Brexit, was nun? Der Historiker und Demograf Emmanuel Todd äußert sich exklusiv in einem langen Gespräch im Atlantico (Text auch auf diesem Blog), um in der Tiefe die Bedeutung der britischen Abstimmung zugunsten eines Austritts aus der Europäischen Union zu analysieren. Ich gebe das hier in mehreren Teilen wieder.
Teil 1: „Den Engländern folgen“
Teil 2: „Das Ende des Westens“
Teil 3: „Deutschland im manischen Modus“
Teil 4: „Die französischen Eliten haben einfach nur Angst vor Deutschland“

Atlantico: In ihrer Ausgabe vom 29. Juni titelte die Tageszeitung Le Monde „Die Anführer des Brexit in der Falle ihres Sieges“. Seit der Abstimmung zugunsten des Brexit scheint sich die Melodie eines Vereinigten Königreiches breit zu machen, das vom Bedauern ergriffen wurde. Wie interpretieren Sie diesen Eindruck?
Emmanuel Todd : Ich glaube, dass da etwas dran ist. Ich verfolge ziemlich genau, was dort passiert. Die Leute verdächtigen mich oft, parteiisch zu sein, weil ich anglophil bin und an der Universität Cambridge ausgebildet. Ich gebe mit Stolz zu, dass es sogar schlimmer ist. Mein ältester Sohn ist auch in Cambridge gewesen, er war dort besser als ich, und sie haben ihn behalten. Er lebt in London und hat die englische Staatsbürgerschaft angenommen, und ich habe jetzt die Freude, zwei britische Enkelsöhne zu haben. Aber ich würde trotzdem gerne in erster Linie als ein Franzose betrachtet werden, der England besser kennt als Francois Hollande und einen schottischen Akzent erkennen kann. Bei der Gelegenheit sage ich, dass ich manchmal Engländer oder England auf archaische Weise benutze, wenn ich ganz Großbritannien oder das Vereinigte Königreich meine wie der Historiker A.J.P. Taylor.
Es ist klar, dass der Brexit eine kulturelle, politische, soziale und ideologische Krise in Großbritannien eröffnet hat.
Es ist wahr, dass die höheren Klassen und das Establishment massiv für „Remain“ gestimmt haben. Die Kategorien A und B der englischen sozioprofessionellen Nomenklatura, das Äquivalent unserer Manager und höheren intellektuellen Berufe sowie die Unternehmer haben „Remain“ gewählt. Die Stimmen für „Leave“ bekommen die Mehrheit in der unteren Mittelschicht, Kategorie C1, unseren Zwischenkategorien, die 30% der Wähler ausmachen. Der Wahlkreis Cambridge muss zu 72% für „Remain“ gestimmt haben. Das Ergebnis war ein Schock für die Mehrheit der höheren britischen Klassen. Die Klassenunterschiede, die sich durch Akzente ausdrücken, sind sehr viel stärker in England als in Frankreich. Es gibt in dieser verkaterten Zeit in bestimmten Kreisen eine ganz außerordentliche, anti-populistische Wut. Die Labour Party ist in die Krise geraten. Aber es ist auch wahr, und das ist ein großer Unterschied zu Frankreich, dass ein Teil der englischen Elite in der konservativen Partei, also rechts, es geschafft hat, Anführer der volksnahen Opposition zu werden. Das ist extrem interessant, aber da muss ich Wissenschaftler bleiben und zugeben, dass ich nicht alle Details von dem verstehe, was vor sich geht. Es bleibt aber, dass sie Boris Johnson gefunden haben, einen ganz erstaunlichen Mann, ohne Zweifel Mitglied der höchsten britischen Klassen, sowohl durch seine Abstammung als auch durch sein Studium.
Die Briten haben das, was man braucht: einen Teil der höchsten Elite, der die nationale Wiedergeburt betreibt. Und das mit diesem zusätzlichen Mysterium, dass jetzt die demokratische Debatte im Inneren der konservativen Partei stattfindet und die Linke aus dem Spiel ist. Aber hier haben wir es mit unserer Sozialistischen Partei zu tun, die gegen das Volk und gegen die Nation ausgerichtet ist. Ohne es ganz zu verstehen, muss man empirisch (kaum ein französisches Wort!) anerkennen, dass dieser demokratische und nationale Aufbruch in der rechten Hälfte des politischen Schachbretts stattfindet.
