Erfindung Europas: Die Schweiz

Übersetzung aus dem Buch “L’invention de l’Europe” von E. Todd
Tod der Religion, Geburt der Ideologie
Kapitel 10: Autorität und Ungleichheit, Die kleinen Nationen

Die Schweiz

Die helvetische Konföderation ist zu drei Vierteln ein Land deutscher Sprache und Kultur. 1960 sprachen 74,4% der Schweizer Deutsch, 20,2% Französisch, 4,1% Italienisch und 1% Rätoromanisch (Karte 53). Das germanische Übergewicht erscheint noch stärker, wenn man nicht den aktuellen, den erreichten Zustand der Konföderation betrachtet, sondern die Geschichte ihrer Entstehung. Die drei Urkantone Schwyz, Uri und Unterwalden, die seit 1291 verbunden sind, sind alle deutschsprachig. Die Welle der Beitritte der Jahre 1351-1352 mit Zürich, Bern, Luzern, Zug und Glarus war ebenfalls von deutscher Sprache. Die Vergrößerung der helvetischen Gemeinschaft auf Freiburg und Solothurn 1481, auf Basel, Schaffhausen und Appenzell am Anfang des 16. Jahrhunderts führt immer noch nicht aus der germanischen  Sphäre hinaus. Spät, zur Zeit der protestantischen Reformation, erlaubt die diplomatische und militärische Expansion von Bern die Annexion eines französischsprachigen Raums. Der Übertritt Genfs, des Waadtlands und der Region von Neuchâtel zum Protestantismus findet unter Berner Einfluss statt.

Wie der Rest der deutschen Sphäre wird die Schweiz durch die protestantische Reformation geteilt. Die urbanen und fortgeschrittenen Kantone folgen Zürich und Bern auf dem Weg einer besonders radikalen Reformation, derjenigen von Zwingli. Die ländlichsten oder traditionellsten Kantone wählen die Treue zum Katholizismus. Die ältesten Schweizer Kantone, Schwyz, Uri und Unterwalden gehören zum diesem harten Kern des erhaltenen Katholizismus, der sich in der mittelöstlichen Schweiz befindet (Karte 54a). Das italienische Tessin, das unter dem Einfluss von Uri steht, bleibt also im Gegensatz zur Mehrheit der französischsprachigen Zonen[1] im Orbit der katholischen Kirche.

Die religiöse Spaltung teilt die deutschsprachige Welt in zwei ungleiche Teile. Der Protestantismus, der die Mehrheit hat, stützt sich auf die urbansten, bevölkerungsreichsten und schließlich industriellsten Zonen. Der minoritäre Katholizismus befindet sich in einer defensiven Situation. Aber paradoxerweise sorgt diese Spaltung in der Konföderation als Gesamtheit für ein System mit drei Polen, das sich im Gleichgewicht befindet. Der dominierende Pol und damit der, der die Zentralisierung vorantreibt, entspricht der deutschsprachigen und protestantischen Schweiz, mit ihren Zentren in Bern und Zürich. Die beiden dominierten Pole sind jeweils die deutschsprachige katholische Schweiz und die französischsprachige Schweiz, die aber mehrheitlich protestantisch ist. Zusammen können die deutschsprachig Katholischen und Französischsprachigen (die in erster Linie protestantisch, in geringerem Maße katholisch sind) die zentralisierenden Bestrebungen des deutschen und protestantischen Herzens des Systems blockieren oder zumindest mäßigen.

Sprachliche und religiöse Gruppen in der Schweiz (1941)
Deutschsprachige Protestanten 47%
Deutschsprachige Katholiken 28%
Französischsprachige 20% 13% Protestanten
7% Katholiken
Italienischsprachige 3% Katholiken
Andere 1%
Quelle: Statistisches Jahrbuch der Schweiz, 1944

Im Gegensatz zu dem, was man in Belgien beobachten kann, wo die sprachliche Spaltung keine anthropologische Spaltung überschneidet, unterscheiden sich die romanische und die deutsche Schweiz bei den Familienstrukturen. Der charakteristische Typ des germanischen Teils des Landes ist wie in Süddeutschland die Stammfamilie; derjenige des französischsprachigen Teils des Landes ist wie in der benachbarten Franche-Comté die egalitäre Kernfamilie.

