil.

Deutschland ist also das, was mich interessiert. Was wird es tun?

Deutschland ist ein Land, das in zwei psycho-politischen Moden funktionieren kann:

  1. In einem vernünftigen Modus, den ich den Bismarck’schen Modus nenne, wo man versucht, gut Freund mit möglichst vielen Leuten zu sein, um den Griff auf seinen Herrschaftsbereich sicherzustellen. Bismarck war gut Freund mit Großbritannien, mit Russland, mit Österreich-Ungarn und mit Italien, um Frankreich zu isolieren, das 1870 geschlagen worden war und den Verlust von Elsaß-Lothringen schlecht verdaute. Sein Ziel war die Stabilisierung des wiedervereinigten Deutschen Reiches.
  2. Und dann gibt es den wilhelminischen Modus, wo man den Ball nicht flach hält und versucht, sich möglichst viele Feinde zu machen, um alles Erreichte zu verlieren: Wilhelm hat sich mit Russland zerstritten und mit Großbritannien und damit für Frankreich ein System von Allianzen geschaffen.

Also: einen manischen deutschen Modus und einen ruhigen deutschen Modus. Merkel ist eher im ruhigen Modus, bis auf da, wo sie zur Einwanderung aufgerufen und angefangen hat, den Kontinent zu destabilisieren. Mit dem Ruf an die syrischen, irakischen und afghanischen Flüchtlinge ist sie in den manischen Modus gewechselt, den wilhelminischen.

Der Bismarck’sche, der ruhige und vernünftige Modus wäre es, wenn Deutschland den Brexit akzeptieren würde, ohne ein Theater zu machen, und davon profitieren, um seine Kontrolle des Kontinents zu vollenden. Es ist das freihändlerischste Land der Welt in einem Europa, das alle Zollschranken niedergerissen hat. Warum sich mit einem Handelskrieg herumschlagen?

Die Situation ist exakt das Gegenteil von dem, was uns die anglophoben Europäisten erzählen, also sprechen wir das Wort aus: die Neo-Pétainisten. Sie berauschen sich an der Idee, dass der Weggang des Vereinigten Königreichs die Rolle Frankreichs als Gegenüber von Deutschland stärkt. Das ist offensichtlich falsch. Die schreckliche Wahrheit ist, dass es in Europa ein Gleichgewicht der Mächte gab, mit den Deutschen, der dominierenden Macht, und dann den Engländern und den Franzosen. Das ganze Spiel der Deutschen war es, Franzosen und Engländer gegeneinander auszuspielen, um das Gleichgewicht zu erhalten, das ihre Macht zur globalen Kontrolle sicherstellte. Nun sind sie von der englischen Macht befreit, die in politischen Dingen liberal ist und eine Bremse sein musste für alle autoritären Bestrebungen, die schon jetzt stark sind in Deutschland und auf dem Kontinent. Jetzt werden die Franzosen nicht mehr von den Engländern geschützt, sie finden sich in einem völlig ungleichgewichtigen Tête-a-Tête mit Deutschland wieder und wir werden von der freiwilligen Unterwürfigkeit in eine immer weniger freiwillige Unterwürfigkeit hinübergleiten.

Die Anweisungen aus Berlin könnten immer weniger höflich werden, umso mehr als Deutschland mangels einer Strategie eine Taktik hat: es scheint die Engländer sofort durch die Italiener ersetzt zu haben, um Frankreich zu schwächen. Es nimmt Renzi ins Spiel, um erneut eine interne Konkurrenz zu erzeugen, die Frankreich wieder schwächt.

Ich bin auf lange Sicht optimistisch. Ich habe keinerlei Zweifel am Modell der Neuentstehung der Nationen und glaube, dass diese Probleme letztendlich in eine friedliche Rückkehr zu einem Europa der Nationen münden. Wegen der Altersstruktur unserer Bevölkerungen, weil die erste Macht des Kontinents, Deutschland, kaum eine Armee hat und keine Kernwaffen besitzt, weil die Europäer friedliche und zivilisierte Leute bleiben. Krieg ist unvorstellbar. Aber in der Übergangsphase wird die Position Frankreichs sehr hart sein. Wir werden unseren Status als Herzchen Deutschlands verlieren, als wunderliches Kind, dem man alle Defizite erlaubt. Auf dem Weg zu 15% Arbeitslosigkeit?