Zu unserem Unglück haben wir in Frankreich nicht das Äquivalent von Boris Johnson oder Michael Gove, aber vielleicht ist rechts ein Platz frei. Es ist jedoch nicht unmöglich, dass niemand es wagt. Links ist nichts, ich glaube überhaupt nicht, dass Mélenchon zu irgendetwas in der Lage sein könnte. Die Linke ist gelähmt durch eine Art von naiver, abstrakter, archaischer Vision des Internationalismus und des Universellen, und ich sage das, obwohl ich selbst Mitte links bin.
Atlantico: Auch wenn der Brexit mit 52% der Stimmen gewinnt, hatte UKIP doch nur 12.6% auf der Tafel stehen bei den letzten Parlamentswahlen von 2015. Das ist eine Feststellung, die man auch in Frankreich treffen kann, und die einen großen Abstand anzeigt zwischen der europäischen Widerspenstigkeit der Wähler und den Ergebnissen der Parteien, die dieses politisch im Angebot haben. Was ist die Bedeutung dieses Paradoxons einer radikalen Mehrheit und der Schwäche ihrer Repräsentanten?
Das Problem ist, dass die Engländer immer ihren Churchill gehabt haben oder ihren Boris Johnson. Nicht UKIP hat gewonnen, es steht in England immer noch nicht zur Debatte, dass Farage die Regierungszügel in die Hand nimmt. Die englische Regierung muss in einem Teil des absolut traditionellen Establishments bleiben. Da haben wir eine regierende Klasse, die es schafft, sich zu erneuern…Ich beneide sie.
Das wahre Drama Frankreichs besteht darin, dass man im Herzen des Establishments diesen Schub der Würde nicht kommen sieht, der eine Minderheit der Eliten antreiben würde, die Interessen der Bevölkerung zu ihrer Aufgabe zu machen. Ich war immer antipopulistisch, ich habe immer für eine Rückkehr der französischen Eliten zur Vernunft gekämpft. Aber warum sind unsere Eliten so uniform resigniert? Wir haben doch unsere Elite-Hochschulen, die eine regelmäßige Versorgung mit arroganten Eliten sicherstellen, ja sogar mit verächtlichen. Ich fürchte, dass diese guten, disziplinierten Schüler Kleinbürger bleiben, die sich vom Volk unterscheiden wollen: die Idee einer edlen Freiheit, die Montesquieu so teuer war, bleibt für sie unerreichbar. Aber es gibt auch die Geschichte und ihre Traumata.
Der fundamentale Unterschied zwischen Frankreich und England ist nicht ihre Beziehung zu Europa, ein abstraktes und überholtes Konzept, sondern in ihrer Beziehung zu Deutschland. Deutschland zu gehorchen, ist nicht das Ding der Engländer; in Frankreich ist das komplizierter.

Es gibt eine Lüge, die diese Leute des französischen medial-politischen Establishments pflegen und die man bloßstellen muss. Sie sprechen vom deutsch-französischen Paar, von der deutsch-französischen Freundschaft usw. Aber ich kenne persönlich nur einen einzigen Franzosen, der gegenüber Deutschland freundschaftlich und respektvoll ist, nämlich mich. In dem Buch, das ich schreibe, arbeite ich die Bedeutung der Reformation Luthers für die Massenalphabetisierung Europas heraus. Ich bin empfänglich für die tragische Großartigkeit der deutschen Geschichte. Ich wage es, für mich selbst von einer Empathie gegenüber Deutschland zu sprechen. Aber das wirkliche Gefühl der französischen Eliten gegenüber Deutschland ist die Angst.
Das ist das, was ich das FOG-Syndrom nenne für Franz-Olivier Giesbert[1]. Ich mag FOG gern, er ist witzig und talentiert. Er macht einen auf zynisch. Er macht sich einen Riesenspaß daraus, das bloßzustellen, was die Politiker nicht sagen können, er ist vom Nouvel Observateur (einer „linken“ Wochenzeitung) zum Figaro (DER traditionellen konservativen Tageszeitung) gegangen. Er hat mit mir ein neo-marxistisches Interview in Le Point veröffentlicht, dem Journal der alten Herren von Rechts. Er ist urkomisch bei persönlichen Dingen, manchmal hart. Ein Getue von Ästhetik, alles amüsiert ihn. Ein einziges Mal, in der Closerie des Lilas (ein traditionelles Café in Montparnasse), habe ich erlebt, wie er die Fassung verloren hat. Es ging um Deutschland. Er konnte nur noch seine Angst ausdrücken vor einem Konflikt mit Deutschland. Und da habe ich verstanden: die französischen Eliten haben einfach nur Angst vor Deutschland.