Vom Anfang des 19. Jahrhunderts beginnt die Schweiz eine industrielle Revolution, die derjenigen Großbritanniens auf dem Fuße folgt. Das helvetische Modell bevorzugt jedoch die Entwicklung einer höherwertigen Industrie. Ganz ohne Rohstoffe, aber reich an einer durchalphabetisierten Bevölkerung wählt die Schweiz im Gegensatz zu Großbritannien die Erzeugung komplexer Güter: Qualitätstextilien, Chemie, Uhrmacherei und sehr schnell Werkzeugmaschinen. 1880 erscheint die Schweiz neben Belgien und Großbritannien als eine sehr industrialisierte Zone. Gegen 1930 beschäftigt die Industrie in der Schweiz 45% der aktiven Bevölkerung, beinahe ebenso viel wie in Belgien.

Das schweizerische ideologische System bildet sich also auf einem bekannten Gelände: Stammfamilie, frühzeitige Alphabetisierung, religiöse Spaltung,  industrieller Entwicklungsschub. Alle diese Variablen finden sich auch im Deutschland der Jahre 1870-1930. Die Existenz einer französischsprachigen Minderheit und die Unfähigkeit des deutschsprachigen protestantischen Pols, das nationale System komplett zu kontrollieren, sind aber zwei Aspekte, die die Schweiz vom deutschen Modell wegführen. Sie erlauben, das einfache Überleben des helvetischen Föderalismus und einige Besonderheiten der Schweizer Ideologien zu erklären, handele es sich um die Sozialdemokratie oder den ethnozentrischen Nationalismus.

Die helvetische Sozialdemokratie

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Der Schweizer Ethnozentrismus zwischen Nationalismus und Regionalismus

Die außerordentliche Kraft des Schweizer Ethnozentrismus kommt daher, dass er sich gleichzeitig auf das nationale Gefühl und die Anhänglichkeit an den Kanton stützt. Er ist zweigestaltig: Die Bilder der helvetischen Konföderation und des Kantons stellen zwei Versionen desselben Ideals der Autonomie dar. Das Prinzip der Verschiedenheit, das von der Ungleichheit der Brüder genährt wird, erlaubt die Bejahung von zwei Partikularismen, die aufhören sich Konkurrenz zu machen, nachdem die Konföderation zwischen 1848 und 1874 ihren Gleichgewichtspunkt erreicht[1]. Auf nationaler Ebene drückt sich der Ethnozentrismus dieses kleinen Landes wie in Schweden durch eine strikte Bejahung der Neutralität aus. Das Prinzip des Unterschieds drückt sich durch einen Rückzug von der Welt aus. Der Anstieg der kantonalen Bindungen reproduziert auf regionaler Ebene diesen Rückzug von der Welt.

Im politischen System wird der Ethnozentrismus durch mehrere Parteienkräfte ausgedrückt, die beinahe alle auf den (Liberalen) Radikalismus der Jahre 1840-1880 zurückgehen. Die Schweizer Radikalen identifizieren sich mit dem Prozess des Aufbaus der Konföderation. Ursprünglich ist der Schweizer Radikalismus dem deutschen Nationalliberalismus sehr nahe, der sehr viel stärker zentralisierend und antiklerikal ist als liberal im französischen oder englischen Sinn des Konzepts. Der Schweizer Radikalismus ist liberal im deutschen Sinn: er will die Freiheit des Staats von der Kirche Roms. 1847 führen die Schweizer Radikalen gegen die im Sonderbund vereinten katholischen Kantone einen wirklichen Krieg, der die Entstehung der modernen helvetischen Konföderation erlaubt[2].

Freisinnig-demokratische und Schweizerische Volkspartei repräsentieren am Ende einer bewegten organisatorischen Geschichte schließlich das Gros der radikalen Tradition. (Die Schweizerische Volkspartei umfasst insbesondere eine agrarische Tradition). Die Fragmentierung der zentralistischen Freisinnigen Partei erlaubt es dem Nationalismus, auch die Bestrebungen der Kantone zu verkörpern.

Als der Zentralstaat erst einmal solide hergestellt war, wurde das Prinzip der Autonomie der Kantone ein funktionaler Mythos, auf den sich die Ideologie der helvetischen Autonomie stützen kann. Die Freiheit des Kantons gegenüber der Konföderation garantiert die Freiheit der Schweiz gegenüber der Welt und, vor allem, gegenüber Europa. In einem Land, in dem die Dezentralisierung auf theoretischer Ebene die Unabhängigkeit des neutralen Staates begründet, ist es natürlich, eine Fragmentierung der zentralistischen Partei zu beobachten. In ihrer gespaltenen Form kann die freisinnige Bewegung gleichzeitig die komplementären Prinzipien des Zentralismus und der kantonalen Autonomie ausdrücken.

