Die deutsche Polarisierung

Übersetzung aus dem Buch “L’invention de l’Europe” von E. Todd
Tod der Religion, Geburt der Ideologie
Kapitel 9: Autorität und Ungleichheit, Deutschland

Dieses Kapitel aus dem insgesamt sehr lesenswerten, aber nur auf Französisch verfügbaren Buch (andere Kapitel auf Deutsch hier) testet an Deutschland die Hypothese, dass die Werte des Familiensystems  eines Landes maßgeblich seine Geschichte bestimmen und sich in ihr widerspiegeln.  Gleichzeitig zeigt es, wie eng die linke und rechte Ideologisierung in Deutschland mit dem Verlust religiöser Gewissheiten Hand in Hand ging, in diesem Fall des protestantischen Glaubens.
In  der aktuellen Lage ist dieses Kapitel zugleich sehr gut geeignet, um zu verstehen, wie die in Deutschland  starke und gefährliche Neigung zur Polarisierung der politischen Auseinandersetzung weiterhin existiert und sich gelegentlich an allzu symbolischen Themen entzündet.

Hier also nun in Auszügen der Originaltext in meiner Übersetzung:

Die deutsche Sozialdemokratie

Der deutsche Sozialismus schreitet im Rhythmus der Entchristlichung voran, soweit, dass die beiden Phänomene – das eine ideologisch, das andere religiös – ein einziges darzustellen scheinen. Die deutsche Sozialdemokratie wird offiziell 1875 geboren, auf dem Parteitag von Gotha, als Zusammenschluss von zwei Grüppchen…
Die Existenz des Allgemeinen Wahlrechts ab 1871 erlaubt es, den unaufhaltsamen Aufstieg dieser Sozialdemokratie zu verfolgen, der mächtigsten in Europa am Vorabend von 1914:

AufstiegSPD

Der Großteil ihres Wachstums findet zwischen 1887 und 1912 statt, wo sie von 10 auf 35% der abgegebenen Stimmen anwächst. Die Sozialdemokratie startet also erst ab dem Moment durch, wo sich die Entchristlichung beschleunigt, also gegen Ende der 1880er[1] Jahre.
Die Zahlen, die das nationale und globale Voranschreiten der deutschen Sozialdemokratie beschreiben, geben allerdings nur eine unvollständige Beschreibung des laufenden Prozesses. Vor 1914 folgt das Wachstum der Entchristlichung: es ist also besonders massiv in den protestantischen Regionen, wo die Ausübung der Religion in sich zusammenfällt; es ist schwach in denjenigen, wo die Religion (also der Katholizismus) standhält:

ZentrumSPDAntisemitismus

Nationalsozialismus

Das Industrierevier an der Ruhr, katholisch, ist keine sozialdemokratische Festung. In Sachsen, in Hessen, in Berlin, im Herzen des entwickelten und dicht besiedelten protestantischen Deutschlands findet der wesentliche Machtzuwachs der Sozialdemokratie statt. In diesen Regionen überschreitet der sozialistische Stimmanteil oft die absolute Mehrheit. 1903 erhält die Sozialdemokratie in Sachsen 59% und 22 von 23 Sitzen; in Berlin 67% und 5 von 6 Sitzen. In diesen Regionen ist sie nicht nur eine mächtige Partei, sie ist eine dominierende Partei…

Am Vorabend von 1914 ist die Sozialdemokratie auf Reichsebene mächtig, ohne eine Mehrheit zu haben, weil sie ja nur etwas mehr als 1/3 der Stimmen erhält. Im protestantischen Deutschland hat die Sozialdemokratie häufig eine Mehrheit, ist aber von der Macht durch ein System (Anmerkung des Übersetzers: das „Dreiklassenwahlrecht“ in Preußen) ausgeschlossen, das faktisch den Fortbestand der Stände des Ancien Régime sicherstellt…