Früher ging in Brüssel ein Witz um: „Was ist Europa? Europa ist die Vereinigung aller Völker, die Angst vor Deutschland habe….und diese Definition schließt Deutschland ein“. Das wahre Problem von heute ist, dass die Deutschen selbst keine Angst vor Deutschland mehr haben, wegen der amerikanischen Fehler und der französischen Feigheit.
Atlantico: Schottland, Nordirland, Wales, London: die Abstimmung führt zu offensichtlichen Brüchen im Inneren des Vereinigten Königreiches. Macht es Ihnen keine Sorgen, wenn sie sich seine Auflösung vorstellen?
Kommen wir zu dieser Idee von gewichtigen historischen Tendenzen zurück. Die historische Wahrheit ist, dass die Zugehörigkeit des Vereinigten Königreichs zu Europa seinen Zerfallsprozess ausgelöst hat. Überall bringt die Zugehörigkeit zu Europa eine Entstehung von Regionen mit sich und Phänomene territorialer Verzerrung. Die Zugehörigkeit zu Europa hat London von seinem englischen Hinterland entfernt, sie hat die Schotten von London weiter weggebracht. Das Gleiche in Frankreich, in Spanien und in Italien. Also ist natürlich das, was wir heute sehen, das Maximum dieses zentrifugalen Auseinandertreibens des Vereinigten Königreichs. Aber mit Schottland wird es für London genügen, gut einige Entschädigungen auszuhandeln und auf Zeit zu spielen. Den Schotten wird eine neue Realität aufgehen. Schottland hat 5.4 Millionen Einwohner, aber 800000 Personen, die in England leben, sind in Schottland geboren. Die Zerlegungskräfte der Europäischen Union werden erlöschen und vor allem werden die Schotten mit der Realität des neuen Europa konfrontiert sein, das sich ankündigt. Es geht nicht darum, das Vereinigte Königreich zu verlassen um Europa beizutreten. Die Wahl wird lauten: muss man aufhören, London zu gehorchen, um Berlin gehorchen zu gehen? Ich kann mir nur ganz schwer vorstellen, dass die Schotten Berlin wählen werden. Auch Schottland ist eine sehr großartige Nation. Ich empfehle Ihnen das Buch von Arthur Herman Wie die Schotten die moderne Welt erfanden. Also für Schottland würde ich auf Schottisch sagen: „dinna fash yersel“, macht Euch keine Sorgen, vom Französischen „fâcher“. Ich sage nicht, dass es leicht sein wird für die Briten. Es wird Arbeit brauchen, um Tonnen von Problemen zu lösen, mindestens 10 Jahre, um das alles wieder in Ordnung zu bringen, vielleicht sogar eine Generation. Wir haben länger gebraucht, um das aktuelle europäische Desaster zu produzieren. Die wirklich beunruhigendsten Probleme wird es für Irland geben, nicht für Nordirland. Wie Dänemark ist die Republik Irland nur in den Gemeinsamen Markt eingetreten, um dem Vereinigten Königreich zu folgen. Sie wird in eine ökonomisch unhaltbare Situation geraten, wenn die Kontinentaleuropäer eine konfliktbereite Haltung einnehmen (gegen England).

Es wäre auch eine interessante Überlegung anzustellen über das Interesse Skandinaviens, in der europäischen Union zu bleiben, wenn die Briten erst einmal weg sind. Die skandinavischen Mittelklassen sprechen außergewöhnlich gut Englisch, sie sind praktisch zweisprachig. Skandinavien ist durch die Konstruktion Europas in Unordnung geraten. Die Norweger haben sie abgelehnt, die Finnen sind in der Eurozone, die Schweden sind es nicht und der Brüsseler Schwätzereien müde. Die Dänen sind durch ihr liberales Temperament den Engländern dermaßen nahe. Ein Austritt aus Europa durch alle gemeinsam würde erlauben, Skandinavien wiederherzustellen. Man kann sich einen Wiederaufbau des Königreichs von Großbritannien und Irland vorstellen und einen Wiederaufbau von Skandinavien.
So viel zu den 27 Ländern, die in Schwätzereien gefangen sind, deren einziger Gegenstand es ist, die Zentralisierung der Macht in deutscher Hand zu verbergen.