Die Briten gehen, weil sie die Brüsseler Bürokratie nicht mögen, natürlich, aber vor allem weil sie die Freiheit im Leib haben. Sie nehmen die Eurozone nicht nur als eine wirtschaftliche Katastrophe wahr, als eine Zone der Austerität und der Stagnation – wie die ganze Welt übrigens – sondern auch als den Ort eines autoritären und antidemokratischen Niedergangs. Und natürlich kündigt uns der Rückzug Englands aus dem zentraleuropäischen Raum in einer ersten Zeit eine Akzentuierung des autoritären Niedergangs dieses „Europa“ (deutsche Schreibweise auch im Original) an.

Für einen Geopolitiker erscheint eine Konfiguration mit zwei großen freien Nationen am äußersten Rand des Kontinents, Russland und dem Vereinigten Königreich, mit einem Frankreich, das Deutschland folgt, mit einem Italien am Rande des Türmens und Amerikanern, die es nicht eilig haben einzugreifen wie eine friedliche, wirtschaftliche und ein wenig senile Parodie Europas im Jahr 1941.

Kommentare:

  • Eine interessante, ungeschminkte Perspektive, die man kennen sollte, aber nicht unbedingt teilen muss. Da stecken auch viele persönliche Vorlieben Todds drin. An einigen Stellen urteilt er mir zu hart über Deutschland, das auch in einem Dilemma steckt (siehe unten).
  • Vor ungefähr 20 Jahren bin ich mit einem französischen Studienfreund den ‚Pennine Way‚ durch Nordengland gegangen. pennine_way_bWir hatten schon einige Fernwanderwege in Frankreich zusammen gemacht und jetzt erstmals zusammen nach England übergesetzt. Dabei haben wir uns wie immer über Gott und die Welt unterhalten. Sehr interessant, wie verschieden Leute denken können. Er war ein glühender Bewunderer der Angelsachsen inklusive Reagans und Thatchers. Ich hatte für Thatcher und Reagan nichts übrig, mochte aber die Engländer schon damals durchaus gern, ihre Sitten, ihr Bier, ihren Cider, Fish & Chips und Lamb Stew. Vor dem Start der Tour haben wir in Leeds fettigen Fish & Chips gegessen und zum Nachtisch ein Mars Bar Fritters. Die Landschaft war traumhaft und die Wirtshäuser am Weg waren urgemütlich, vor allem nach 30 Kilometer durchs Hinterland, einem Lamb Stew und zwei Pint Cider: penninewayVon dieser Tour habe ich den tiefen Eindruck mitgenommen, dass sehr viele Franzosen mehr Vorbehalte gegen England haben mögen als gegen Deutschland, aber gerade ihre intelligentesten und besten Landsleute das durch eine große Begeisterung für England wieder wettmachen (siehe Emmanuel Todd, der zudem nie als ein Anhänger von Reagan und Thatcher aufgefallen ist).
  • Kurz: ich halte es für absurd, wenn Deutschland sich mit Frankreich zusammentut, um England zu strafen und vom europäischen Kontinent fernzuhalten. Das wird auf Dauer nicht halten. Es wird niemand etwas davon haben außer böses Blut. Die Engländer werden sich nicht fern und nicht unten halten lassen. Die Franzosen werden das auf Dauer nicht wollen, selbst wenn sie es anzetteln sollten, weil es eine starke und intelligente (siehe Todd) Opposition dagegen gibt, die irgendwann wieder mitreden wird. Deutschland könnte am Schluss der Dumme sein und sollte deshalb gar nicht erst mitmachen. Außerdem widerstrebt es mir sehr, ein Land für eine demokratische und nachvollziehbare Entscheidung zu schikanieren.
  • Das Verhältnis vieler normaler Franzosen zu Deutschland hat sich in den letzten 10 Jahren verschlechtert, weil ihnen der Euro zunehmend schadet. Sie rechnen das Deutschland negativ an, obwohl der Euro kein deutsches Projekt war (dazu bald mehr in einem Text von Todd), weil er aber inzwischen auch durch deutsche Fehler vollends an die Wand gefahren wurde. Dazu kommt die Großspurigkeit der deutschen Öffentlichkeit, Medien und mancher Politiker. Man spürt das in Frankreich.