Autorität und Organisation

…Von 1900 an wird die deutsche Sozialdemokratie durch ihre Praxis besser definiert als durch ihre (marxistische) Theorie.
Nach Ebert, der 1913 Bebel an der Spitze der Partei nachfolgt, gilt:
Der Sozialismus ist die Organisation. Die Desorganisation ist der schlimmste Feind des Sozialismus“ [2]
Die Liebe zur Partei definiert besser als jedes doktrinäre Element das Wesen der deutschen Sozialdemokratie und stellt sie Zug um Zug in Gegensatz zum Pariser oder andalusischen Anarcho-Sozialismus.
Die sozialdemokratische Partei ist die erste der großen Massenparteien mit außerparlamentarischem Ursprung, um die Klassifikation von Maurice Duverger heranzuziehen, der politische Organisationen danach unterscheidet, ob sie im oder außerhalb des Parlaments, also in der Gesellschaft selbst, entstehen. Die sozialdemokratische Partei wird sehr schnell eine außergewöhnliche Maschine, trotz der Bismarck’schen Verfolgungen der Jahre 1878-1890. 1912 hat sie 700000 Mitglieder, besitzt ungefähr 100 Zeitungen, stützt sich auf mächtige Gewerkschaften und kontrolliert unzählige Kulturvereine, die sich dem Gesang, Theater oder der Leseförderung widmen. Sie bezahlt mehrere Tausend festangestellte Mitarbeiter. Ihre 110 Parlamentarier im Reichstag bringen politisch weniger Gewicht auf die Waagschale als ihre Bürokratie.
Diese Eignung zur Organisation ist lediglich die sozialistische Variante einer allgemeinen Eignung der deutschen Kultur zur Organisation, die sich vom Autoritätsprinzip ableitet, das der Stammfamilie eigen ist. Die familiäre Disziplin wird zur Disziplin des Parteigängers….

Der ethnozentrische Nationalismus

Die nationalistische deutsche Ideologie wird „rechts“ geboren[3], als Zeitgenossin der Sozialdemokratie, des anderen Produkts der Entchristlichung.  Der Nationalismus  läuft dem Sozialismus jedoch immer ein Stück nach. Zunächst natürlich, weil er einem defensiven antisozialistischen Reflex folgt und die Existenz einer Bedrohung voraussetzt, vor der er anscheinend Deutschland beschützen will. Aber auch, weil die Entchristlichung  in der Arbeiterklasse schneller voranschreitet als in den Mittelschichten: die Ideologisierung des Proletariats  hat deshalb einen Vorsprung vor der der Aristokratie und des Bürgertums, Klein- oder Großbürgertum. Der Vorsprung beträgt nur einige Jahre. Die Sozialdemokratie startet zwischen 1887 und 1903 durch, der Pangermanismus erlebt seine Blüte zwischen 1900 und 1914.

Der deutsche Nationalismus nimmt sofort eine spezielle Form an: anti-universalistisch. Er besteht auf der Existenz einer germanischen Essenz, die eine spezielle Mission des Reichs definiere. Die ‚Botschaft von Fichte‘[4] verbreitet sich. Die Gefahr für Europa kommt daher, dass Deutschland tatsächlich dabei ist, die erste Macht Europas zu werden. Es wächst von 46 auf 63 Millionen Einwohner zwischen 1880 und 1908. Seine Industrie lässt diejenige Großbritanniens weitgehend hinter sich. Der Traum scheint wahr zu werden. 1893 wird der Alldeutsche Verband gegründet, eine Vereinigung und Lobbyorganisation, die in den wichtigsten Parteien der Regierungskoalition nach 1900 vertreten ist[5]. Das Streben nach europäischer  und weltweiter Führung veranlasst Deutschland, sich zunächst mit Russland anzulegen, dann mit Großbritannien. Der Bau einer Kriegsflotte, die es mit Englands Hegemonie auf dem Meer aufnehmen soll, steht im Zentrum der neuen Außenpolitik. Die Alldeutschen nehmen das britische Empire als erste Weltmacht wahr, deren Platz man einnehmen müsse. Das schon 1870 geschlagene Frankreich wird nicht mehr ernst genommen. Russland, dessen demografisches und industrielles Wachstum korrekt wahrgenommen wird, wird nur als langfristige Bedrohung gesehen. Ein Verein für die Ermutigung zur Seepolitik, der Flottenverein, dramatisiert den Konflikt mit England…
Die Machtzunahme der nationalistischen Ideologie ist im Inneren spürbar. Der gleichzeitig antagonistische und komplementäre Charakter der sozialdemokratischen und der alldeutschen Ideologien scheint deutlich bei den Wahlen von 1907 auf, anlässlich derer der Reichskanzler von Bülow  eine nationalistische Thematik durchsetzt. Die Hottentotten-Wahl findet in einem Klima der  kolonialen Konfrontation mit England  statt. Nun aber erlaubt der Appell an den Nationalismus der Regierung tatsächlich, ein Mal das sozialistische Wachstum zu blockieren. Die SPD fällt von 31,7 auf 28,9% der abgegebenen Stimmen…