Was mich an der Wahlgeografie des Brexit überrascht hat, ist nicht so sehr die Zustimmung zu „Remain“ in Schottland oder London, die erwartet worden waren, sondern die Aufhebung der Nord-Süd-Spaltung, die England zu zerstören drohte. England hat in den konservativen Regionen des Südens und in den Arbeiterregionen des Nordens homogen für den Brexit gestimmt. Ein wenig, als ob das Referendum begonnen hätte, die britische Gesellschaft wiederzuvereinigen.
Atlantico: Mehrere Verteidiger des Brexit wie Nigel Farage haben ihrerseits ihre Übertreibungen zugegeben, was die durch den Austritt aus der EU gebotenen Möglichkeiten angeht. Besteht nicht die Gefahr, dass die britische Gesellschaft sich bewusst wird, dass der Brexit keine Antworten auf die Probleme geben wird, die man während der Kampagne aufgeworfen hat?
Die Idee, dass der Brexit leicht sein wird, ist absurd. Der Aufbau Europas, der eine Zeit lang sehr positiv war, ist in eine Phase eingetreten, in der er die Gesellschaften durcheinanderbringt mit wachsenden Schwierigkeiten seit einigen Jahrzehnten und inzwischen mit einem Element bürokratischen Irrsinns.
Es wird also viel Arbeit bedeuten. Das ist ein ganz typischer Fall der Art, in denen man die kurze, mittlere und lange Sicht auseinanderhalten muss. Das Vereinigte Königreich wird eine Menge Probleme zu lösen haben, aber unter Berücksichtigung dessen, was ich schon gesagt habe, über die allgemeine Dynamik der Trennung der Nationen, werden wir nach meiner Meinung bald schon keine Zeit mehr haben, uns dafür zu interessieren, wegen der Probleme die Europa erwarten: Neuaufbau jenseits des Ärmelkanals, Zerfall auf dem Kontinent. Das also ist das Programm für die kommenden Jahre. Die Journalisten werden sich nicht langweilen.
In den großen historischen Herausforderungen braucht es immer einen Augenblick, bis die Briten sich in Bewegung setzen, aber dann wissen sie, wo es lang geht. Im Gegensatz dazu können wir uns darauf verlassen, dass die zögerlichen Pro-Europäer sich lächerlich machen werden.
Wenn man bei der Hypothese bleibt, dass der Brexit durchgezogen wird, was das Wahrscheinlichste ist, ist es völlig normal, dass es eine Übergangsphase gibt. Aber was mich eher überrascht hat in den letzten Tagen, ist nicht die Unordnung, sondern die Stärken der nationalen Loyalität und der Schockresistenz, die im britischen Wesen stecken. Die erste, instinktive Darbietung von David Cameron nach dem Brexit war bewundernswert. Er wird die Übergangsperiode sicherstellen, bevor er an seinen Nachfolger übergibt, der den Brexit umsetzen muss. Er setzt einen idealen Kalender in Kraft. Wenn diese Art von Haltung sich in der konservativen Partei und der ganzen Nation bestätigt, kann man Vertrauen haben auf die Fähigkeit des Vereinigten Königreichs diese Herausforderung zu bewältigen. Für die Tories ist es das Dringendste, den Frieden in der Partei herzustellen, bevor man zum Brexit-Abenteuer ausläuft. Man darf sich nicht damit zufriedengeben, den Nachfolgekrieg und den Verrat in der Konservativen Partei zu sehen. Die Weigerung von Johnson, sich um die Führung der Partei zu bewerben, ist das Gegenstück zur Eleganz von Cameron.
Aber plötzlich überwältigt mich mein Französischsein, ich denke wieder an unseren Präsidenten Hollande und habe Lust zu heulen…Frankreich ist auch eine große Nation. Wir haben etwas so viel Besseres verdient!
ENDE
[1] Französischer Schriftsteller und Journalist mit deutschen, schottischen und jüdischen Vorfahren
Kommentare:
- Ich teile die Bewunderung Todds für die bisher gezeigte Fähigkeit der Engländer, diese Krise zu bewältigen.Cameron ist ganz selbstverständlich abgetreten nach seiner unbestreitbaren Pleite. Inzwischen gibt es wieder eine anscheinend sehr solide Premierministerin und einen Außenminister Johnson, der eine Rede auf Französisch gehalten hat, um zu sagen, dass das Vereinigte Königreich in Europa und ganz besonders in der Nähe Frankreichs bleiben wird. Todds Prognose, dass der Brexit durchgezogen wird, steht also, und nicht nur die.
