Trüber Frühling für Europa

Der Gaullist Roland Hureaux hat im französischen Magazin ‚Causeur‘ am 14. Februar einen Kommentar über die außenpolitische Lage Europas veröffentlicht, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt:

matruschkas
Souvenirladen in St. Petersburg

Der trübe Frühling, der Europa erwartet

Chronik des Endes einer Herrschaftsepoche

Westeuropa befindet sich heute im Zustand der Schwerelosigkeit. Alles, was seine Politik in den letzten Jahren bestimmt hat, ist dabei zusammenzubrechen, aber Europa weiß das noch nicht.

Am 20. Januar hat Donald Trump sein Amt im Weißen Haus übernommen; er hat bereits Rex Tillerson, der Putin nahesteht, zum Außenminister ernannt. In einigen Wochen werden sich Trump und Putin persönlich treffen. Sie werden wahrscheinlich eine Liste von Problemen regeln, in erster Linie dasjenige des Nahen Ostens, vielleicht das der Ukraine. Sie werden auch über China sprechen. Werden Sie über Westeuropa sprechen? Das ist noch nicht einmal sicher. Zunächst, weil es nichts Dringendes zu regeln gibt, dann, weil die Meinung der Europäer ihnen sehr unwichtig ist, sobald sie sich einig sind. Und danach? Es ist nicht absurd vorauszusehen, dass wenn sich die guten Beziehungen der beiden Mächte bestätigen, sie eine Art von Co-Vormundschaft über Westeuropa installieren werden.

Die Verlassenheit Westeuropas

Die Verlassenheit der Länder Westeuropas ist groß. Zunächst aus Gründen ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage: Rezession, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Geburtenmangel, immense Frustration der Völker. Dann auch aus Gründen ihrer Engagements der letzten 10 Jahre. Die Weigerung Jaques Chiracs im Jahr 2003, am Irakkrieg teilzunehmen, war der letzte Akt des Widerstands einer europäischen Regierung gegen Washington. Seit damals waren die Positionen der Regierungen, der dominierenden Parteien, der wichtigsten Entscheider und der Medien, sich ohne Nuancen an die amerikanische Politik im Hinblick auf Russland und den Nahen Osten anzuschließen; eine Politik, die in Europa darin bestand, den Ukraine-Konflikt zu verschärfen und Sanktionen gegen Moskau zu verhängen, die streng gescholten wurden von einem so maßvollen Mann wie Helmut Schmidt, und im Nahen Osten darin, dschihadistische Bewegungen zu unterstützen, um  vor langer Zeit etablierte Regime zu destabilisieren oder zu stürzen, die von Washington öffentlich angeprangert worden waren.

Es sind in gar keiner Weise die Interessen Europas, die diese Politik erklären, es ist die Unterwerfung seiner Anführer. Sie haben sich in Wahrheit gar nicht nach der amerikanischen Politik als solcher ausgerichtet, sondern nach der neokonservativen Ideologie, die jene seit 25 Jahren inspiriert. Nun hat aber diese Ideologie im November 2016 einen tödlichen Schlag erhalten: die Niederlage Hillary Clintons, die sie personifizierte, für die alle Europäer ohne Ausnahme unter Missachtung des Prinzips der Nichteinmischung Partei ergriffen hatten. Und dann noch einen anderen: die Niederlage der Dschihadisten, die vom Westen unterstützt worden waren, in den Straßen von Aleppo.

Die Reaktion der wichtigsten europäischen Entscheider angesichts des Siegs von Trump war bedeutsam: kalte Communiqués, moralische Lektionen, die ebenso duckmäuserisch wie lächerlich waren (besonders von Seiten der deutschen Kanzlerin). Die Reaktion auf die Ereignisse im Nahen Osten war nicht weniger desolat: unsinnige Denunziation von imaginären Kriegsverbrechen; Initiativen Frankreichs, im Extremfall die Charta der Vereinten Nationen zu ändern, um humanitäre Interventionen zu erlauben in dem Moment, wo diese gerade ein wenig überall ihren desaströsen Charakter gezeigt hatte; Ermutigungen der Briten an gewisse dschihadistische Gruppen, die  Waffenruhe zu brechen, die gerade um Putin beschlossen worden war; und Verlängerung der gegen Russland beschlossenen Sanktionen, während man weiß, dass die USA sie zügig aufheben werden: statt voranzupreschen, graben sich die Europäer in der Leugnung ein.

Angesichts des Zusammenbruchs der neokonservativen Ideologie (ultraliberal in der Wirtschaft und libertär im Gesellschaftlichen), die den gleichen integrativen und globalistischen Charakter hat wie die europäische Ideologie à la Brüssel, sind die Europäer heute wie eine Ente ohne Kopf, die weiterläuft ohne zu merken, dass sie schon tot ist. TTIP, das in gewisser Weise eine Ausdehnung der europäischen Mechanik auf den Nordatlantik darstellte, ist beerdigt.

Zwischen zwei Giganten

Aber das Schwerwiegendste für Europa ist, dass es von nun an mit zwei Giganten zu tun hat: Putin, der in seinem Land populärer ist als jemals zuvor und der angesehene Sieger im Nahen Osten, Trump, der es hinbekommen hat, gegen seine Partei und gegen die Gesamtheit der wirtschaftlichen Oligarchie und der Medien gewählt zu werden.