Zusammen erreichen die verschiedenen aus dem Radikalismus hervorgegangenen Strömungen, die die beiden Ebenen des Ethnozentrismus zum Ausdruck bringen, überall in der deutschen Schweiz 50% der Stimmen, mehr als 60% der Stimmen in den beiden fundamentalen Kantonen Bern und Zürich, die mehr als alle anderen für die Zentralisierung stehen.

Der Neutralismus ist in der Schweiz wie in Schweden die charakteristischste Form des ethnozentrischen Nationalismus, die von der Stammfamilie in einer kleinen Nation erzeugt wird. In beiden Fällen verbindet sich das nationale Gefühl mit einer Identifikation mit dem „Kleinen“, mit dem „Schwachen“. Im Falle Schwedens mischt sich das Bild von der kleinen Nation mit dem von der ausgebeuteten Klasse, dem Proletariat. Die Sozialdemokratie absorbiert und nutzt das neutralistische Ideal. In der Schweiz mischt sich das Bild von der kleinen Nation mit dem vom kleinen Kanton, der von der globalen Gemeinschaft mit Absorption bedroht wird. Der Kanton ersetzt also die Arbeiterklasse als Bildnis der Schwäche. Diese Fixierung auf die lokale Gruppe erklärt die relative Machtlosigkeit der Schweizer Sozialdemokratie. Das Ideal der Integration in die Arbeiterklasse erhält zu allen Zeiten Konkurrenz durch das der Zugehörigkeit zum Kanton. Das Prinzip der negativen Integration, das typisch ist für politische Kulturen, die sich von der Stammfamilie ableiten, die die Individuen verbinden und die Gruppen trennen, identifiziert in der Schweiz die lokale Gruppe als idealen Differenziator.

[1] Die Bundesverfassung von 1848 stellt einen wirklichen Zentralstaat her. 1874 ereignet sich die letzte große zentralisierende Verfassungsreform. Zur Schweizer Verfassung siehe E.Bonjour et al. A Short History of Switzerland, S. 267-273 und 302-309.

[2] Hervorragende ideologische Beschreibung des Schweizer Radikalismus in D.L. Seiler Partis et familles politiques, S. 356-357

[1] Die Französischsprachigen des Berner Jura, des Kantons Freiburg und des Wallis bleiben jedoch katholisch.

Die romanische Schweiz und der ‚Homo helveticus‘

Die romanische Schweiz akzeptiert die ideologischen Tendenzen, die durch das deutschsprachige und protestantische Herz des Systems definiert wurden, ohne ihnen wirklich zu folgen. In den Kantonen Waadtland, Genf, Neuchâtel, äußert die Freisinnige Partei ein wirklich individualistisches Temperament. Sie hat außerdem in diesen drei Kantonen Konkurrenz von einer liberalen Partei, die um 1975 je nach Ort 14 bis 22% der Stimmen erhält[1]. Die Treue zum Kanton ist ziemlich schwach in der romanischen Schweiz, die relative Gleichgültigkeit der Bürger gegenüber den lokalen Wahlen drückt sich durch eine viel weniger starke Wahlbeteiligung als in der deutschen Schweiz aus[2]. Das typische ethnozentrisch-nationalistische Ideal der Neutralität hat in der französischsprachigen Zone nicht die Mehrheit wie in der deutschsprachigen Zone. Die Volksabstimmung, eine besonders helvetische Einrichtung, ist ein sehr schönes Instrument der politischen Analyse, das es erlaubt, die Unterschiede in den Haltungen zwischen den romanischen und germanischen Regionen zu sehr präzisen Problemen zu messen. Nun ist aber die Weigerung, an internationalen Institutionen teilzunehmen, in der deutschen Schweiz immer viel stärker. 1920 ist es das massive Stimmen der romanischen Schweiz für den Beitritt, das die Schweiz in den Völkerbund eintreten lässt. Die französischsprachige Welt schafft es nicht, diesen Erfolg bei der Gründung der UNO zu wiederholen.