- In Deutschland dagegen huldigt das halbe Land und 80% der Presse weiterhin einer Kanzlerin, der die Überforderung und der Alkoholismus immer stärker ins Gesicht geschrieben stehen. Mögliche Nachfolger hat sie weggebissen, während Cameron viele hinterlassen hat. Sie hat mit einer Sektenführerin mehr gemeinsam als mit einer englischen Premierministerin. Auch Margaret Thatcher wurde übrigens rechtzeitig von ihrer eigenen Partei gestürzt.Die britische Elite hat ein Gespür dafür, wenn das Ende der Fahnenstange erreicht ist, Deutschland nicht.
- Die Hinweise auf die neue Lage für Irland und Skandinavien sowie die Aufhebung der Nord-Süd-Spaltung Englands sind sehr intelligent gesehen, wesentlich tiefgründiger als das übliche Gerede in Kommentaren. Sein Wissen über die Innere Verfasstheit des Vereinigten Königreichs und Skandinaviens kann man in einem Buch nachlesen, das ich hier auf dem Blog teilweise übersetzt und besprochen habe: Dänemark, Liberale Toleranz, Vorwort zur 2. Auflage 1995, Ergänzungen. Ein Meisterwerk, das im Vergleich mit diesem Interview auch zeigt, wie Todds Analysen sich über Jahrzehnte solide entwickelt haben.Er spielt in einer eigenen Liga.
- Mit seiner Verachtung für die sozialistische Regierung Hollande ist Todd inzwischen im französischen Mainstream angekommen. Da braut sich etwas zusammen.
- Seine Analyse der deutschen Dominanz in Europa und der Angst vor Deutschland in Frankreich ist für deutsche Ohren überraschend und gerade deshalb sehr wertvoll.
Für mich als frankophilen Deutschen ist das jedenfalls ein trauriges Kapitel.Ich habe aber in den letzten Jahren im Alltag niederschwellig zunehmend antifranzösische Töne registriert und umgekehrt in Frankreich bei normalen Leuten auch eher unglückliche Gefühle gegenüber Deutschland. Die Quintessenz ist jedenfalls, dass hinter der erstarrten Fassade der deutsch-französischen Freundschaft gewaltig der Holzwurm am Arbeiten ist. In dieser Situation sind harte, realistische Worte von Todd mehr wert als der Vorwärts-Optimismus von Ulrike Guérot, der sich hinter EU-Kritik nur versteckt.
- Es ist richtig, dass die Deutschen inzwischen zu wenig Angst vor Deutschland haben. Angst haben muss man insbesondere vor der gewaltigen Diskrepanz in der Außen- und Selbstwahrnehmung Deutschlands. Die Hälfte der Deutschen glaubt, dass Mutti etwas ganz toll Humanitäres gemacht hat und vom Ausland ganz gemein im Stich gelassen wurde, während das Ausland das als dominantes und irres Verhalten empfunden hat, was die guten Deutschen aber nicht wahrhaben wollen. Die andere Hälfte der Deutschen glaubt, dass das Ausland Deutschland mit dem Euro ausbeutet, während das Ausland wiederum glaubt, dass es mit dem Euro von Deutschland dominiert wird, in Frankreich, in Italien, Griechenland, Portugal und Spanien. Man kann das nicht auflösen, solange man nicht die Interessen der Eliten und des Volkes in jedem Land separat betrachtet. Wer das nur auf der Ebene von Nationen betrachtet geht in die Irre und riskiert lebensgefährliche Konflikte. England steht übrigens in beiden Fragen geschlossen gegen die deutsche Elite, weil der Brexit die Elite und das Volk wiedervereinigen wird, wie Todd sehr schön analysiert hat.
- Angst haben sollte man auch vor dem deutschen Extremismus in der Einwanderungsfrage. 100% Zustimmung zu Bassam-Tibi! Man darf die Augen nicht vor dem Bürgerkriegspotenzial verschließen, das hier offen zutage tritt. Da sind einerseits die Leute, die keinen einzigen Moslem oder Schwarzen im Land dulden wollen und andererseits die Leute, die die Grenzen komplett für jeden öffnen wollen und die Probleme leugnen. Wenn das schiefgeht, wird eine Mitte, die beides für Wahnsinn hält, verschwunden sein, verstummt oder emigriert. Der deutsche Extremismus ist kein rechtes Phänomen, er existiert auf beiden Seiten und der linke Extremismus hat derzeit die trinkende Mutti auf seiner Seite, mißversteht deshalb die wahren Machtverhältnisse. Tibi hat das kapiert, die meisten Deutschen noch nicht. Aufwachen bitte!