Der Antisemitismus

Die Definition des germanischen Menschen führt zum Gegenbild des Juden, negative Inkarnation der deutschen Tugenden. Mitte der 1870er Jahre erfindet Wilhelm Marr das Wort Antisemitismus. Sein Bestseller Der Sieg des Judentums über das Germanentum erreicht 12 Auflagen in 6 Jahren. 1879 wird die Antisemiten-Liga gegründet, der erste politische Verein, der aus dem Hass gegen den Juden seine wesentliche Motivation macht. Die Entstehung des Antisemitismus markiert die Mutation des Nationalismus des doktrinären Zeitalters, vertreten durch Fichte oder Hegel, in das ideologische Zeitalter, das charakterisiert wird durch die Anhängerschaft großer Massen an das Ideal der Ungleichheit der Menschen. Man hätte es schwer, bei Hegel eine Denunziation der schädlichen Natur des Juden zu finden. Im Gegenteil enthalten die Grundlinien der Philosophie des Rechts eine Verteidigung der Idee der Emanzipation. Der Zusammenbruch des christlichen Glaubens ist notwendig für die Verbreitung des modernen Antisemitismus. Der christliche Glaube, protestantisch oder katholisch, etabliert zu gut die Verwandtschaft des Juden und des Christen. Der Tod Gottes zieht den von Christus nach sich, das heißt dieses Juden, der Europa seine Religion gab. Das theoretische Band zwischen Juden und Nichtjuden löst sich auf. Die Identifikation ethnischer und biologischer Unterschiede wird möglich. Der Darwinismus gibt sich nicht damit zufrieden, den Glauben an das Alte Testament und die Genesis zu zerstören, er kommt für die ideologischen Rassisten der Jahre 1880-1914 bei der Konkurrenz der Arten an. Die Juden sind kein auserwähltes Volk mehr, das sich irrt (die christliche Sicht), sondern eine Art (Rasse) die gleichzeitig niedriger und gefährlich ist. Das Buch von Marr wird von Pulzer richtig als „Darwin für 5 Pfennige“ beschrieben.
Nach dem ersten Fieber der 1870er Jahre, stellen die 1880er Jahre der Latenz dar, in der der Antisemitismus  auf Berlin beschränkt bleibt. Aber 1887 wird der erste antisemitische Abgeordnete in den Reichstag gewählt. 1890 sind es 5, 1893 16 (Höchststand), 1898 nur 13. Später werden die Etiketten weniger klar. Oder vielmehr hört der Antisemitismus auf, eine spezielle Doktrin zu sein, um das gemeinsame Erbe der deutschen Rechten zu werden… Ab 1900 ist der Antisemitismus nirgendwo mehr, weil er überall ist. 1913 präzisiert der Deutschnationale Handelsgehilfenverband DHV durch einen Zusatz zu seinen Statuten, dass er nicht aufnimmt „Juden und alle diejenigen, die Nationen oder Rassen angehören, die bewusst gegen das Deutschtum gerichtet sind“. Zur damaligen Zeit hatte der DHV 148000 Mitglieder gegen 12380 bei der sozialdemokratischen Konkurrenzgewerkschaft. Besonders interessant ist die Selbstfestlegung der Mittelschichten auf das reine Ariertum, die die gleichzeitige Zurückweisung des Arbeiters und des Juden mit sich bringt, zweier andersartiger und minderwertiger Wesen. Die Welt der Angestellten, die gleichzeitig abhängig beschäftigt und entchristlicht sind, ist besonders anfällig für die antisemitische Ideologie. Die gleichzeitige Zurückweisung der Arbeiter und der Juden durch die Mittelklassen endet in einer objektiven Solidarität: die Sozialdemokratie wird effektiv die Partei der Arbeiter und der Juden. Zwischen 1871 und 1884 umfassten die 14 jüdischen Reichstagsabgeordneten 3 Rechtsliberale, 8 Linksliberale und 3 Sozialdemokraten. Von 1890 an gehörten fast alle jüdischen Parlamentarier der Sozialdemokratie an.

