Warum sind die Amerikaner sauer?

Textauszüge entnommen aus Emmanuel Todds „L’illusion économique“ von 1998 (Deutscher Titel: „Die neoliberale Illusion“). In der Endphase des US-Wahlkampfs 2016 zusammengestellt auf der Suche nach der Antwort auf die Frage, warum so viele Amerikaner so wütend sind auf das Establishment. Stimmen die Vorwürfe, dass die US-Wirtschaft für einen großen Teil der Bevölkerung schlechtere Ergebnisse liefert, als die Statistiken behaupten? Emmanuel Todd bejahte das bereits im Jahr 1998:

Ist die US-Wirtschaft dynamisch?

Die amerikanische Wirtschaft ist für die Zukunftsforscher ein Objekt der Perplexität geworden: Ist sie oder ist sie nicht dynamisch? …

Güter produzieren … oder Arbeitsplätze?

Die Natur der Leistungen der amerikanischen Wirtschaft ist an und für sich problematisch. Wenn man den Höhenflug der Börsenwerte außer Acht lässt, der keinen Reichtum erzeugt und deshalb nicht zum Bruttoinlandsprodukt gerechnet werden kann, ist ihr großer Erfolg die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die 5% amerikanischen Arbeitslosen stellen für die heutzutage dominierende Theorie eine Art Vollbeschäftigung dar in einer mobilen, flüssigen Wirtschaft, die ohne Unterlass Arbeiter verschieben muss. …Das Problem der Arbeitslosigkeit scheint unter dem Strich mehr oder weniger gelöst zu sein in den Vereinigten Staaten, aber im Kontext einer globalen Produktivität pro Arbeiter, die im internationalen Maßstab sehr bescheiden wirkt, 1994 um 25% niedriger als in Japan und 20% niedriger als in Deutschland. Innerhalb der G5 liegen die USA nur vor dem Vereinigten Königreich, das seit den Jahren 1880-1900 von einer Krankheit der wirtschaftlichen Lustlosigkeit betroffen ist, der englischen Krankheit, von der wir uns heute ernsthaft fragen müssen, ob es sich nicht um eine angelsächsische Krankheit handelt. Amerika produziert Arbeitsplätze eher als Güter, eine Leistung, die von einem liberalen Standpunkt betrachtet nicht wirklich orthodox ist. Diese Dynamik erinnert auch ein wenig, selbst unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit, an diejenige der Sowjetunion der 1970er Jahre. Auch der Kommunismus litt in seinem reifen Alter an einer niedrigen Produktivität, während er von einer niedrigen Arbeitslosigkeit profitierte, die in der Theorie gar nicht existierte. Es ist ziemlich einfach, die niedrige Produktivität der Arbeiter in einem ideologischen System des leninistischen Typs zu rechtfertigen, vor allem im Stadium der Diktatur des Proletariats, denn wie ein jeder weiß „arbeitet ein Diktator nicht“.  Aber es ist von einem liberalen Standpunkt, klassisch oder neoklassisch,  aus unmöglich, die Idee zu akzeptieren, dass es das Ziel der wirtschaftlichen Aktivität sei, Arbeitsplätze zu produzieren.  Ein Europa, das von der Massenarbeitslosigkeit geplagt wird, kann es sich gewiss nicht leisten, über den amerikanischen Erfolg in Sachen Arbeitsplätzen zu lachen. Aber es bleibt dabei, dass für ein intellektuelles System, dessen Grundaxiom die Existenz eines berechnenden Homo oeconomicus ist, der ein Maximum an Gewinn mit minimalem Aufwand sucht, der große Erfolg des amerikanischen Produktionssystems anti-ökonomisch ist.