Keiner der beiden Männer hat Anlass, die geringste Sympathie für die aktuellen Anführer Westeuropas zu haben, die alle gegen sie Partei ergriffen haben, auf dem diplomatischen und militärischen Terrain im Falle Putins, in der Wahlarena im Falle Trumps. Der dritte große Mann, der beunruhigendere, ist Erdogan, dessen Ambitionen sich an einer aufgewühlten innenpolitischen Situation stoßen und den Putin Mühe hat, im Zaum zu halten. Deutlich abgerückt vom Brüsseler Europa bleibt er ein starker Mann.

Angesichts dieser Großen, was für ein Desaster! Deutschland hat sozusagen keine Kanzlerin mehr, so sehr hat sich Angela Merkel diskreditiert, indem sie auf unverantwortliche Weise das Land für eine Million Migranten geöffnet hat. Frankreich hat einen Präsidenten-Zombie, der auf der internationalen Bühne entwertet ist und sich noch nicht einmal zur Wiederwahl stellen konnte. Italien hat den Rücktritt des Illusionisten Renzi gesehen, der politisch so korrekt ist. Frau May scheint noch am besten dazustehen, aber noch wenig bekannt im Ausland scheint sie absorbiert zu werden von Tausend und einer rechtlichen Schwierigkeit des Brexits, wahrscheinlich weil auf keiner Seite des Ärmelkanals jemand wagt, den gordischen Knoten zu durchschlagen. Und lasst uns nicht von Juncker in seinen hellen Stunden sprechen! Das alles vor dem Hintergrund der Krise des Euro, der in der höchsten Not der griechischen Affäre durch den Druck Obamas gerettet wurde. Was wird Trump beim nächsten Mal machen?

Es ist möglich, dass sich Westeuropa, wie es heute funktioniert, auf strukturelle Weise als unfähig erweist, wirkliche Anführer zu erschaffen. In diesem Frühjahr, in dem wir darauf warten, was die französische Präsidentenwahl bringt, die erste im Kalender, wird die Sternenleere, die heute diejenige Westeuropas ist, ganz groß sichtbar werden. Eine ganzer historischer Zyklus kommt für es an ein Ende.

Mein Kommentar:
Ich lasse diesen Text inhaltlich einfach mal so stehen. Man kann das so sehen, muss aber natürlich nicht. Man sollte aber wissen, dass dieses Thema viele in unserem Nachbarland so sehen, rechte und linke Souveränisten, keineswegs nur Anhänger von Le Pen.
Roland Hureaux ist ein konservativer gaullistischer Kommentator der Außenpolitik, der sich am ehesten irgendwo in dem Umfeld einordnen lässt, das den konservativen Präsidentschaftskandidaten Fillon unterstützt.
Denken Sie einfach mal darüber nach, wo Sie in Deutschland eine solche schonungslose Analyse der Lage Europas erwarten würden. Aus welcher Partei, in welcher Zeitung?

Nachträge 26.2.2017:
Lost in EU: Warum Frankreich an der EU verzweifelt.
Die FAZ sieht das Thema ganz anders als Hureaux: Zurück zur russischen Normalität, verwendet aber lustigerweise das gleiche Matruschka-Foto. Die Welt ist klein.

Nachtrag 06.3.2017:
Kein Land in Westeuropa ist (von allen guten Geistern) verlassener als Deutschland. Wie von Hureaux im Artikel (und bereits früher) ausgeführt, wird ihm das von Erdogan vorgeführt: Sultan Erdogan fordert Tribut von Merkel – und sie zahlt.

Nachtrag 10.3.2017:
ZEIT: Es wird einsam um Deutschland. Deshalb brauche Deutschland Frankreich so dringend. Nach meiner Meinung werden die deutsch-französischen Beziehungen damit auf Dauer überlastet. Es darf nicht passieren, dass Frankreich der einzige Freund wird, der die Feindseligkeit aller anderen kompensieren muss. Außerdem ist Angela Merkel dafür die komplett falsche Kanzlerin: sie hat keinerlei Beziehung zu Frankreich, versteht noch nicht einmal die Sprache. Sie hat nur sterile Machtbeziehungen zu französischen Politikern, keinerlei Einblick in die Gemütslage der Franzosen, in ihre Spaltung auch und gerade im Verhältnis zu Deutschland. So wird die deutsch-französische Achse zuerst überlastet werden und dann wird sie brechen, mit katastrophalen Folgen für Deutschland. Es bleibt absolut notwendig, mit Polen, Großbritannien und Italien gleichermaßen in einem guten Dialog zu bleiben, zum Wohle auch des deutsch-französischen Verhältnisses!

Nachtrag 18.3.2017:
Ein Althistoriker aus Belgien sieht Das Ende des Westens.

Nachtrag 01.10.2019:
Es scheint ein bisschen, als ob der franz. Präsident 2,5 Jahre später auf einen außenpolitischen Kurs eingeschwenkt ist, der die Bedenken aufgreift, die Hureaux hier geäußert hat. Meint die NZZ:
NZZMacron