Antisemitismus gegen Sozialdemokratie

Antagonismus und Komplementarität sind die Konzepte, die gemeinsam am besten die Beziehungen zwischen Antisemitismus und Sozialdemokratie  in der deutschen Kultur der Jahre 1870 bis 1914 beschreiben. Die Sozialdemokratie ist die deutsche Form des sozialistischen Anwachsens. Der Antisemitismus konzentriert und fasst die härtesten Tendenzen des deutschen Nationalismus zusammen. Sozialdemokratie und Antisemitismus werden nacheinander aus dem Prozess der Entchristlichung geboren. Der Antagonismus und die Komplementarität lassen sich in der Zeit und im Raum begreifen.
In der Zeit folgen die antisemitischen Schübe denjenigen der Sozialdemokratie. Die erste antisemitische Phase folgt in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre der Gründung der Sozialdemokratie. Die relative sozialistische Stagnation zwischen 1877 und 1885 verlangsamt das Fortschreiten des Antisemitismus. Das sozialistische Durchstarten der Jahre 1887-1893 führt zum ersten politischen und parlamentarischen Erscheinen des Antisemitismus. Die Sozialdemokratie erreicht 23,3% der Stimmen; die antisemitischen Gruppen erreichen 16 Abgeordnete, aber, man muss es festhalten, nur 2,9% der Stimmen. In der Folge entspricht die Verallgemeinerung des antisemitischen  Sentiments in der deutschen Rechten der Stabilisierung der Sozialdemokratie als dominierende Kraft der Linken.
Im Raum ist die Beziehung von Komplementarität und Antagonismus nicht weniger frappierend. Die Zonen des Wachstums des Wahl-Antisemitismus, die Hessen, Sachsen, Thüringen und Berlin sind, sind auch diejenigen der Entwicklung der Sozialdemokratie, selbst wenn der Antisemitismus nur an den Rändern der sozialdemokratischen Einflusszone siegreich ist. Von den 16 antisemitischen Sitzen von 1893, liegen 8 in Hessen, 6 in Sachsen und 2 weitere in Preußen östlich der Elbe….
Man kann jedoch nur betroffen sein vom Antisemitismus der sächsischen Rechten, der in einer Region gedeiht, wo die Juden kaum 0,25% der Bevölkerung stellen. Das Paradox geht bis auf die Ebene von ganz Deutschland: in diesem Land, dessen Rechte 1914 vom Antisemitismus zerfressen ist, gibt es weniger als 1% Juden. Die quantitative Bedeutungslosigkeit der jüdischen Frage wird die Entstehung des Nationalsozialismus  nicht verhindern. Zwischen 1928 und 1932 wird der Antisemitismus der fundamentale strukturierende Faktor des deutschen Nationalismus. Am Vorabend von 1914 ist er erst ein wichtiges aber sekundäres Element.