Die Metaphysik des Bruttoinlandsprodukts

Die Ungewissheit über die Natur des amerikanischen Wachstums herrscht umso mehr, als das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das als Basis seiner Messung und für internationale Vergleiche dient, heutzutage wieder ein umstrittenes Konzept wird. Die Berechnung des amerikanischen BIPs war übrigens in den letzten Jahren das Objekt ziemlich suspekter Revisionen, sowohl in seiner Summe als auch in der Aufteilung auf Investitionen und Konsum. Wir wollen daran erinnern, dass das BIP ein hochgradig konventionelles Maß ist, das die Summe bildet über alle erwirtschafteten Mehrwerte aller Sparten der Wirtschaft. Dieser Index triumphierte unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg im Gefolge der keynesianischen makroökonomischen Analyse, von der er das Prinzip der Aggregation der Aktivitäten auf nationaler Ebene übernimmt. Das Verwerfen des Keynesianismus hätte vielleicht dasjenige des BIP nach sich ziehen müssen; aber man muss feststellen, dass man in diesem besonderen Fall das Badewasser aufbewahrt hat, nachdem man das Kind ausgeschüttet hatte.

Um die Werte auf internationaler Basis zu addieren und zu vergleichen, müssen in Wahrheit internationale Werte für Güter und Dienstleistungen existieren. Nun aber…muss man mit Demut zugeben, dass ein Wert nur dort existiert, wo es einen Markt gibt. Die einzigen wirklichen internationalen Werte werden durch die internationalen Märkte definiert. Die Güter und Dienstleistungen, die sich nicht auf internationalen Märkten handeln lassen (non tradables) haben buchstäblich keinen internationalen Wert. Ein Haus in Boston, ein Haarschnitt in Chicago, eine Busfahrt in Milwaukee, die Bezahlung eines Anwalts von Los Angeles, der in Scheidungssachen spezialisiert ist, das Gehalt eines privaten Wächters eines Wohnkomplexes für Rentner in Florida, haben in den allermeisten Fällen keinerlei Wert für einen Deutschen, einen Japaner, einen Franzosen oder einen Schweden. Wenn wir uns abgewogen ausdrücken wollen, können wir uns damit zufriedengeben zu behaupten, dass der größte Teil dieser Dienstleistungen keinen direkten internationalen Wert hat. Im Gegensatz zu Autos, Weizen oder Videorekordern. Nun aber machten die Dienstleistungen 1993 72.1% des BIP der Vereinigten Staaten aus gegenüber nur 64.7% in Deutschland, 57.6% in Japan und 65.6% in Italien. Frankreich, durch die Politik „des starken Franc“ desindustrialisiert, liegt mit 70.5% nahe bei den Vereinigten Staaten. Wie immer liegen die anderen angelsächsischen Länder nahe beim Weltanführer: 71.3% des BIP im Tertiärsektor im Vereinigten Königreich, 72.1% in Kanada, 69.1% in Australien[1]