Durch ihre egalitären Familienstrukturen in einem soliden Glauben an den universellen Menschen gefestigt hängt die romanische Schweiz nicht voll dem nationalen Mythos eines besonderen Homo helveticus an. Das Verhalten der romanischen Schweizer ist besonders vom theoretischen Standpunkt aus interessant, weil es sich um eine von zwei europäischen Bevölkerungen handelt, deren Familienstrukturen egalitär und deren Religion protestantisch ist. Die andere ist die finnische Bevölkerung. Im französischschweizerischen und finnischen Fall ist der Protestantismus – mit seiner Doktrin von der Ungleichheit der Menschen, den geretteten und den verdammten – regionalen Gruppen durch Eroberung aufgezwungen worden, die das familiäre Prinzip der Ungleichheit der Brüder nicht kennen und die deshalb keinerlei Prädisposition für die metaphysische Ungleichheit haben. Was nun aber in der romanischen Schweiz auf ideologischem Gebiet zum Vorschein kommt, wenn das religiöse System zusammenbricht, ist der Egalitarismus der Familienstrukturen, nicht der besonders harte Inegalitarismus der calvinistischen Metaphysik. Egalitärer Liberalismus, Anarcho-Sozialismus, ein Hauch von Kommunismus, Unterstützung für universelle Institutionen: das Wesentliche der „französischen“ politischen Tradition (d.h. die der egalitären Kernfamilie) findet sich in der romanischen Schweiz wieder, nachdem der Calvinismus ausgelöscht ist. Dieses Beispiel demonstriert den Vorrang der Familienstrukturen im Prozess der Festlegung der modernen Ideologien und den zweitrangigen, vorübergehenden Charakter der religiösen Werte. Dasselbe logische Schema lässt sich im Fall Finnlands beobachten: der von Schweden aufgezwungene Lutherismus löscht dort den Egalitarismus der finnischen Gemeinschaftsfamilie nicht aus. Man sieht in dieser Region lutherischer Tradition also eine bedeutende kommunistische Partei auftauchen.

[1] Les Élections au Conseil national 1979, S. 63

Die helvetische Christdemokratie

Schweizer Harmonie und belgische Uneinigkeiten

Die Koexistenz von Bevölkerungen verschiedener Sprachen scheint der helvetischen Konföderation keine unüberwindlichen Schwierigkeiten zu machen. Germanische und Lateinische scheinen in der Schweiz eine Gleichgewichtslage definiert zu haben. Man kann Dasselbe nicht von Belgien sagen, wo Flamen und Wallonen sich im Lauf des 20. Jahrhunderts immer konfrontativer gegenüberstehen. Ein paradoxer Kontrast für einen Spezialisten der Familienstruturen: Flamen und Wallonen unterscheiden sich in nichts bei diesem fundamentalen Aspekt der anthropologischen Organisation, Deutschschweizer und romanische Schweizer sind Träger verschiedener Familienstrukturen, die sich in den Prinzipien entgegenstehen. Flamen und Wallonen sind ethnologisch ähnlicher als Alemannische und Romanische. Flamen und Wallonen haben ein Familiensystem vom Typ Stammfamilie in einer etwas weichen Ausprägung. Die deutschsprachigen Schweizer haben ein beinhartes, total deutsches Stammfamiliensystem. Die romanischen Schweizer sind auf der Familienebene den Bewohnern der Franche Comté oder des Pariser Beckens nahe. Wallonen und Flamen, die bei der Sprache verschieden, aber sonst in jedem Punkt ähnlich sind, stehen sich konfrontativ gegenüber. Allemannische und Romands der Schweiz, die in beiden Punkten verschieden sind, ertragen sich mit einem gewissen Enthusiasmus. Das Paradox löst sich auf, wenn man die Idee akzeptiert, dass die Stammfamilie die Wahrnehmung von Unterschieden nährt, von tatsächlichen oder mythischen Unverträglichkeiten, und dass die egalitäre Kernfamilie den Glauben an den universellen Menschen ermutigt, ähnlich wie man selbst, an jedem Ort und in jeder Zivilisation. In Belgien nehmen sich Flamen und Wallonen als verschieden war und bekämpfen sich, weil sie Gefangene der inegalitären Werte der Stammfamilie sind. In der Schweiz ist die Situation nicht symmetrisch. Die Deutschsprachigen, die von der Stammfamilie konditioniert sind, nehmen sicherlich die französischsprachigen als verschieden war; sie nehmen ja auch die Deutschen aus der Bundesrepublik als verschieden war! Die Wahrnehmung dieser Verschiedenheit erzeugt keinen Verfolgungswahn einer romanischen Bedrohung, weil die Französischsprachigen in der Konföderation nur eine kleine Minderheit darstellen, ein Fünftel der Bevölkerung. Die Haltung der romanischen Schweiz ist der eigentliche Schlüssel zur helvetischen Harmonie: konditioniert durch die egalitären Werte ihres Familientyps glaubt sie an den universellen Menschen und kann sich deshalb weigern, die objektiven Unterschiede zwischen deutsch- und französischsprachigen zu sehen. Sie kann also ohne Beklemmung ihre Minderheitssituation akzeptieren. Es ist diese Abwesenheit des ethnozentrischen Nationalismus in der romanischen Schweiz, die das helvetische Wunder möglich macht.