Der Nationalsozialismus:
Vollendung und Überschreitung des Antisemitismus

Das Auftauchen des Nationalsozialismus wird oft als Ergebnis des Zusammenspiels von zwei Arten der Verzweiflung dargestellt. Zunächst der Wirrnis, die durch die Niederlage (von 1918) und den  Zusammenbruch der traditionellen Monarchie erzeugt wurde; dann der Konjunkturpanik, die durch die große Wirtschaftskrise von 1929 ausgelöst wurde. Der bestimmende Einfluss der Arbeitslosigkeit, der 6 Millionen Deutschen gegen 1930 ihre regelmäßige Beschäftigung nimmt, kann nicht geleugnet werden. Aber man hätte Unrecht, die Machtergreifung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und Hitlers als die Wirkung nur dieser beiden Faktoren zu betrachten. Die einfachste und direkteste vergleichende Geschichte zeigt insbesondere, dass eine streng wirtschaftliche Interpretation ungenügend ist: die Existenz einer Masse von 10 Millionen Arbeitslosen erlaubte in den Vereinigten Staaten den Triumph von Roosevelt, d.h., einer reformistischen Politik, die in keiner Weise die Prinzipien der liberalen Demokratie in Frage stellte. Möglich geworden durch die weltweite Wirtschaftskrise ordnet sich der Nationalsozialismus doch auch in eine deutsche ideologische Kontinuität ein, die nicht in Zweifel gezogen werden kann. Er findet in Deutschland die anthropologischen und religiösen Grundlagen, die für seine Entwicklung unverzichtbar sind. Er ist der Endpunkt der ethnozentrisch-nationalistischen Ideologie, die er in einigen wichtigen Aspekten überschreitet. Der Nationalsozialismus interpretiert in der irrsinnigsten Weise die Werte der Autorität und der Ungleichheit, die von der Stammfamilie getragen werden, indem er sie auf den Begriff der ‚Rasse‘ bezieht, wobei der Ausdruck in seiner biologischen Bedeutung herangezogen wird.
Der Autoritarismus impliziert hier eine Absorption des Individuums durch die Rasse, einer transzendenten Kategorie. Der extremistische Charakter des Rassenkonzepts kommt daher, dass die Zugehörigkeit zu dieser Gruppierung vollkommen ohne Bewusstsein und Willen auskommt. Die Unterwerfung unter Gott, unter den Staat, unter das Edle, unter die Kirche setzte eine minimale bewusste Zustimmung voraus. Die Hypothese eines genetisch bestimmten Wesens zerstört die theoretische Möglichkeit einer Auflehnung des Individuums. Die Hitler’sche Theorie ordnet also den Staat der Rasse unter:
Die grundsätzliche Erkenntnis ist dann die, daß der Staat keinen Zweck, sondern ein Mittel darstellt. Er ist wohl die Voraussetzung zur Bildung einer höheren menschlichen Kultur, allein nicht die Ursache derselben. Diese liegt vielmehr ausschließlich im Vorhandensein einer zur Kultur befähigten Rasse. Es könnten sich auf der Erde Hunderte von mustergültigen Staaten befinden, im Falle des Aussterbens des arischen Kulturträgers würde doch keine Kultur vorhanden sein, die der geistigen Höhe der höchsten Völker von heute entspräche[6]
In dieser Vorstellung leitet sich die Ungleichheit der Menschen von der Existenz der Rassen ab, von denen manche wie die Slawen und Juden den Ruf von Minderwertigkeit haben und andere, wie die Arier, als höherwertig betrachtet werden. Die Kontinuität vom Pangermanismus zum Nationalsozialismus ist evident, ohne vollständig zu sein. Der Nationalsozialismus  kommt in der Praxis bei der banalen Definition eines deutschen Menschen an, der anderen Europäern überlegen ist, dessen Individualität aber geleugnet wird, der absolut unterworfen ist diesem höheren Wesen, das Deutschland ist. Aber wichtige theoretische Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Pangermanismus müssen unterstrichen werden. Der autoritäre und inegalitäre Radikalismus führt den Nationalsozialismus über eine Vergötterung Deutschlands, seines Volkes und seines Staates hinaus. Die zentrale positive Persönlichkeit des Hitler’schen Deliriums ist nicht der Deutsche, sondern der Arier, der seiner Rasse noch stärker unterworfen ist als der Deutsche seinem Staat. Der Nationalsozialismus verwirklicht in extremer Weise, das autoritäre und inegalitäre Potenzial der Stammfamilie, aber so, dass er es abhebt und ablöst von jedem konkreten historischen und kulturellen Träger. Denn wenngleich die Deutschen als Volk existieren, bilden die Arier ihrerseits eine mythische Kategorie auf dem rassischen Feld. Der Begriff des Ariers, die Idee der Rasse verabsolutieren die Ideale von Autorität und Ungleichheit. Der Radikalismus dieser mythologischen Konzepte erlaubt es, ihre Anwendung von der deutschen Wirklichkeit zu entkoppeln: nicht jeder Deutsche ist ein Arier, der über allen Nicht-Deutschen steht. Deutschland selbst wird von seinen  Kranken, seinen Verrückten, seinen Homosexuellen gereinigt werden müssen. Als einfache Umsetzung des Prinzip vom Ariertum wird Deutschland nicht gerettet werden dürfen, wenn es erst einmal von der Koalition der minderwertigen Rassen besiegt worden ist. Zwischen 1943 und 1945 ist Deutschland eines der Opfer des Nationalsozialismus. Hitler strengt sich an, es durch den totalen Krieg ins Grab zu bringen. Er ist kein Nationalist im traditionellen Sinn des Wortes. Er führt das Ideal der Ungleichheit der Menschen über das Konzept der Nation hinaus.
Der Nationalsozialismus universalisiert die Ideologie der Ungleichheit. Er erlaubt in nicht-germanischen Ländern, frei oder besetzt, das Auftauchen von Adepten der Doktrin, die sich mit dem Ariertum identifizieren, ohne deutsch zu sein. Der Judenhass erleichtert diese Internationalisierung  des Ideals der Ungleichheit. Der Jude ist überall, er verkörpert überall das minderwertige Wesen, das schädliche Prinzip, das man zerstören muss; vor allem definiert er auf negative Weise die dominierende Rasse, weil er das Gegenteil des Ariers ist.