  • Ich sage es ungern: Merkel hat Recht, wenn sie vor übereilten und gegen England gerichteten Reaktionen warnt. Die SPD ist mit Schulz und Gabriel mal wieder selbstgerecht auf dem Holzweg.
  • Deutschlands Lage nach dem Brexit ist schlecht. Todd hat Recht: wir haben keine Strategie, weil es keine gute gibt. Der Brexit ist Mist und der Euro das große Problem, das Deutschland, Frankreich und Italien zusammenkettet, England ausschließt und vertrieben und das Dreieck zerstört hat, in dem alle 3 am besten leben konnten, ohne dass einer der Underdog war. Glückliche Zeiten: perdu.
  • England und Frankreich werden in absehbarer Zeit wegen ihrer Demografie auch wirtschaftlich stärker sein als Deutschland, militärisch sind sie es beide schon heute deutlich. Deutschland hätte jedes Interesse der Welt, beide Länder fair und respektvoll zu behandeln (ebenso wie jedes andere Nachbarland). Seine aktuelle Rolle als Scheinriese in der Eurozone und auf dem Kontinent macht das aber nicht leicht, sondern schwer.
  • Der Brexit ist ein Dilemma für Deutschland. Der Umgang mit dem Brexit-Referendum, die Ansprache an die englische Öffentlichkeit waren nicht gut genug. Merkel hat es zuletzt tatsächlich gesehen, aber nicht genug tun können. Ihre Fehler in der Europolitik von 2011/12 und in der Flüchtlingspolitik von 2015 haben den Engländern den Rest gegeben und Deutschland in diese missliche Lage gebracht.
  • Bei aller Wut über ihre Fehler muss man sagen: es ist zu viel für eine Person.  Nicht Merkel ist die Hauptschuldige, sondern die vielen, die ihr jahrelang blind vertraut haben, weil es so bequem war, die extremen Probleme nicht zu sehen. Es ist eine Idee von Todd, dass in hierarchischen Gesellschaften die Frauen (oder Männer) an der Spitze grundsätzlich überfordert werden. Das sieht man sehr schön an David Cameron: er hatte eine leichtere Aufgabe, hat sie verbockt, und konnte doch lässig abtreten. England wird zu kämpfen haben mit dem Brexit, kann ihn aber langfristig zu einem Erfolg machen. Deutschland steht aus vielen Gründen langfristig schlechter da, und die Deutschen sind auch noch so blöd, Cameron (und Johnson) ihre Lässigkeit vorzuwerfen, die daher kommt, dass sie für nichts allein verantwortlich sind, sondern nur Primus inter Pares.
  • Bei reiner Vernunft wäre es das Beste, das Chaos nach dem Brexit zu nutzen, um auch den Euro noch zivilisiert und fair zu verlassen und gleich zu einem Europa der Nationen mit eigener Währung vorzurücken. Die normalen Franzosen und Deutschen würden vielleicht letztlich aufatmen, Intellektuelle wie Todd würden Deutschland dafür lieben. Was aber würden die (Ex-)Besitzer von Geldvermögen in ganz Europa dazu sagen und was das französische Pro-Euro-Establishment?
  • Todd hat natürlich Recht mit den autoritären Tendenzen in Deutschland. Merkels Flüchtlingspolitik war gegenüber der eigenen Bevölkerung autoritär bis auf die Knochen (siehe Teil 3). Justizminister Maas ist ein autoritärer Zensur-Hansel, der sich eine Stasi-Seilschaft als Schergen hält. Schäuble ist ein autoritärer Sado-Monetarist, der die Eurozone mit der Peitsche sinnlos peinigt. Der unsägliche Martin Schulz entblödet sich nicht, die neu gewählte britische Regierungschefin für ihre Personalentscheidungen zu kritisieren. Was bilden sich diese Leute eigentlich ein? Sie halten sich für ganz tolle liberale Europäer und machen gleichzeitig einen Kasernenhof aus Deutschland und dem Kontinent. Das wird ins Auge gehen.

Teil 3: Merkels Deutschland im manischen Modus

Teil 4: Brexit – wie geht es weiter?

Brexit – den Engländern folgen

Brexit, was nun? Der Historiker und Demograf Emmanuel Todd äußert sich exklusiv in einem langen  Gespräch im Atlantico (Text auch auf diesem Blog), um in der Tiefe die Bedeutung der britischen Abstimmung zugunsten eines Austritts aus der Europäischen Union zu analysieren. Ich gebe das hier in mehreren Teilen wieder.