Das Beispiel der Gesundheitsausgaben, die sich in weiten Teilen aus Dienstleistungen zusammensetzen, selbst wenn sie einen nicht vernachlässigbaren Anteil an ausgefeilten medizinischen Materialien einschließen, zeigt das Ausmaß der Ungewissheit, wenn es um den wirklichen amerikanischen Reichtum geht. In den USA erreichen sie 14.2% des BIP gegen nur 7.7% in Schweden, 7.3% in Japan, 8.6% in Deutschland und 9.7% in Frankreich, Länder, die von ihren Führungen jedoch als furchteinflößend ausgabefreudig in diesem Bereich angesehen werden. Die Ausweitung der öffentlichen und privaten Gesundheitsausgaben ist ein wesentliches Element des amerikanischen „Wachstums“. Sie liegt im Herzen aller grundlegenden wirtschaftlichen und soziologischen Interaktionen. Sie erklärt zum Teil die Fortdauer einer ausreichenden globalen Nachfrage in einer entwickelten Welt, die virtuell in der Deflation steckt. Die gesundheitliche „Misswirtschaft“ drückt die Fähigkeit der betagten Amerikaner aus, ihr Geld auszugeben, ohne zu sparen, ohne Sorge um das Erbe der Kinder, die ihnen nachfolgen. Sie ist damit typisch für ein anthropologisches Kernfamiliensystem, das relativ gleichgültig ist gegenüber dem Schicksal der nachfolgenden Generation. Aber welche konkreten, materiellen, physischen Resultate kann man im Anschluss an diese 14.2% „Wertschöpfung“ messen, die im Gesundheitssektor erwirtschaftet werden? Eine weibliche Lebenserwartung von 79 Jahren im Jahr 1996, gleich wie im Vereinigten Königreich, aber niedriger als diejenige in Deutschland (80 Jahre), in Schweden (81 Jahre), in Frankreich (82 Jahre) oder in Japan (83 Jahre). Die Wertschöpfung verschafft offensichtlich kein längeres Leben. Wo ist unter diesen Umständen die „Produktion“? Die Lebenserwartungen der Männer würden die gleichen Unterschiede zum Vorschein bringen, aber sie sind a priori weniger aussagekräftig, weil sie den wesentlich stärkeren Effekt von Todesfällen durch Gewalt und damit spezifischer medizinischer Probleme einschließen. Die amerikanische Rate von Mord und Totschlag, von 10 Getöteten pro 100000 Einwohnern in 1993, ist mehr als 10 Mal höher als diejenige in Europa oder in Japan, die alle niedriger sind als 1 Getöteter pro 100000 Einwohner.  Es bleibt zu erwähnen, dass die Gewalt so aussehen kann, als ob sie Werte schöpft im Dienstleistungssektor, in Form von Gefängniswärtern, privaten Wachmännern oder Anwälten. Da schaut her: Europa und Japan sind erneut gekniffen beim Absatz und dem BIP im Dienstleistungssektor, weil sie einfach zu friedlich sind! Aber die Vervielfältigung der juristischen und Polizeidienstleistungen, die sich vom Verfall des amerikanischen Bildungsniveaus ableitet, hat für die europäischen und japanischen Gesellschaften keinen Wert, wo die Scheidungen zivilisierter sind und wo man in den meisten Straßen Spazierengehen kann, ohne sein Leben zu riskieren.
Um zu vermeiden, dass uns die anthropologischen Besonderheiten jeder Gesellschaft in die Welt der Illusion entführen, müssen wir uns bewusst bleiben, dass nur die Produktion industrieller Güter, die auf internationalen Märkten handelbar sind, mit Sicherheit einen Wert darstellt.

Reichtum und Stärke der Währung

Wenn wir zunächst das Problem der Währungsparitäten außenvorlassen und unseren Glauben an die  Wahrhaftigkeit der Märkte und an ihre Fähigkeit, die wahren wirtschaftlichen Werte zu bestimmen, über alles stellen, können wir, wenn wir den Reichtum der Nationen ermessen wollen, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner und, wenn wir die Effizienz der Systeme erfassen wollen, das BIP pro Beschäftigtem berechnen. Dabei benutzen wir für den Vergleich die laufenden Wechselkurse der Währungen:

Tabelle 9: Reichtum und Produktivität

BIP 1994
(in Milliarden Dollar)
BIP pro Kopf BIP pro
Beschäftigtem
USA 6650 25512 54038
Vereinigtes Königreich 1020 17468 40380
Kanada 544 18598 40926
Australien 322 18072 40831
Neuseeland 51 14513 32692
Japan 4590 36732 71129
Deutschland 2046 25134 57001
Deutschland ohne DDR 1880 29800 67000
Schweden 198 22504 50433
Niederlande 334 21733 50369
Italien 1018 17796 50900
Frankreich 1328 22944 60889

Quelle für die BIPe: OECD, rückblickende Statistiken 1996

Diese Art von Berechnung macht den relativen Niedergang der Vereinigten Staaten offensichtlich sowie den Reichtum und die Produktivität Japans und Deutschlands.

… Die mittelmäßige Produktivität der USA erinnert ihrerseits an eine vollständig beschäftigte  Bevölkerung, die aber viel arbeitet für wenig Ergebnisse….