[1] Anmerkung des Übersetzers: zuvor war diese Entchristlichung (allein des protestantischen Deutschlands) sowohl durch Bücher der 1880er Jahre, u.a. Nietzsche, als auch durch einen scharfen Rückgang des protestantischen Kirchbesuchs ab 1890 datiert worden.

[2] Von Friedrich Stampfer im Parteiblatt ‚Vorwärts‘ berichtete Meinungsäußerung, siehe Gordon Craig, Germany 1866-1945, S. 403

[3] Anmerkung des Übersetzers: Der Satz klingt in deutschen Ohren redundant, weil hierzulande Nationalismus grundsätzlich ‚rechts‘ verortet wird. Das ist aber ein (ethnozentrisches) Vorurteil: Der französische Nationalismus hat starke Wurzeln in der Franz. Revolution und ist deshalb auch „links geboren“.

[4] Diese erläutert Todd zu Beginn des Kapitels mit Bezug auf die „Rede an die deutsche Nation“ als anti-universalistisch und anti-individualistisch.

[5] P.G. Pulzer: The Rise of Political Antisemitism in Germany and Austria, S. 229. Zwischen 1894 und 1914 gehörten 60 Reichstagsabgeordnete dem ‘Alldeutschen Verband’ an: 15 antisemitische, 9 konservative, 8 Mitglieder der Reichspartei, 28 nationalliberale. Das Buch von Pulzer ist insgesamt von außergewöhnlicher  Qualität.

[6] Auszug aus mein Kampf, S. 389

Meine Kommentare mit Blick auf die heutige Situation:

  • Der autoritäre Charakter der deutschen Sozialdemokratie und die Unterordnung der Abgeordneten unter den Willen der Partei bzw. ihrer Führung, die Gordon Craig so schön für das Kaiserreich u.a. mit einem Ebert-Zitat illustriert hat, findet sich bis heute mühelos in den Tweets führender SPD-Politiker:
    StegnerGoodie
    Ist es nicht köstlich und furchtbar komisch, wenn diese Leute mit einem ganz autoritären Politikverständnis („Klappe halten! Einig sein!“)  dann auch noch ständig davon reden, wie liberal sie sich vorkommen?
  • Todds These lautet verkürzt, dass sich Sozialdemokratie und ethnozentrischer Nationalismus von 1875 bis 1914 aneinander hochgeschaukelt haben. Sie sind nicht rein antagonistisch, sondern durchaus komplementär, da aus demselben Holz gewachsen. Der zitierte Friedrich Ebert war ja schließlich 1914 kein Antagonist des Regimes mehr, sondern hat die SPD in die große Kriegskoalition geführt, Kriegsgegner aus der Partei geworfen und nach dem Desaster gemeinsame Sache mit dem angeblich gegnerischen Militär gemacht, um die Aufstände niederzuschlagen. Diesen Teil ihrer Geschichte und Eberts kehrt die SPD ganz gerne unter den Teppich, aber insbesondere der nicht-linke Sebastian Haffner hat sich darum verdient gemacht, ihn sachlich zu thematisieren: In entscheidenden Momenten der dt. Geschichte machte die SPD immer wieder gemeinsame Sache mit ihren angeblichen Gegnern und auf Kosten vitaler Interessen der Bevölkerung.
  • Auslöser sowohl für den Aufstieg der SPD als auch des völkischen Nationalismus war nach Todd und mit guten Argumenten der Zerfall des protestantischen Glaubens und der Kampf verschiedener Bevölkerungsschichten um einen Platz in einer sich (demografisch, technisch, wirtschaftlich) schnell verändernden Welt
  • Der Jude wurde gewissermaßen zum Kristallisationspunkt dieses Kampfes: als Sündenbock, als Feindbild, als Antithese zu Tugenden, die aus ganz anderen Gründen unter Druck waren.
  • Und genau diesen Mechanismus der Polarisierung kann man nach meiner Meinung heute auch heute wieder beobachten. Er wirkt von zwei Seiten gleichzeitig. Einerseits kann gerade die SPD abweichende und durchaus berechtigte Einwände gegen Fehler bei der Einwanderung in ihren Reihen weniger dulden als jede andere Partei. Damit treibt sie unwiderstehlich und traumwandlerisch auch gemäßigte Kritiker und verdiente Sozialdemokraten wie Guido Reil in die Arme der AfD.
  • Andererseits ist die SPD auch für Islamkritiker und die AfD das allerliebste Feindbild, und kommt immer wieder wegen der Haltung zum Islam heftig unter Feuer. Die SPD entwickelt sich zu etwas wie einem geschützten Raum für Muslime, die politisch aktiv werden wollen. Kein Wunder, wo doch eine einzelne Abgeordnete mit Kopftuch auf dem Ticket der FDP solches Wutgeheul auslöst:
    WahlplakatKilic
  • Die Wut über diese kommunale Kandidatur einer verschleierten Frau halte ich für überdreht. Ich kenne solche Frauen ebenfalls aus dem Elternbeirat einer Kita, wo sie tatsächlich gute Arbeit leisten. Warum nicht in einem Gemeinderat? Warum nicht auf der Liste einer liberalen Partei? Ohne dass die einzelne Person und ihre tatsächliche Arbeit betrachtet wird, und das wäre Sache der örtlichen FDP und der örtlichen Wähler in Neumünster, sollte ein Kopftuch allein keine nationale Aufregung verursachen. Diese ist nicht nur überzogen, sondern auch unklug.
  • Ein großer Unterschied von damals zu heute besteht darin, dass die SPD aus wirtschaftlichen und demografischen Gründen keine Partei im rasanten Aufstieg, sondern im rasanten Abstieg ist. Ebenso ist Deutschland demografisch kein aufstrebendes, sondern ein schrumpfendes Land. Beides hilft womöglich, eine Katastrophe wie 1914 oder gar 1933 zu vermeiden.
  • Eine große Gemeinsamkeit mit damals besteht aber darin, dass Deutschland vor dem Hintergrund scheinbaren wirtschaftlichen Erfolgs in eine schwere gesellschaftliche Krise gerutscht  ist. Die Lage ist sehr gefährlich und polarisiert sich fortlaufend durch Fehler und Eskalation auf beiden Seiten sowie einer Regierung, die bewusst Öl in das schon lange schwelende Feuer gegossen hat. Man möchte gar nicht wissen, wie es weitergeht, falls auch die wirtschaftliche Scheinblüte in eine Krise mündet.

Nachtrag 22.06.2018
Dieser Beitrag in der FAZ wirft einen etwas anderen Blick auf das Deutsche Kaiserreich: Das deutsche Kaiserreich war um 1900 ein Laboratorium des demokratischen Aufbruchs. Trotzdem hält sich in Öffentlichkeit und Wissenschaft die Legende vom deutschen Sonderweg, einem Land unter der Pickelhaube

6 Kommentare zu „Die deutsche Polarisierung“

  1. Todds Behandlung der Juden ist unehrlich. Juden mochten weniger als ein Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachen, gerade deshalb musste aber ins Auge fallen, wieviel wirtschaftliche und politische Macht sie hatten. Diese Diskrepanz ließ sich in keiner Weise legitimieren (außer durch einen radikalkapitalistischen Sozialdarwinismus: die Juden haben das Recht des Stärkeren).