Teil 1: „Die 4. Etappe, nach dem Erwachen von Deutschland, von Russland und des Vereinigten Königreichs, muss das Erwachen Frankreichs sein. Den Engländern zu folgen, entspricht unserer revolutionären Tradition.“

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Atlantico: Am 23. Juni hat sich das Vereinigte Königreich entschieden, aus der Europäischen Union auszutreten. Emmanuel Todd, man kann sich vorstellen, dass Sie sehr zufrieden sind mit diesem Ergebnis.

Emmanuel Todd : Das ist offensichtlich, aber nicht wirklich das Problem. Ich interessiere mich als Historiker der französischen Schule von Fernand Braudel und meines Lehrers Emmanuel Le Roy-Ladurie für das, was auf lange Sicht passiert. Ich versuche, mich der Kurzfristigkeit der Aufregung der Politiker zu entziehen.

Der Brexit gehört zu einem globalen Phänomen, über das ich arbeite und das alle am weitesten entwickelten Gesellschaften betrifft, einschließlich Amerika, Kanada, Australien, Japan: die Divergenz. Die Demografen wissen, dass die Fruchtbarkeiten sehr verschieden sind, dass manche Bevölkerungen sich reproduzieren, dass andere das nicht schaffen. Die Arbeiten von Atkinson und von Piketty zeigen, dass die Geschwindigkeit und das Ausmaß des Anstiegs der Ungleichheiten verschieden sind.

Die Anthropologie der Familienstrukturen erlaubt es, den Ursprung dieser Unterschiede und dieser allgemeinen Divergenz zu verstehen. Was gerade im Zusammenhang mit der Globalisierung passiert, ist nicht nur, dass die nationalen Kulturen Widerstand leisten, sondern dass der Stress und die Leiden der Globalisierung die Gesellschaften dazu bingen, sich nicht mehr zu öffnen und zu konvergieren, sondern im Gegenteil in sich selbst, in ihren Traditionen und anthropologischen Fundamenten die Kraft zu finden, sich anzupassen und neu aufzubauen. Das ist das, was ich beobachte, und zwar über den europäischen Kontext hinaus.

Japan ist in einer Periode der Rückbesinnung auf sich selbst. Die Leute träumen von der Edo-Zeit, in der sich das Land auf autonome Weise entwickelte, ohne dass Europa etwas davon wusste.

Es sind Kräfte derselben Ordnung, die es erlaubt haben, Kandidaten wie Bernie Sanders oder Donald Trump in den Vereinigten Staaten hervorzubringen, die einen Ausstieg aus dem „Washingtoner Konsens“ und aus dem Globalisierungsdiskurs verlangen mit einem Traum der Neugründung der amerikanischen Nation.

In Europa ist das noch interessanter, weil wir ein System von alten Nationen sind. Europa hat diesen Prozess als Erstes gestartet, weil Deutschland zuerst ausgestiegen ist. Die Problematik der Rückkehr der Nation ist Deutschland 1990 durch seine Wiedervereinigung aufgezwungen worden. Das war seine Pflicht, es musste seinen östlichen Teil wieder aufbauen. Es hat eine Art Vorsprung gehabt, der es seit ungefähr 2010 beinahe durch Zufall in seine Vormachtstellung auf dem europäischen Kontinent gebracht hat. Das zweite Land in Europa, das sich nach vielen Wirren auf ein nationales Ideal rückbesonnen hat, ist Russland. Das sowjetische Imperium hat sich aufgelöst, Russland hat zwischen 1990 und 2000 eine Periode furchtbarer Leiden durchlebt, aber die Machtübernahme von Putin hat schließlich diese Rückkehr Russlands zu einem nationalen Ideal verkörpert, Rückbesinnung auf eine neo-gaullistische Idee von Unabhängigkeit. Es hat die Russen 15 Jahre gekostet, um in eine ökonomische, technologische und militärische  Situation zu kommen, in der sie keine Angst mehr vor den Vereinigten Staaten haben müssen. Das ist, was man schrittweise in Georgien, auf der Krim und dann in Syrien feststellen konnte. Man kommt zu einer Situation, in der die westlichen Armeen, die Syrien überfliegen wollen, Russland um Erlaubnis fragen müssen.