Die Kaufkraftparitäten im Wunderland

Diese Art der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts ist also von Ökonomen in Frage gestellt worden, die angeblich orthodox waren und sehr aktiv auf diesem Gebiet bei der OECD, aber auf einer ziemlich seltsamen theoretischen Basis: Durch eine Verneinung der Werte und Preise, wie sie von Märkten definiert werden. Unzufrieden damit zusehen zu müssen, wie sich die japanischen und deutschen BIPs aufblähen, beunruhigt durch die Tendenz einiger BIPs, pro Kopf dasjenige der USA zu überholen, wollten die „liberalen“ Ökonomen in der Stärke der Währungen und in der Überhöhung der inneren Preise die Manifestation eines illusorischen Reichtums erkennen. Die Umrechnung in Kaufkraftparitäten (PPP, purchasing power parity) hat also krampfhaft versucht, die Preise zu „korrigieren“, um die wirklichen Werte zu erhalten.

„Die Kaufkraftparitäten sind diejenigen Währungsumrechnungsverhältnisse, die die Kaufkraft verschiedener Währungen egalisieren. Auf diese Weise wird eine gegebene Summe Geldes in einer Währung, die mit Kaufkraftparitäten in verschiedene Währungen umgerechnet wurde, erlauben, denselben Warenkorb von Gütern und Dienstleistungen in allen betreffenden Ländern zu kaufen. In anderen Worten, die Kaufkraftparitäten sind die Umrechnungsverhältnisse zwischen Währungen, die alle Unterschiede im Preisniveau eliminieren, die zwischen den Ländern existieren….“[2].

In der Zeit, als dieser Modus der Berechnung sich verbreitet hat, in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, hatten die USA einen schwachen Dollar, der, so glaubte man, das Ausmaß der amerikanischen Produktion und Konsumtion maskierte. Solche Berechnungen brachten die Welt wieder in Ordnung: Die USA rückten wieder an den ersten Platz beim Reichtum und bei der Produktivität. Ohne in die Details der Berechnungskonventionen einzusteigen, müssen wir feststellen, dass ihre Logik antiliberal ist, um nicht zu sagen sowjetisch. Sie leugnet die Werte, wie sie von internationalen Märkten definiert werden, ob es sich um Güter handelt oder Währungen….
Die Berechnung in Kaufkraftparitäten wertet neben dem amerikanischen BIP pro Kopf, und im Verhältnis sogar noch stärker, diejenigen der meisten schwach entwickelten Länder auf, wie Mexiko, China, die Türkei oder Russland. Die Berechnung mit Kaufkraftparitäten gewährt eine Prämie für technologische Rückständigkeit….

Der Beweis durch die Kindersterblichkeit

Eine endgültige Schlussfolgerung über die Gültigkeit dieses oder jenes Indikators für die Produktion,  den Reichtum oder den Lebensstandard kann jedoch nicht erreicht werden, ohne aus der verzauberten Welt der ökonomischen Messung herauszutreten, die naturgemäß von den konventionellen und schwankenden Begriffen abhängt, die Preise und Währungen nun einmal sind.  Der Rückgriff auf einen demografischen Parameter, der ebenso quantitativ ist, die Rate der Kindersterblichkeit, eine wesentliche Komponente der Lebenserwartung, erlaubt es, zu einiger Gewissheit zu kommen.

Tabelle 10: Kindersterblichkeit und Reichtum

BIP pro Kopf 1992
(laufender Dollarkurs)
BIP pro Kopf nach Kaufkraft 1992 Kindersterblichkeit 1994
Japan 29460 19604 4
Schweden 28522 16526 4.4
Finnland 21100 14510 4.7
Norwegen 26386 17664 5.2
Schweiz 35041 22221 5.5
Deutschland 27770 20482 5.6
Niederlande 21089 16942 5.6
Dänemark 27383 17628 5.7
Frankreich 23043 18540 5.8
Australien 16959 16800 5.9
Irland 14385 12763 6
Spanien 14745 12797 6
Vereinigtes Königreich 17981 16227 6.2
Österreich 23616 18017 6.3
Kanada 19823 19585 6.4
Italien 21468 17373 6.6
Neuseeland 11938 14294 7.1
Belgien 21991 18071 7.6
Griechenland 7562 8267 7.9
Portugal 8541 9743 7.9
USA 23228 23291 7.9