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    1. Zunächst einmal müsste man diese „wirtschaftliche und politische Macht“ messen: keine leichte Aufgabe. Nehmen wir doch als Beispiel den gerade wieder viel diskutierten Karl Marx, dessen Vater noch jüdischen Glaubens, aber zum Protestantismus konvertiert war. Marx hatte keine wirtschaftliche Macht, sondern hat das Geld anderer Leute verbraucht. Auch politische Macht hatte er als Person überhaupt nicht, sondern war ein machtloser Emigrant. So richtig übel nimmt man ihm in erster Linie seinen geistigen Einfluss auf die Welt, der natürlich viel Schatten hatte. Ganz ähnlich ging es vielen anderen deutschen Juden wie Heinrich Heine, die zwar keine Macht hatten, aber großen Einfluss als Schriftsteller und Journalisten. Oft warf der Antisemitismus den Juden, insbesondere den relativ frisch zugewanderten Ostjuden, z.B. in Wien, auch nicht ihre Macht, sondern ihre lumpenhafte Armut vor. Das Argument mit der überproportionalen Macht erschließt sich mir nicht. Dass es der eine oder andere im Laufe seines Lebens oder über Generationen auch zu viel Macht brachte, zum Beispiel als Bankier, ist zwar richtig, aber was beweist es?

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  2. Ich rätsele noch über Todds Idee des „Familiensystems“, das angeblich die Politik beeinflusst. Anscheinend geht es hier mal wieder um die beliebte Frage des Erbrechts: Realteilung oder „Anerbenrecht“ des Stammhalters. Die Franzosen bilden sich natürlich ein, ihre Realteilung sei moralisch höherwertig – das ändert aber nichts daran, dass es die Franzosen waren, die mit dem Jakobinismus die klassische Form moderner totalitärer Herrschaft erfunden haben (und bis heute verteidigen/gutheißen). Und das Anerbenrecht war auch in England sehr populär, hatte dort aber keinerlei nachteilige Wirkungen auf die Demokratie. In summa: das ist so ein traditioneller Schmarren von manichäischen französischen Historikern, der einfach nachgebetet wird, weil man „das immer schon gewusst hat“.

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    1. Das Erbrecht ist nur ein Aspekt. Die Kategorisierung des Familiensystems nach Todd hat zwei Dimensionen: Gleichheit/Ungleichheit und Liberalität/Autorität. Ich habe das hier mal zusammengefasst und mit einer Europa-Karte hinterlegt:
      https://hintermbusch.wordpress.com/2016/05/22/erfindung-europas-erganzungen/
      Was Sie über England sagen, ist korrekt. Es fehlt aber die große Liberalität des englischen Familiensystems, das den Eltern kaum Macht über ihre erwachsenen Kinder verleiht: die gingen immer schon aus dem Haus und machten ihr Ding, ohne dass die Eltern ihnen viel reinredeten oder viel halfen. Die ganzen deutschen Horrorgeschichten von Altbauern, die dem jungen Bauernehepaar auf dem Hof das Leben zur Hölle machten, waren dort nie ein Thema, wohl aber in Schottland, Wales und Irland.
      Auch was Sie über Frankreich sagen, ist nicht falsch, gilt aber vor allem fürs Pariser Becken. Die französischen Familienstrukturen sind ein Flickenteppich, und im Südwesten herrscht die Stammfamilie wie in Deutschland. Interessanterweise kamen genau von dort die Feinde der Revolution und viele franz. Generäle des 1. Weltkriegs, die ganz zufällig noch größere Menschenschinder und Bluthunde waren als die deutschen Generäle. Todd hat sehr viele Bücher geschrieben, in denen er sich mit diesen inneren Strukturen Frankreichs und ihren Auswirkungen auf die Geschichte beschäftigt hat.
      Wenn man sich in den Details auskennt, ist man immer wieder erstaunt, wie gut Todd die Dinge erfasst. Ich habe zum Beispiel eine sehr gute und lange Erfahrung mit der Schweiz, sowohl der deutschsprachigen, deren Sprache mehr oder minder meine Muttersprache ist, als auch der französischsprachigen, wo ich von klein an meine Verwandten besuchte. Und was Todd über das Funkionieren der Schweiz schreibt, das ‚Helvetische Wunder‘, halte ich für absolut genial:
      https://hintermbusch.wordpress.com/2016/03/05/erfindung-europas-die-schweiz/

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