Dieses Referendum über den Brexit ist in dieser Logik der Schritt 3:
Die Neuentstehung des Vereinigten Königreichs als Nation.

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Atlantico: Und was wäre die Besonderheit des Vereinigten Königreichs in dieser Dynamik der Rückkehr zur Nation?

Sie sind nicht die ersten, aber das ist wahrscheinlich die wichtigste Etappe, weil es eines der zwei Länder ist, die die Globalisierung angeführt haben.
Mit Margaret Thatcher hatten sie ein Jahr Vorsprung vor den Vereinigten Staaten bei der neoliberalen Revolution. Sie gehören zu den Ländern, die als erste diese Logik angetrieben haben. Eine anglo-amerikanische Rückkehr zum nationalen Ideal ist wichtiger als das deutsche Heraustreten oder die russische Stabilisierung. Seit dem 17. Jahrhundert wird die ökonomische und politische Geschichte der Welt von der anglo-amerikanischen Welt angetrieben.
Die englische Nation hat zwei kombinierte und widersprüchliche Besonderheiten: Es handelt sich zunächst um die individualistischste und offenste Kultur Europas: das ist das Land, das die politische Freiheit erfunden hat. Dann ist es paradoxerweise auch eine nationale Identität auf ethnischer Basis, die praktisch ebenso solide ist wie die japanische. Wie die Japaner wissen die Engländer, wer sie sind.

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Atlantico: Wenn man ihrem Gedankengang der Rückkehr zur Nation folgt, welches Land ist dann das nächste nach Deutschland, Russland und nun dem Vereinigten Königreich?

Um zu akzeptieren, was ich Ihnen sagen werde, muss man sich von den Gemeinplätzen über England lösen, diese merkwürdigen Engländer, die zweistöckige Busse haben, die links fahren, die Humor haben, eine respektierte Königin, etc. Alles das ist wahr. Aber man muss die Engländer vor allem als Anführer unserer Modernität sehen, in der langen Sicht nach Braudel.
Die industrielle Revolution ist aus England und Schottland gekommen und hat Europa ökonomisch umgestaltet. Die französischen, deutschen, russischen und anderen industriellen Revolutionen sind nur Folgen davon. Aber noch vor der wirtschaftlichen Transformation haben die Engländer unsere liberale und demokratische Moderne erfunden. Der wirkliche Ausgangspunkt war 1688, das, was die Engländer die „Glorious Revolution“ nennen, durch die die parlamentarische Monarchie etabliert worden ist. Wenn sie die „englischen Briefe“ von Voltaire von 1734 lesen, werden Sie seine Bewunderung für die englische Modernität sehen, mit sehr komischen Sachen über die Quaker oder die Abwesenheit eines Sexuallebens bei Newton. 1789 ist es der objektive Traum der französischen Revolutionäre England einzuholen, das Modell der politischen Modernisierung.  Das ist das Modell von Daron Acemoglu und James Robinson in ihrem Bestseller Why Nations Fail, das ich umso lieber akzeptiere, als sie sehr viel Sympathie für Frankreich haben. Sie unterstreichen, dass das, was die französische Revolution gebracht hat, für den ganzen Kontinent von größter Wichtigkeit war, dass unsere Revolution das Ideal der Volksbeteiligung allgemein verbreitet hat. Jedenfalls hat England  die repräsentative Regierung erfunden.
In diesem Kontext ist es nicht unlogisch festzustellen, dass das erste Referendum, das wirklich Konsequenzen für die Europäische Union haben wird, das historische Referendum, im Vereinigten Königreich stattgefunden hat. Ein Referendum ist eine ungewöhnliche Prozedur in England. Aber der Gegenstand dieses Referendums war, das ist ganz klar, dass die erste Motivation der Brexit-Wähler nach den Nachwahlumfragen noch vor der Einwanderung die Wiederherstellung der Parlamentssouveränität war. Denn bis zum Brexit war das englische Parlament nicht mehr souverän, obwohl das absolute Prinzip der politischen Philosophie für die Engländer die Parlamentssouveränität ist.

Ich schließe: logisch betrachtet muss die 4. Etappe nach dem Erwachen Deutschlands, Russlands und des Vereinigten Königreichs das Erwachen Frankreichs sein. Den Engländern zu folgen, entspricht unserer revolutionären Tradition.