Quelle für das BIP pro Kopf: OECD

Durch die Beobachtung eines leichten Anstiegs der Kindersterblichkeit in der Sowjetunion zwischen 1970 und 1974 konnte ich 1976 alle ökonomischen Statistiken der Epoche widerlegen, diejenigen der Gosplan-Behörde ebenso wie jene der CIA[3]. Alle beschrieben eine wachsende Wirtschaft, wenn auch mit einer Verlangsamung des Wachstums. Durch seine grausame Einfachheit durchstieß der demografische Parameter den Schleier der Preiskonventionen, die typisch waren für die zentralisierten Volkswirtschaften. Die Verzerrungen durch die Verwendung der Kaufkraftparitäten sind nicht von solcher Schwere, aber sie führen geradewegs in ein Universum des Absurden.
Die amerikanische Kindersterblichkeit geht weiterhin zurück. Man muss daraus im ersten Anlauf die Gewissheit herausziehen, dass die amerikanische kulturelle Stagnation und der Anstieg der sozialen Ungleichheit, dank des technologischen Fortschritts, weder eine Regression noch sogar eine Stagnation der gesundheitlichen und medizinischen Leistungen mit sich gebracht haben. Aber der Rhythmus des Rückgangs des Kindersterblichkeit ist in den USA seit dem Krieg sehr viel geringer als das, was in Westeuropa und Japan beobachtet werden kann.
kindersterblichkeit1950 hatten die USA, die reichste Nation des Globus, eine der niedrigsten Säuglingssterblichkeitsraten und wurden nur von Schweden, Norwegen, den Niederlanden und Neuseeland übertroffen. Sie wurden 1955 vom Vereinigten Königreich, 1963 von Japan, 1964 von Frankreich und 1987 von Italien überholt. In einem Ensemble von 22 Ländern rutschen die USA zwischen 1950 und 1994 vom fünften auf den letzten Platz, gleichauf mit Portugal und Griechenland. Die Unterschiede sind gering wie immer, wenn man die Todesfälle von Kindern im niedrigen Alter in entwickelten Gesellschaften analysiert, aber signifikant. Die Reduzierung der Kindersterblichkeit unter eine gewisse Schwelle, von nun an unter 10 von 1000, setzt das ins Werk, was es am Modernsten in einer Gesellschaft gibt, auf allen Ebenen – technologisch, ernährungstechnisch oder medizinisch. Die schlechte Platzierung der USA bleibt erhalten, wenn man von der Sterblichkeit diejenige der 12% Schwarzen abzieht, deren Rate zweiundeinhalb mal so hoch ist wie diejenige der Weißen (16.5 statt 6.8 von 1000). Dann finden sich die USA bescheiden auf dem 15. Platz von 22 wieder und überholen nur Spanien, Griechenland, Portugal, Israel, Italien, Belgien und Neuseeland.

Die Einordnung der Länder nach Kindersterblichkeit macht ebenso viel Sinn für die Bestimmung des wahren Lebensstandards wie das BIP pro Kopf, ohne die Korrektur nach Kaufkraftparitäten. Das führende Land ist in beiden Fällen in der Mitte der 90er Jahre Japan. Wenn der demografische Indikator eine Schlagseite hat, dann in Richtung einer Prämie für die technologische Modernität, weil er stark bestimmt wird durch den Fortschritt einer Medizin, die gleichzeitig Spitze und für die Masse verfügbar ist. Das ist der Grund für sein vorausblickendes Potenzial. Die technologische und soziale Effizienz produziert gleichzeitig positive Effekte im wirtschaftlichen und im medizinischen Feld. Es ist also normal, Anfang der 90er Jahre eine bedeutsame Korrelation zwischen dem BIP pro Kopf und der Kindersterblichkeit festzustellen, nämlich -0.67, negativ weil die Sterblichkeit ja umso niedriger ist, je höher das BIP ist. Im Gegenzug lässt die Berechnung (des BIP) nach Kaufkraftparitäten die Korrelation mit der Kindersterblichkeit auf das nicht signifikante Niveau von -0.29 fallen. Es gibt keine statistische Beziehung mehr zwischen Kindersterblichkeit und Reichtum, der in Kaufkraftparitäten berechnet wird. Die Abwesenheit einer solchen Verbindung ist eine Herausforderung für den gesunden Menschenverstand. Die Berechnung nach Kaufkraftparitäten, die vorgibt, die Güter der physischen Realität näher zu bringen, entfernt uns von der physischen Realität des Lebens. Eine Schlussfolgerung drängt sich auf: die massive Verbreitung der Berechnung in Kaufkraftparitäten in der zweiten Hälfte der 80er Jahre war eher ein ideologisches als ein wissenschaftliches Phänomen.