Kommentar zu Teil 1:

  • Dass die Parlamentssouveränität ein wichtiger Brexit-Treiber war, ist korrekt. Auf diesen Beitrag hatte ich bereits an anderer Stelle verwiesen.
  • Den Rest von Teil 1 lasse ich einfach mal so stehen. Es ist immer Geschmackssache, wie man die Zukunft aus den großen Linien der Vergangenheit ableitet. Was Todd sieht, ist in der Realität nur eine Möglichkeit, aber eine Sichtweise, die in Frankreichs Opposition, auch bei rechten und linken Souveränisten und Gaullisten viel Unterstützung hat. Die regierenden Sozialisten sind geistig und politisch tot und haben für die Zukunft wenig Bedeutung. Frankreich ist ein Land, das auf Dauer die Unzufriedenheit seiner Bürger und ernsthaften Kritiker (anders als Deutschland) nicht unterdrücken und sich selbst deshalb neu erfinden wird, ohne viel Rücksicht auf das zu nehmen, was ein Hollande heute zusagt.
    Die deutschen Medien täuschen uns über diese Aussicht dadurch, dass sie diese Ideen allein im Front National ansiedeln und wahlweise dämonisieren oder lächerlich machen. Wer sich auf die deutschen Medien verlässt, ist aber verlassen.

Teil 2: Das Ende des Westens

Teil 3: Merkels Deutschland im manischen Modus

Teil 4: Brexit – wie geht es weiter?

 

 

Demokratie und Nation

Ein Text anlässlich des Brexits vom vergangenen Donnerstag entnommen aus Emmanuel Todds „L’illusion économique“ von 1998 (Deutscher Titel: „Die neoliberale Illusion“). Die zentrale Aussage des in Cambridge in Geschichtswissenschaft promovierten und für einen französischen Intellektuellen sehr anglophilen Emmanuel Todd lautet:
Demokratie und Nation sind also nur die zwei Gesichter, inneres und äußeres, einer Gesellschaft, die durch die Massenalphabetisierung homogenisiert worden ist. Das ist der Grund, warum diese beiden Konzepte für die Menschen des 19. Jahrhunderts so nah beieinander lagen. Der aktuelle Wille, sie zu trennen, indem man die Demokratie positiv beurteilt und die Nation negativ, wäre ihnen als eine logische Unmöglichkeit erschienen… Die Nation zu verneinen bedeutet in der Praxis auch, die Demokratie zu verwerfen.

Und hier die ausführlichere Ableitung dieser Aussage:

Von der Massenalphabetisierung zur Gleichheit

Nach einer kurzen Einleitung über die Beobachtungen Alexis de Tocquevilles zur (im 19. Jahrhundert) unaufhaltbar fortschreitenden Gleichheit der Menschen in den westlichen Gesellschaften fährt Todd fort:
„Nichts kann dieses Fortschreiten auf die Gleichheit der Bedingungen besser erklären als die Diffusion der Alphabetisierung von oben nach unten auf der sozialen Leiter, von den Priestern zu den Adligen und den Bürgerlichen, dann zu den Handwerkern, den Händlern, den Bauern, den Landarbeitern und den Industriearbeitern. Die Schrift ist das fundamentale Mittel des Zugangs zum religiösen oder technischen Wissen; sie erlaubt die Beherrschung der Zeit. Sie ist ursprünglich das Privileg einer hierokratischen Kaste und als solche die Erzeugerin von Ungleichheit. Sie dehnt sich in der Folge in Etappen auf die Gesamtheit der Bevölkerung aus und löst damit gleichzeitig wirtschaftliche Entwicklung und Angleichung der (Lebens)Bedingungen aus. Jeder dieser entscheidenden Schritte verursacht einen demokratischen Schub auf dem politischen oder religiösen Feld. Die protestantische Reformation, die die Gleichheit des Laien und des Priesters im Zugang zur  Heiligen Schrift und zu Gott will, beginnt in Deutschland, wo gerade der Buchdruck erfunden worden ist. In der Folge, wenn 50% der erwachsenen Männer lesen und schreiben können, scheint geradezu mechanisch eine Revolution auszubrechen: in England in der Mitte des 17., im Pariser Becken am Ende des 18., in Russland am Anfang des 20. Jahrhunderts. Wenn wir die Idee akzeptieren, dass die tiefsten Unterschiede unter den Menschen sich auf dem Gebiet der intellektuellen Ausbildung und des Wissens einstellen, müssen wir zugeben, dass lesen und schreiben können 1789 den Bauern auf das Niveau des Adligen hebt und 1848 den Proletarier auf das Niveau des Bürgerlichen. Die Massenalphabetisierung erzeugt eine objektive Gleichheit auf dem geistigen Gebiet. Sie löscht die Phänomene der Vorherrschaft aus, die ursprünglich durch die Erfindung der Schrift erzeugt worden sind.
In einer Gesellschaft, in der die Mehrheit der Männer und der Frauen lesen kann und in der die fortdauernde Verbreitung der Alphabetisierung nahelegt, dass eines baldigen Tages alle dieses Ausbildungsstadium erreicht haben werden, ist die Entwicklung des demokratischen Ideals normal und natürlich. Die Individuen, die die höheren Stufen des Ausbildungsprozesses, Sekundar- und Hochschulausbildung, erreichen, stellen noch einen sehr kleinen Anteil der Bevölkerung einschließlich der wirtschaftlich privilegierten Klassen dar. Die Alphabetisierung wird in ihrer finalen Phase als ein besonderer Moment der Homogenisierung der Gruppe erlebt. Sie wird begleitet von einer Standardisierung der Kommunikation durch das Verschwinden peripherer Sprachen und Dialekte. Auf der politischen Ebene bringt sie eine ausgedehnte und glaubwürdige Gemeinschaft von Männern hervor, die dieselbe Sprache sprechen, lesen und schreiben und folglich debattieren, argumentieren, entscheiden und wählen können. Wenn diese homogene Gemeinschaft ihre innere Struktur betrachtet, denkt sie sich als eine Demokratie. Wenn sie nach außen schaut, denkt sie sich als eine Nation.

Demokratie und Nation sind also nur die zwei Gesichter, inneres und äußeres, einer Gesellschaft, die durch die Massenalphabetisierung homogenisiert worden ist. Das ist der Grund, warum diese beiden Konzepte für die Menschen des 19. Jahrhunderts so nah beieinander lagen. Der aktuelle Wille, sie zu trennen, indem man die Demokratie positiv beurteilt und die Nation negativ, wäre ihnen als eine logische Unmöglichkeit erschienen. Heute findet man sich gut, wenn man den Nationalismus und seine barbarischen Konsequenzen verwirft; aber die Nation zu verneinen bedeutet in der Praxis auch, die Demokratie zu verwerfen. Genau eine kulturelle Entwicklung, eine notwendige Folge des Alphabetisierungsprozesses, hat die Idee der Ungleichheit begünstigt und diese doppelte  Verneinung ermöglicht.“

Anmerkungen zum Brexit und zur EU aus der Perspektive dieses Textes von Todd:

  1. Die von den Brexit-Befürwortern in Anspruch genommene demokratische Motivation ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Ein sehr schönes Beispiel für eine rein demokratische Begründung des Brexits findet man beispielsweise hier.
  2. Die EU hat völlig unabhängig von der konkreten Gestaltung ihrer Institutionen einen fundamentalen Mangel für eine demokratische Ordnung: ihre Vielsprachigkeit erschwert den meisten Bürgern einen direkten Zugang zu Debattenbeiträgen und macht sie noch erheblich abhängiger von Informationsvermittlern, als sie es bereits in einer nationalen Demokratie sind. Weil beispielsweise der oben verlinkte Debattenbeitrag von Ambrose Evans-Pritchard 99,9% der deutschen Zeitungsleser nicht bekannt ist, ist es für hiesige Medien ein Leichtes, englische Brexit-Befürworter pauschal als ausländerfeindliche, ungebildete, arbeitslose Volldeppen, Landeier und Rentner darzustellen, obwohl Ambrose in mehreren europäischen Staaten studiert und gearbeitet hat und ein hoch angesehener Wirtschaftskolumnist ist, der das Brexit-Lager in vielen Beiträgen davor gewarnt hat, die wirtschaftlichen Probleme eines Brexits zu leicht zu nehmen oder unnötig politisches Porzellan in Europa zu zerschlagen.
  3. Der Demograf und Historiker Emmanuel Todd ist seit der ersten Hälfte der 90er Jahre ein Gegner der verstärkten europäischen Integration und insbesondere des Euro. In einem Text von 1995 erläutert er, wie es zu dieser Haltung gekommen ist, obwohl er die europäische Einigung bis dahin mit viel Wohlwollen gesehen hatte und noch immer der Meinung ist, dass sie bis ca. 1980 eine friedensstiftende Wirkung für die Völker Europas hatte.
  4. Der Konflikt zwischen dem Brexit- und dem Remain-Lager ist also nachvollziehbar ein Konflikt über die Abwägung von Vor- und Nachteilen internationaler Kooperation durch supranationale Strukturen, die beinahe notwendigerweise weniger demokratisch sind als nationale.
  5. Bei einer Reform der EU in Richtung zu weniger Zentralismus und mehr Gestaltungsfreiheit für die Nationalstaaten und die Regionen hätten sowohl die Brexit-Befürworter in England als auch die Brexit-Gegner vor allem in Schottland, Nordirland und London (und die übrigen Europäer) gemeinsam glücklicher werden können als mit dem Brexit und dem möglichen Verfall des Vereinigten Königreichs. Es ist (aus heutiger Sicht) ein Versäumnis der EU, das nicht angeboten zu haben und ein Fehler von David Cameron, das nicht hart genug gefordert zu haben als Gegenleistung für seine Unterstützung der Remain-Kampagne.
  6. Weder Brexit-Befürworter noch Brexit-Gegner sind Lichtgestalten oder Monster. Auch die Frage, welche Entscheidung einen Rückschritt darstellt, wird sich (wenn überhaupt) erst in ferner Zukunft beantworten lassen.
  7. Todds Überlegungen sind deshalb besonders wertvoll, weil er sie systematisch und ohne Effekthascherei bereits lange vor den Ereignissen und Konflikten entwickelt hat, die sich dann mit ihnen erklären und einordnen lassen. Er argumentiert also ungewöhnlich glaubwürdig nicht als Interessenvertreter oder Lobbyist, sondern als Sozialwissenschaftler und -philosoph, der Entwicklungen vorausdenkt und ihnen nicht hinterher läuft.
  8. Im letzten Satz des Textes merkt Emmanuel Todd an, dass eine ganz bestimmte Entwicklung zu mehr Ungleichheit und dann zu weniger Nation und weniger Demokratie in den westlichen Gesellschaften geführt hat. Diese eine Ursache und ihre vielen Folgen (Ungleichheit, Internationalisierung, Denationalisierung, wirtschaftliche Globalisierung, Demokratieverlust, Populismusverachtung) werden in weiteren Blogbeiträgen behandelt werden.
    Nachtrag vom 2.Juli 2016:
  9. Die barbarischen Konsequenzen des Nationalstaats, die Emmanuel Todd ausdrücklich anerkennt, kann man zum Beispiel am Hartmannswillerkopf besichtigen:
    Hartmannswillerkopf
    Ich habe das im Mai dieses Jahres getan, über 35 Jahre nach dem ersten Besuch, zu dem unser katholischer Pfarrer seine Ministranten hierhergeführt hatte.
  10. Solche Barbarei durch Nationalstaaten ist ein Argument, um ihre Wiedereinsetzung als alleiniger Entscheidungsrahmen ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Aber sie ist kein Grund, Macht ohne ernsthafte demokratische Kontrolle an die EU abzugeben, die EU als Institution und Personen von demokratischer Herausforderung freizustellen und absolut zu setzen. Denn exakt 100 Jahre nach den Gemetzeln am Hartmannswillerkopf war die EU an der Herbeiführung ähnlich umfangreicher Gemetzel in der Ostukraine beteiligt, mindestens durch Fahrlässigkeit.
  11. Das Argument, dass für die Ostukraine allein Russland verantwortlich ist, lasse ich kategorisch nicht gelten. Schließlich haben sowohl Deutschland als auch Frankreich allein die jeweils andere Seite für das Morden in den Vogesen verantwortlich gemacht, ebenfalls ohne dass sich die Opfer dafür irgendetwas kaufen konnten. 100 Jahre später ist es aber noch ebenso unmöglich wie damals, eine der beiden Seiten von Schuld freizusprechen. Das gilt selbstverständlich für das Deutsche Reich, aber es gilt auch für Frankreich (L’Alsace a tout prix!: Das Elsaß um jeden Preis!)