[1] OECD, Rückblickende Statistiken, 1960-1994 S. 67, Jahr 1992 für Kanada.

[2] OECD, Kaufkraftparitäten und wirkliche Ausgaben, Band 1, 1993, Seite 11.

[3] Vor dem Sturz. Das Ende der Sowjetherrschaft. 1976. Deutsche Ausgabe 1982.
vordemsturz

Kommentare:

  • Was amerikanische Wähler, vor allem diejenigen Trumps, im Jahr 2016 massiv zum Ausdruck bringen, nämlich, dass sie Grund haben, mit ihrer tatsächlichen Lage unzufrieden zu sein, hat Emmanuel Todd bereits vor 18 Jahren, also vor der DotCom-Blase, diagnostiziert. Die USA lagen bereits damals bei Reichtum und Produktivität hinter anderen westlichen Ländern. Peter Thiel hat in einer hervorragenden Rede zur Wahl gerade in dasselbe Horn geblasen.
  • Er hat ebenfalls gezeigt, dass das kein Phänomen „zurückgebliebener“ Minderheiten war, sondern sich in den Durchschnittswerten pro Kopf und in unbestechlichen demografischen Parametern wie der Kindersterblichkeit deutlich sogar seit den 1960er Jahren niedergeschlagen hat.
  • Er hat ebenfalls eindrucksvoll gezeigt, dass das Problem ökonomischen Eliten in den 80er Jahren bewusst war, so dass sie angefangen haben, die Statistiken um ominöse Kaufkraftparitäten zu korrigieren
  • Diese Berechnung nach Kaufkraftparitäten ist aber nicht nur anti-liberal, weil sie den Einfluss von Marktpreisen eliminiert, sondern sie ist regelrecht sowjetisch und entfernt die wirtschaftlichen Statistiken von der Realität des Lebens, wie sie jeder einzelne erfährt. Es ist kein Zufall, dass man den Verdacht frisierter Zahlen kaum in Mainstream-Medien, sondern vor allem in alternativen Medien wie zerohedge.com beinahe täglich findet.
  • Die in diesem Buch enthaltenen Beobachtungen zur wirtschaftlichen Gesundheit der USA haben ihn mutmaßlich zu seinem Bestseller von 2002 animiert:
    weltmachtusa
  • Dieses Buch macht Todd ebenso wenig zum Antiamerikaner wie ihn sein erster Welterfolg zum Ende der Sowjetunion zum Antirussen gemacht hat. Der Mann ist einfach ein kritischer Wissenschaftler, der sich aus der Sicht normaler Bürger die tatsächliche Lage einer Gesellschaft anschaut, ohne sich von Propaganda blenden zu lassen. Seine Überlegungen sind dabei ebenso einfach wie aussagekräftig.
  • Noch kritischer als die soziale und wirtschaftliche Lage der USA beschreibt er seit einigen Jahren die wirtschaftliche und menschliche Katastrophe, die der Euro für Südeuropa darstellt. Es wäre also ganz falsch, wenn wir Europäer ihn als Kronzeugen für einen billigen Antiamerikanismus betrachten würden: In Europa gibt es nicht weniger Probleme und Propaganda der Eliten gegen die eigene Bevölkerung als in den USA.

Nachtrag 22.3.2017:
Jetzt auch in der ZEIT: Kollaps im Hinterland

Nachtrag 25.3.2017:
Jetzt auch in der FAZ: Amerikas Arbeiterklasse kollabiert